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2.5 Wettkampfethik: Thomasin von Zerclære und die Habitualisierung der Unordnung

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Die Liebeserfahrung, von der Hartmanns Vervielfältigung des Selbst ausgeht, bewog die Forschung, Resonanzen der Klage vornehmlich im Minnesang zu suchen.1 Systematische Anschlussstellen sind zahlreich zu greifen: Unerfülltes Liebesbegehren treibt das Ich in kämpferische Spaltungsphantasien zwischen herze und lîp (Friedrich von Hausen);2 Kontingenz von Kommunikation wird nicht nur als Ausdrucksproblem beklagt, sondern vervielfacht die Rollen erlebender und ästhetischer Ich-Artikulation (Heinrich von Morungen);3 Unordnungen von Seele, Herz und Körper werden zum Argument für neue Sprachspiele der Liebe (Walther von der Vogelweide).4 Aber auch narrative Reflexionen führen Experimente mit latenter Vervielfältigung fort, die weit über den Liebesdiskurs hinausreichen.

Einen besonders aufschlussreichen Fall stellt der Welsche Gast (1215 / 1216) Thomasins von Zerclære dar,5 der das Latenzmodell des Seelenkampfes zur Selbstbeschreibung höfischer Ethik adaptiert.6 Um die Verstetigung des höfischen Habitus zu illustrieren, greift auch Thomasins Lehrdichtung im VI. Buch (V. 6799–8470) zu traditionsreichen Allegorien des Kampfes. Wer Heil im Jenseits erwerben wolle, der müsse schon im Diesseits permanent kämpfen – mit der Fahne der Tugenden gegen das Teufelsheer der Laster (V. 7369–7384):

swenn wir tuon ihtes unreht,

der tiuvel uns ân den schilt s lecht.

sô sul wir danne kêren dar

der guoten gedanke breite schar

unde suln daz unreht lâzen,

sô muoz danne der vînt verwâzen

von uns in der helle gluot.

(V. 7373–7379)

Thomasins Appell bezeugt zweierlei, sowohl das externale Modell des Seelenkampfes als auch neue Züge der Interiorisierung. Zum einen führt die Frage des richtigen Lebens auf den Spuren der Psychomachia zu einem imaginären Kampfplatz zwischen Teufel und Gott, irdischer Verführung und jenseitigem Gericht, Hölle und Himmel. Hatte das VI. Buch mit einer Reihe alttestamentarischer Exempel von Mühsal und belohntem Gottvertrauen eröffnet (Joseph, Moses, David), so führt Thomasin wenige Verse später vier Schlachtverbände von Lastern vor Augen, denen sich jeder edel rîter guot (V. 7385) zu stellen habe:

Nu nemt war, edel rîter guot,

wie sich dort machet Übermuot

wider iuch mit ir schar:

ir solt sî undermachen gar.

[…] (V. 7385–7388)

Sich umbe, edel rîter guot,

und merke waz Girescheit tuot.

si wâsent sich mit ir gesint.

[…] (V. 7395–7397)

Seht ir niht der Unkiusche schar

diu sich dort hât gewâfent gar?

in ir schar vert Leckerheit,

Vrâz und ouch Trunkenheit.

[…] (V. 7401–7404)

Diu trâkeit hât ouch ir schar

gewâfent und bereitet gar.

(V. 7411f.)

Laster, die sich sofort wuchernd zu vervielfältigen drohen (z.B. V. 7398–7400), sind mit besonderer Aufmerksamkeit zu bekämpfen: nu wer dich, edel rîter, wer! (V. 7466). Dem dichotomen Differenzmuster entsprechend hält ihnen Thomasin die allegorische Montur eines Ritters entgegen, der mit der Fahne der Weisheit, dem Schwert des Rechts, dem Schild der Klugheit, in der Rüstung der Sicherheit und dem Helm des Glaubens gegen diese anreitet. Dem Pferd der Hoffnung solle er die Sporen der Tapferkeit geben, fest im Sattel der Beständigkeit und das Zaumzeug der Keuschheit fest in der Hand, den Speer der Demut gegen die Untugenden gerichtet (V. 7470–7500). Umbesetzungen sind nicht von der Hand zu weisen: Konfigurierte Prudentius eine Oppositionsstruktur von Tugenden und Lastern, so werden Tugenden zur Montur des Subjekts verwandelt: »Der ritterliche Protagonist muss die übermächtig wirkenden Lasterscharen vielmehr allein bestehen, was die Spannng beträchtlich erhöht.«7

Gleichwohl setzen die Beschreibungstechniken, die Thomasin in dichter Folge aufbietet, grundsätzlich das Leitmodell veräußerlichter Seelenkämpfe fort, wie es die Psychomachia vorgeprägt hatte: Aufzählung und Clusterbildung von Tugend- und Lasterbezeichnungen, allegorische Beschreibung der Rittergestalt, evidenzorientierte Anweisungen8 und vorwiegend externe Raumdeixis9 stülpen das Kampfszenario imaginär nach Außen. Auch Thomasins heilsgeschichtliche Typologie der Kampfaufforderung,10 seine Denunziation teuflischer Angriffe vor gotes geriht (V. 7657, 7671 u.ö.) und die nachdrückliche eschatologische Zielperspektive11 knüpfen an die Tradition von Kampfordnungen an, die den Menschen im Widerstreit ›aus sich heraus bringen‹12 und dadurch letztlich Widerstreit zu ordnen, zu überwinden und auszuschalten suchen. Medial verstärkt wird diese externe Oppositionsstruktur von Bildprogrammen, die Tugenden und Laster in Reihenkämpfen einander gegenübersetzen und asymmetrisch ordnen.13

Gegenläufig dazu zeigt die zitierte Passage des VI. Buches aber auch, wie Thomasin diese externalen Modellvorgaben mit innovativen Beschreibungen und Mustern kombiniert, wie sie Hartmanns Klage entwickelt hatte: Auch der Welsche Gast zielt auf Verstetigung, Latenz und Vervielfältigung der Wettkampfform. Diese Ausweitungen setzen bereits bei der Sozialreferenz des Wettkampfszenarios an, das sich zunächst an adlige edel rîter guot wendet, dann aber ihre Rittersemantik und die Beschreibungen von Lastern und Tugenden auf jeden ausdehnt, der nur ethische Vollkommenheitsansprüche an sich stelle (Herv. B.G.):

Swer rîter heizet ode ist,

der sol sich ze dirre vrist

ze wer bereiten harte wol.

ein ieglîch biderbe man sol

beidiu an alter und an jugent

sich wâfen gegen der untugent.

(V. 7419–7424)

Auch an vielen anderen Stellen pendelt Thomasins Lehrschrift gleichsam zwischen elitärer Begrenzung und Entgrenzung ihres impliziten Adressaten (swer, man, wir etc.).14 Wie die zitierte Definition zugleich spiegelt, wird auch die Zeitdimension gedehnt. Was die Allegorie von Lastern und Tugenden als präsentisches, punktuelles Kampfgeschehen vor Augen stellt (V. 7457: nu tuo war; 7466: nu wer dich etc.), zeichnet Thomasin zufolge eine lebenslange Aufgabe vor (an alter und an jugent, V. 7434, nochmals V. 7704 u.ö.), genauer: eine Aufgabe, die in jedem Moment neu zu bewältigen sei (V. 7648: zaller stunde, V. 7478: zaller vrist), die andauerndes Bemühen fordert (V. 7803: tac unde naht), ganz gleich swie lange (V. 7427). Entworfen wird damit eine Zeitstruktur der »Dynamisierung«,15 die durch Akte kämpferischer Unruhe auf Permanenz zielt. Während die natürliche Welt auf Makroebene ihre Struktur durch unablässigen Wettkampf der Elemente gewinne (V. 2420: der strît wirt alle tage getân), bilde sie auch der Mensch auf Mikroebene in sich täglich neu. So nachdrücklich Thomasin also die Ethik des Wettkampfs auf ihr transzendentes Telos verpflichtet, so beharrlich dehnt sich solcher Wettkampf im Diesseits: swer wil êwiclîchen leben, / der muoz vehten zaller vrist (V. 7528f.). Während Prudentius mit dem finalen Triumph der Tugenden, die schließlich Gott einen Siegestempel errichten, das eschatologische Ende des Kampfes betont, zeigt sich Thomasin vielmehr an der fortwährenden Spannung eines unabsehbaren Kampfes interessiert, der paulinische bzw. augustinische Lebensentwürfe fortschreibt.16 In gewisser Weise basiert auch dies auf einem Trägerdiskurs. Wie Hartmanns Klage den Kampf ausgehend vom Minnediskurs verstetigt hatte, verstetigt ihn Thomasin mit den Mitteln religiöser Semantik zum bellum continuum.17 Das allegorisch-überzeitliche Modell des Seelenkampfs wird dadurch nicht bloß temporalisiert. Vielmehr wird die dichotome Grundstruktur eben jenes Entscheidungsmodells aufgelöst und auf Dauer gestellt, das die Konfrontation von Tugenden und Lastern eindringlich aufruft:18 Das ganze Leben steht ›unter Waffen‹ (V. 7556). Übung und Bewährung statt raschen Siegen und Niederlagen – der Seelenkampf wird zum Trainingsplatz normativer Habitualisierung ausgebaut.19

Eine zweite einschneidende Veränderung der Erzähltradition zeigt sich im Hinblick auf die Medien, in denen sich normative Orientierung verwirklicht. Von der werlde als Handlungsraum schwenkt der Blick nach innen: Gut zu leben heißt, der guoten gedanke breite schar in den Kampf zu führen (V. 7376). Ritterschaft bestehe daher nicht im Zerbrechen von Lanzen (V. 7445f.), sondern in mentalen Dispositionen gegen Verlockungen der werlde: Gegen Vergnügungslust, körperliches Begehren und hämische Meinung helfen Klugheit, Glaube, Ehrfurcht, Gottesliebe und Hoffnung. Von diesen dianoetischen und kontemplativen Tugenden wendet sich Thomasin dann jedoch wieder nach außen, indem er zu Handlungen in der Welt rät. Zum richtigen Leben gehöre, ze tuon (V. 7788) zu haben, und zwar nicht nur mit Vergnügungen, sondern mit Rat und Tat (V. 7814): sô sol er tac unde naht / arbeiten nâch sîner maht / durch kirchen und durch arme liute (V. 7803–7805). Zielt die allegorische Imagination darauf, den Wettkampf zu internalisieren, so führt ihre Auslegung zurück auf ein äußeres Handlungsprogramm der vita activa. Diese Übersetzung spielt Thomasin fortgesetzt in beide Richtungen durch: Wer seinen täglichen Tätigkeiten und Pflichten mit Freude nachgehe, beweise guoten sin (V. 7849) und guote[n] wille[n] (V. 7844), im Diener solle man stets auch den Menschen ehren (V. 7868–7870), denn selbst im Unfreien ließen sich Seele und gedanc, der beste Teil im Menschen, nicht bezwingen (V. 7878–7880). Daraus folgen soziale Maximen: Seiner Frau wohlgesonnen und Angehörigen vertraulich zu begegnen, stehe dem Ritter gut an (V. 7831–7834). Immer rascher wechseln interne und externe Perspektiven, bis sich beide Richtungen zusammenschließen: der man hât einen vrîen muot / der gerne tuot daz er tuot (V. 7851f.). Die Innen-Außen-Differenz der Wettkampfform wird zur Kippfigur.

Zusammenfassend ergibt das eine spannungsreiche Mischung. Thomasin greift unübersehbar die Tradition externaler Seelenkämpfe samt ihrer ordnungsorientierten, auf Veräußerung inneren Streits gerichteten Teleologie und ihre allegorisch-ekphrastischen Darstellungstechniken auf, öffnet im Gegenzug jedoch die Wettkampfform für dynamische Wechsel. Vorbildliches Verhalten verdankt sich einerseits internalisierten Dispositionen und mentalen Akten (gedanken), muss andererseits aber auch beharrlich verkörpert und in konkreten sozialen Handlungsvollzügen realisiert werden (tuon); Tugend bedarf einerseits teleologischer Zielbestimmung (V. 7697f.: ze got […] / durch die rehten güete), andererseits aber fortgesetzter Übung, die unbestimmt ausgedehnt ist. Anspruch solcher Tugendlehre ist einerseits die exklusive Identitätsbildung (ritter), andererseits maximale Ausweitung jenseits von Standesgrenzen oder spezifischen sozialen Kontexten (biderbe man). Insgesamt zeigt sich damit eine Form, die zwischen Reduktion und Vervielfältigung der Differenzen von Seele und Körper, aber auch zwischen Abschluss und Iteration ihrer Zeitstruktur sowie Eingrenzung und Entgrenzung ihrer Subjekte pendelt. Auch dies kann man als Latenzzusammenhang im funktionalen Sinne interpretieren: Thomasins Ethik entwirft im Wechselspiel von begrenzenden und entgrenzenden Wettkampfformen ein normatives Leitbild, das sich in medialer, zeitlicher oder akteursbezogener Hinsicht entweder ausgesprochen einfach und verdichtet zeigt oder aber als komplex und widerstreitend enthüllt.

Innovativer als die Tugend- und Lasterkataloge, die Thomasin konventionell zitiert, ist also die Form des ethischen Selbstverhältnisses, in welche sie das VI. Buch einbettet. Innen- und Außenseiten, verborgene und aufgedeckte Komplexität des Modellsubjekts werden fortgesetzt wechselbar – Hartmann und, in noch kürzerer Gestalt, auch die Visio Philiberti hatten dies im Grunde genommen nur zweimal vollzogen. Das Latenzmodell wird damit zu einer Art Scharniermechanismus, um zwischen Innen und Außen, Verbergen und Aufdecken des Subjekts zu wechseln.

Schon im Abschnitt über den Wettkampf zeitigt das neue Unruhe. Denn mit der Beweglichkeit der Form erhöhen sich auch die Möglichkeiten, Identität als Differenzordnung aufzudecken. Zentrale Attribute und Vorgänge, die Thomasin dem Prozess normativer Habitualisierung einschreibt, neigen dadurch zur Spaltung. So z.B. das Konzept von arebeit / müe: Einerseits nämlich sei der Kampf gegen Laster vil müelîch (V. 7552, 7648 u.ö.), der Mensch habe die Mühsal als eigene Last infolge des Sündenfalls zu tragen (V. 7639–7642), weshalb man sich auch im Alltag unablässig um gute Handlungen bemühen müsse (V. 7804: arbeiten); andererseits solle man den Kampf im Zeichen der Tugend gerade nicht als grôz müe betrachten (V. 7431). Gleiches gilt für Bezeichnungen und Bewertungen des Kampfes: Einerseits sei strît das Ergebnis von Lastern (V. 7204) und seit dem Fehltritt Adams ein lästiges Übel der ›conditio humana‹, von der erst die Gnade Gottes erlöse (V. 7597–7630), während Konflikte im Diesseits die menschlichen Gemeinschaften zerreißen; andererseits gelange der Mensch nur mit dem strîte gegen Laster zurück zu Gott (V. 7697–7704). Statt Unordnung im Menschen auszuräumen, wie es die zitierte Erzähltradition externaler Seelenkämpfe anstrebte, gewinnen Thomasins bilde nur um den Preis latenter Unordnung ihr vorbildliches Profil.

Wo ausdrücklich gezählt wird (gegen fünf äußere Verlockungen helfen drei innere Tugenden; Buch VII: fünf Fähigkeiten innerhalb des Körpers richten sich auf fünf Dinge außerhalb etc.), ist die Unordnung nicht weit.20 Sie ist tatsächlich nicht auf die expliziten Wettkampfpassagen des VI. Buchs beschränkt, sondern prägt den Welschen Gast insgesamt. Von Anfang an begegnen Zurechnungsprobleme: Grundsätzlich könnten Körper innere Zustände und Emotionen zu erkennen geben, weshalb auch Laster und Tugenden an spezifischen Gebärden ablesbar seien (V. 912–926). Allerdings nur in Grenzen: Leider tröge sehr oft der Schein, weil viele Menschen ihre wahren Gefühle listig zu verbergen verstünden (V. 927–946). Weder stellt Thomasin also die Koppelbarkeit von Innen und Außen, muot und lîp grundsätzlich in Frage, noch spielt er ihre Kontingenz herunter, sondern betont beides: Habitualisierung bewegt sich damit von Anfang an in einem instabilen Spannungsfeld von sehen und heln. Tugend wird somit zu einer Form der Latenz, die natürliche Anlagen aufdeckt und aktualisiert, aber nicht voraussetzungslos oder gegen schlechte Grundlagen erzeugt werden kann.

Doch auch diese fortlaufende Differenzierungsdynamik der Latenz hat ihre Grenzen. So scheinen aus Transzendenzperspektive jederzeit Unterbrechungen möglich, wie Thomasin an anderer Stelle vermerkt: Niemand könne seine Gedanken (muot) vor Gott geheim halten (V. 3494–3502), latente Traumgedanken des Kampfs beende Gott mit dem Erwachen (V. 3483–3488). Im alltäglichen Zusammenleben aber drohen permanent Täuschung und Verstrickung, die eine Latenzperspektive des permanenten Kämpfens befördert.

Thomasin diskutiert dies ausführlich am Begriff der stæte, die er als Kardinaltugend und Voraussetzung aller anderen Tugenden bestimmt (V. 1707–2528).21 Sorgsam arbeitet er ihn aus Negationen heraus. Beständigkeit erkenne und erlange nur, wer sich von Unbeständigkeit abkehre, weshalb zunächst über unstæte zu sprechen sei (V. 1821–1836). Mit einer paradoxen Definition unterstreicht Thomasin, dass sein Diskurs der Vorbildlichkeit weniger auf trennscharfe Bestimmungen zielt. Es geht vielmehr darum, Verschränkungen zu entwirren: unstæte ist stæte an boesen dingen (V. 1839). Darin klingt erstens eine beunruhigende Einschätzung von Vielfalt an. Unbeständige wollten immer Verschiedenes, morgens dies und abends anderes, vor allem aber immer mehr (V. 1875–1893). Beständigkeit hingegen verlange Reduktion: swer stæt wil sîn, der sî an einem (V. 1894). Vereinfachung durch Begrenzung auf eine Domäne aber falle zweitens von Natur aus besonders schwer: Jedes Ding habe seinen Platz in der Welt, nur der Mensch könne seinen orden nicht halten (V. 2611–2614). Arme wollten reich werden, Diener herrschen und Mächtige bedürften Helfer und Ratgeber, die sie wiederum in Konkurrenz und Neid verstrickten. Der Machtlose verwickele sich in Kämpfen nächtlicher Racheträume, in denen er seine wehrlosen Feinde niedermetzele (V. 3455–3482), und der Ehrgeizige träume von ruhmvollen Turnieren im muot. Mit negativem Unterton spricht Thomasin in diesen Fällen von Traumlatenzen, welche die Gothaer Handschrift, vor allem aber die ältere Heidelberger Handschrift als vergleichsweise grob geordnete, clusterartige Kämpfe illustrieren.22

Auf allen Ebenen der Gesellschaft entfache dies Kampf: Städte, Länder und Reiche gerieten deshalb in Unordnung. Mit der gesamten christlichen Erzähltradition der Seelenkämpfe sieht Thomasin dahinter heilsgeschichtliche Ursachen: Über Adam, der nicht nur Urahn des inneren Kampfes, sondern ebenso der Unbeständigkeit ist (V. 2529–2578), werden allgemeine Menschheitsgeschichte und individuelle ethische Perspektive verbunden. Thomasins Wettkampfordnung der Tugend basiert damit nicht nur erzählerisch, sondern auch diskursiv, semantisch und genealogisch auf einer latenten Anthropologie der Unordnung.

Das Modell des Seelenkampfes entwirft den Menschen damit komplexer, aber auch ambivalenter. Thomasin lobt Latenzbeziehungen keineswegs einseitig, sondern verachtet Lüge und Intrige (so etwa prononciert im Buch II) – und formuliert zugleich eine Ethik, die sich Latenz in strukturellem Sinne anverwandelt. Eine solche Darstellungsstrategie, die je nach Perspektive zu Vereinfachung und Vervielfältigung einläd, schuf ein bewegliches Angebot zur sozialen Pluralisierung von Vorbildlichkeit, welche sich in feudalen wie bürgerlichen, in säkularen wie geistlichen Kontexten adaptieren ließ.23 Doch bereits um 1215 spiegeln Thomasins Diskurs der stæte und seine latente Form des Wettkampfs Kippfiguren von Verinnerlichung und Veräußerlichung, mit denen die höfische Erzählliteratur arbeitet. Protagonisten wie Hartmanns Gregorius bilden ihre Identität, indem sie zwischen Veröffentlichung und Verheimlichung »latenten Vorwissen[s]« oszillieren;24 und wie Thomasin den Ehrgeiz am Beispiel eines Mannes geißelt, der aus Ruhmsucht allein in sînem muot Turniere ausrichtet (V. 3809–3854), inszeniert auch Hartmann die Prätention höfischer Identität mittels Latenzphantasmen, die im Wechsel zwischen Innen und Außen prekäre Geheimzonen bilden. Wie das folgende Kapitel näher beleuchtet, vertieft besonders Hartmanns Iwein solche Geheimzonen der Latenz.

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