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2.2 Streit um den Menschen (II): Zur Anklageordnung der Vorauer Sündenklage

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Für die gesamte Seelenkampf-Literatur des Mittelalters lieferte die Psychomachia des Prudentius ein maßgebliches Grundlagenmodell. Doch selbst wo Texte andere Wege einschlagen, erweist sich die Strategie der Externalisierung als Standard anthropologischer Reflexion. Dies zeigt die in der Vorauer Handschrift 276 aus dem letzten Viertel des 12. Jahrhunderts überlieferte Sündenklage. Ihren pragmatischen Rahmen bildet die Selbstanklage. Flehend wendet sich das Ich an Sancte Maria, die als Fürsprecherin zu einer Gerichtssituation vor Gott ›geladen‹ wird: zuo miner helve wis geladet (V. 8–10).1 Ausführlich wird die Gottesmutter für ihre Mitwirkung am Auferstehungs- und Erlösungswerk Christi gepriesen, um Hilfe für die eigene Rettung und Auferstehung zu erbitten (V. 188). Denn aus eigenem Verschulden (V. 11: von minen sculden) sei alle Ehre verloren, die Gott an Seele und Körper des Menschen gewendet habe (V. 196–201), das Ich dem Teufel und drohenden Höllenqualen überantwortet (V. 233).

Über die Mittlerin Maria wendet sich das Ich zu Gott (ab V. 291), wobei es sich exemplarisch verallgemeinert: Die Welt mit ihren Verführungen hat mir armen getan / also vil manegem man (V. 421f.). Reumütig zählt es sämtliche Todsünden auf, die es von Geburt an begangen habe (V. 463–558). Ähnlich der Psychomachia, wenngleich selbstverschuldet, sieht auch das Ich der Sündenklage den Menschen in gefährlicher Unordnung: Seit Adams Fehltritt seien alle Menschen (wir) in einen Schlangengarten der Sünde geworfen (V. 70–76).

Befreiung sucht die Sündenklage, indem sie Ordnungsansprüche nach dem Modell hierarchischer Rechtsbindung schrittweise überträgt. Statt auf das Selbst richtet sich die Anklage nun auf einen Erbstreit mit dem Teufel: nu gip [= Gnaediger herre] mir geleite / heim zuo minem erbe, / daz wil mir <der> tievel wergen (V. 726–728; ebenso V. 733f.). Während Sünde wie Buße eigene Handlungsentscheidung und Aktivität voraussetzen (V, 11–13 und V. 339), betont das Ich in solchem Bemühen um Rechtsschutz nun vor allem Passivität und Abhängigkeit. Einerseits vom Teufel gefesselt (V. 233) und von der Welt betrogen (V. 423f.), sieht es sich andererseits gegenüber Gott als Diener ohne eigenständigen Rechtsstatus: ja chouftest du mich armen / mit din selbes bluote (V. 430f.); nu ist ouch billich unde reht, / daz du enphahest dinen armen choufchneht (V. 638f.). Aller Kaufmannssemantik zum Trotz ruft diese Übertragungsgeste die Rechtslogik feudaler Gesellschaftsordnung auf, welche die Abhängigkeit des unterstellten Subjekts zugleich an Schutzpflichten des Vormunds koppelt. Treffend apostrophiert das Ich daher Gott als voget aller armen (V. 731).

Wie konsequent diese Vertretungslogik die Sündenklage durchzieht, zeigt die Schlusspartie (V. 729–858), die den Gerichtskampf in ein kämpferisches Selbstverhältnis transformiert. Wenn das Ich gegen die Ansprüche des Teufels um Leib und Leben kämpfen müsse (V. 735: sol aver ich ein kampf mit ime vehten), dann geschützt durch den Panzer (V. 775: chamfwat) christlicher Tugenden (V. 751–774). Zielte Prudentius darauf, Differenz im Inneren des Menschen auszuräumen, schließt die Vorauer Sündenklage dieses Innen metaphorisch ab: Zum Schutz vor den Pfeilen des Teufels erbittet das Ich von Gott ein brustsloz (V. 755) der Tugenden. Kampf- und siegesgewiss wird der Gegner als hunt verwazen (V. 771, 786) verhöhnt, zugleich aber die Abhängigkeit des Menschen im Rahmen rechtlicher Vertretung akzentuiert: des hilf du mir, threhten, / daz ich armer an im gesige (V. 736f., Herv. B.G.; vgl. auch V. 731).

Im Vergleich zur Psychomachia werden damit grundsätzliche Kontinuitäten des Leitmodells der Externalisierung erkennbar, aber auch Umbesetzungen. Schon Prudentius wendet sich in Eingangs- und Schlussgebeten an den Beistand Christi; wie sein Kampfszenario von Tugenden und Lastern überträgt auch die Sündenklage mit der Wendung an Maria als vogedinne (V. 250) bzw. an Gott als höchstem voget (V. 731) eine Selbstanklage in ein Außenverhältnis; in beiden Fällen wird der Kampf um die Ordnung im Menschen zum Kampf um den Menschen ausgelagert und um tragende Instanzen erweitert.2 Auch die Sündenklage prägt somit ein markanter »Formtrieb«,3 der von innen nach außen greift. Doch werden dabei sowohl Verfahren als auch Bezugsrahmen umbesetzt, die diese Externalisierung prägen: Statt allegorischer Bildintensität und Distinktionsverschärfung verlagert die Rechtslogik der Sündenklage eine Selbstklage (lamentatio) zur Fremdanklage (accusatio) des Teufels; statt latente Selbstverhältnisse in kosmische oder politische Umwelten zu projizieren, überträgt das Selbst dabei die Unordnung des Kampfes an seinen Vormund. Transzendenzorientierte Rückübertragungen stützen sich dabei maßgeblich auf rechtliche Logik.

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