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2 Seelenkämpfe

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Vervielfältigung prägt nicht bloß äußere Konfrontationen oder Verhältnisse zur Außenwelt. Auch Innensphären und Selbstverhältnisse nutzt die volkssprachliche Erzählliteratur zur »Ich-Vervielfältigung«,1 als Bearbeitungsfeld pluraler Ordnungsmöglichkeiten von Selbstbezügen. Unbestimmtheit fungiert dabei nicht nur als Herausforderung für stabile Abgrenzungen oder als Gefährdung von eindeutiger Zugehörigkeit, sondern oftmals als produktive Konstitutionsbedingung von Identität. Im Rahmen seiner allgemeinen Netzwerktheorie beschreibt Harrison White diesen Zusammenhang als Turbulenz: »Identities emerge from turbulence seeking control from within social footings that can mitigate uncertainty.«2 Im Hinblick auf Wettkampferzählungen erweisen sich agonale Selbstverhältnisse als besonders turbulent, wenn mittelalterliche Texte dafür die Seele des Menschen aufs Spiel setzen.

Ihre Anordnungen sind keineswegs voraussetzungslos. Schon die stoische Ethik und die (neu)platonische Anthropologie betrachten den Menschen vom Widerstreit zwischen Körper und Psyche geprägt, in permanentem Kampf gegen Vorurteile und affektive Verstrickungen. Schon die Antike favorisiert einen Habitus besonnener Selbstkontrolle, der sich auf dem Wege agonistischer Übungen »zwischen sich und sich« gewinnen und festigen lasse.3 Unter christlichen Vorzeichen schließt das lateinische Mittelalter an diese Vorgaben an und interpretiert das Leben als umfassenden Wettkampf (1 Cor 9, 24–27; ebenso einflussreich auch 2 Tim 2,5).4 Einflussreich für die Sünden- und Bußordnungen beschreibt etwa Gregor der Große in seinem Hiob-Kommentar das Herz des Menschen belagert von Lastern, die sich sogleich vervielfältigten (multitudinem proferunt), indem sie – einmal hineingelangt – weitere ›Heere‹ (exercitus) hineinließen.5 Militärische Metaphern des Kampfes und der Belagerung dienen Gregor dazu, eine Sündenordnung zu arrangieren, deren geordnete Reihe zu Wucherung und Vervielfältigung neigt. Das ganze Leben verwandele sich in einen geistigen Ringkampf vor den Richteraugen Gottes, wie Hrabanus Maurus in seiner Allegorese der Wettkampfpraxis der Antike festhält.6

Volkssprachliche Literaturen knüpfen an solche Modelle und ihre agonalen Leitmetaphern nicht nur an,7 sondern entwickeln deren Streitordnungen experimentell weiter.8 Diese Experimente werden besonders greifbar, wenn Kämpfe um bzw. in der Seele mit narrativen, imaginativen und dialogischen Mitteln verstärkt werden. Wie die Forschung bislang aufgewiesen hat, zeigen volkssprachliche Texte jedoch insgesamt wenig Interesse, das Begriffsfeld lateinischer Seelenlehre systematisch zu übernehmen oder anthropologische Probleme stringent auszudiskutieren. Wo mittelhochdeutsche Texte vom Kampf in der Seele erzählen, kommen zwar Figuren mit »komplexe[m] und vielgestaltige[m] Innenleben« in den Blick, doch mit »ambivalente[m] Ergebnis«. So nachdrücklich sie den Diskurs über innere Ordnung vertiefen, so schwach scheint die Ordnungsleistung ihrer Begriffe: »Warum bildet die mittelhochdeutsche Literatur eine ganze Fülle von Begriffen zur Bezeichnung innerer Vorgänge und Sachverhalte aus, die in ihrer Verwendung aber kaum differenziert und oft sogar gegeneinander austauschbar sind?«9

Wenn man dies nicht bloß als Begriffsschwäche volkssprachlicher Literatur ankreidet, welche positiven Angebote lassen sich in Seelenkampftexten greifen, die Formen des Selbstbezugs organisieren? Welche erzählerische Arbeit setzt dort an, wo begriffliche Systematisierungen des Selbst enden? Ausgehend von diesen Fragen setzt sich das folgende Kapitel zum Ziel, zwei Transformationen herauszuarbeiten, die für die Vervielfältigung von Selbstverhältnissen entscheidende neue Wege eröffnen. Von Anthropologien der Spätantike, die Selbstverhältnisse strikt an externe Ordnungen rückbinden, entkoppeln sich im Mittelalter Latenzmodelle innerer Kämpfe, die auf paradoxe Weise als unzugänglich, intransparent und in bemerkenswertem Maße unbestimmt erscheinen, während sie gleichzeitig kommunikativ vermittelt, intensiviert und in Dialogformen verhandelt werden, die unter extremen Bestimmungsszwängen stehen. Formen »der Nicht-Identität, der Differenz, des Widerspruchs« lockern dabei Rückkopplungen an religiöse oder soziale Zurechnung, ohne sich deshalb außerhalb dieser Rahmen zu stellen.10 Dies eröffnet neue Möglichkeiten, um Binnenkomplexität zu verstetigen: Indem innere Kämpfe fortlaufend Widerspruchsordnungen reproduzieren, machen sie das Ich zum Medium unabschließbarer Selbstkulturierung. Was vor dem Hintergrund theologischer Seelenlehren als »unsystematisch«11 erscheint und begriffliche »Widersprüche«12 aufwirft, so lautet die These, verweist auf ein desto größeres Interesse an Dynamiken, die aus paradoxen, unscharfen und widersprüchlichen Unterscheidungen komplexe Relationen gewinnen.

Wie die folgenden Analysen zu exemplarischen Seelenkampftexten der Spätantike, des Frühmittelalters bis an die Schwelle zum 14. Jahrhundert unterstreichen wollen, verlaufen diese Entwicklungen keineswegs einsträngig oder kommunikationsgeschichtlich linear. Einerseits lassen sich zwischen lateinischen und volkssprachlichen Texten robuste Kontinuitäten ausmachen, die sich gleichermaßen im textübergreifenden Modellcharakter der Psychomachia des Prudentius greifen lassen wie in Übersetzungen einflussreicher Einzelfälle wie der Visio Philiberti,13 die ins Französische, Englische, Italienische, Niederländische und Deutsche führen. Andererseits spiegeln solche Reihen auch markante Umbesetzungen von Wettkampfinstanzen und Wettkampfkonfigurationen sowie Überlagerungen unterschiedlicher Formen, die weit über den Kreis christlicher Anthropologie hinaus greifen. Im Licht beider Perspektiven zeichnet sich damit eine Arbeit am agonalen Erzählen ab, die Kampfformen des Selbst sowohl vervielfältigt als auch mit Leitmodellen und Texttraditionen verbindet. Mit den verschiedenen Beispielen werden zugleich auch unterschiedliche Stoßrichtungen greifbar: Dient Wettkampf zunächst dazu, Ordnung gewaltsam herzustellen und durchzusetzen, so experimentieren Texte des Hochmittelalters umgekehrt damit, mittels Wettkampf gezielt Unordnung zu produzieren und zu sichern. In dieser Spannbreite entwickelt die Erzählliteratur des Mittelalters damit symbolische Ressourcen der Anthropologie und Ethik, die menschliches Handeln in komplexen Spannungslagen zwischen Ordnung und Zerstörung verorten.

Auch diese Spannung wird maßgeblich von antiken Autoren thematisiert. Platon zufolge liegen Psyche und Körper in fortwährendem Kampf. Auch die stoische Ethik betrachtet das menschliche Leben als bios polemos; Marc Aurel etwa empfiehlt, sich durch Gedanken an unverschämte, missgünstige Gegenspieler mental zu trainieren.14 Für die Kulturgeschichte des Widerstreits sind dies aufschlussreiche Belege, insofern antike Seelenkämpfe zumeist Aufstiegsbewegungen anregen, die das Selbst wie auch interpersonale Beziehungen transzendieren und sozusagen auf überindividuelle Außenseiten zielen.15 Allerdings sind diese Außenseiten keineswegs unbestimmt: Statt in Kontingenzräume führen agonale Konzepte und Techniken des Selbst vielmehr zu übergreifender Ordnung – zur Sphäre von Ideen oder in Richtung des kosmischen nous. Wettkampf und Widerstreit sind dafür vor allem als Formen der Rückversicherung relevant, die umgreifende Kontexte und Umwelten erschließen; Streit im Menschen verweist zugleich auf Streitordnungen um den Menschen.

Mit der Psychomachia des Prudentius soll diese Erzählform zuerst an einem Text vorgestellt werden, der eine wirkungsmächtige Brückenposition zwischen Anthropologien der Spätantike und des Mittelalters begründet.16 Noch im 12. Jahrhundert – so ist am Fall der Vorauer Sündenklage zu zeigen – dient Wettkampf einem Transformationsprozess, um problematische Selbstverhältnisse auf externe Konflikte rückzuübersetzen. Genau diese Bearbeitungsrichtung kehren Texte um, die Widerstreit gezielt nach innen lenken. Selbstverhältnisse werden damit nicht nur zum Gegenstand verstärkter räumlicher Differenzierung (wie in der Klage Hartmanns von Aue), sondern auch in ihrer Zeitdimension variabel ausgearbeitet, von temporären Spielräumen der Selbstgegenübersetzung (wie in der Visio Philiberti) bis zur dauerhaften Verstetigung eines Wettkampf-Ich (wie im Welschen Gast des Thomasin von Zerclære).

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