Читать книгу Wagners Welttheater - Bernd Buchner - Страница 14

Idee und Wirklichkeit. Auf dem Weg zum Grünen Hügel

Оглавление

In Paris hatte Wagner einst selbst gehungert. Er lebte von 1839 bis 1842 in der Stadt an der Seine und machte als brotloser Künstler schlimme Zeiten durch. Dennoch kehrte er später immer wieder in die französische Weltstadt zurück, und selbst seine Festspielidee ist mit ihr verbunden. Anfang der 1860er Jahre wollte der Komponist in Paris, durch den dortigen Misserfolg mit dem Tannhäuser nur unzureichend entmutigt, im Théâtre Italien eine „deutsche Musteroper“ ins Leben rufen.77 Im Zusammenhang mit den dann gescheiterten Plänen entstand erstmals der Gedanke, Festspiele in den sommerlichen Theaterferien durchzuführen – eine für das spätere Bayreuth grundlegende Idee. Carl Dahlhaus mutmaßt sogar, die von Wagner so sehr verachtete Grand opéra, die im 19. Jahrhundert den musikalischen Weltruf von Paris ausmachte, könnte das „heimliche Vorbild der Bayreuther Gründung“ gewesen sein.78 Beide Formen des dramatischen Musikfestes hätten sich als Abbild und Ausdruck der Gesellschaft verstanden, die Pariser Oper der bürgerlichen, das Wagnerfest der utopisch-nachrevolutionären. Darin liegt aber bereits ein wesentlicher Unterschied, der auf den entschieden politischen Charakter der Absichten Richard Wagners ebenso verweist wie auf die unabdingbaren künstlerischen Voraussetzungen und die „Distanz zum Alltag“ (Udo Bermbach)79 als herausragendes Element des Festspielgedankens.

Worin besteht dieser Gedanke? Dass „Bayreuth“ Wirklichkeit geworden ist und die Nachwelt noch immer Wagners Welttheater bestaunen kann, legt den Schluss nahe, das Unternehmen fuße auf einem stringenten Plan des Komponisten. Das aber ist ein Irrtum.80 „Die Festspielidee Richard Wagners gibt es nicht“, stellt Dahlhaus fest.81 Auch von bloßen Abwandlungen eines durchgängigen Prinzips könne schwerlich die Rede sein. Mehr als die Hälfte der betreffenden, für die deutsche Geschichte prägenden Zeit zwischen der gescheiterten Revolution von 1848 und der kleindeutschen Reichsgründung verbrachte der Komponist im Exil. So verwundert es kaum, dass der Festspielgedanke kein geschlossenes musikalisch-ideologisches Gerüst ist, sondern zahllosen Wandlungen, Modifizierungen, Verzerrungen, Umkehrungen unterworfen war. Forscher finden oft nur Assoziationen an entlegenen Stellen oder briefliche Nebenbemerkungen, „dann wieder geschlossene Konzepte“.82 Immerhin lassen sich einige Faktoren benennen, die im Lauf der Zeit stärker oder schwächer wurden, sich verdichteten oder an Bedeutung verloren. Es sind Programm, Ort, Publikum, Organisation und Finanzierung. Dreh- und Angelpunkt ist ein monumentales Werk, die Tetralogie Der Ring des Nibelungen – verbunden mit der Frage, wo und unter welchen Umständen es sich aufführen lässt. Wagner will einen abgelegenen Ort, weit entfernt von herkömmlichen Opernhäusern, damit sich das Publikum mit ganzer Aufmerksamkeit seinem neuartigen Musikdrama widmen kann. Ob der Komponist ein einmaliges Fest oder ein wiederkehrendes Ereignis anstrebt, lässt er zunächst offen, entscheidet sich später aber für eine dauerhafte Einrichtung mit dem dafür notwendigen organisatorischen Apparat. Die Finanzfrage war von vornherein das größte Problem des Unternehmens.

Die Wurzeln der Festspielidee liegen in Wagners Griechenrezeption, in der Tradition der französischen Revolutionsfeste sowie in deren Adaption in der freiheitlich-nationalen Bewegung in Deutschland mit seiner Kultur der bürgerlichen Sänger- und Musikfeste.83 Der Komponist verbindet mit dem Festspielgedanken, so Udo Bermbach, zudem die „Hoffnung, in einer Welt der Entfremdung und kalten Rationalität die antike Form eines religiös-theatralischen Gemeinschaftserlebnisses wiederaufleben zu lassen“.84 Die Wendung gegen den herkömmlichen Kunstbetrieb ist das entscheidende Moment auf dem Weg zu eigenen Festspielen. In Die Kunst und die Revolution schreibt der ehemalige Hofkapellmeister: „Das ist die Kunst, wie sie jetzt die ganze zivilisierte Welt erfüllt! Ihr wirkliches Wesen ist die Industrie, ihr moralischer Zweck der Gelderwerb, ihr ästhetisches Vorgeben die Unterhaltung der Gelangweilten.“85 Die Kritik am heraufziehenden Kapitalismus, der die Kultur vereinnahmt habe, verbindet sich mit persönlichen, künstlerischen und gesellschaftspolitischen Argumenten. Hier zeigt sich ein Paradigma im Denken Richard Wagners: Immer wieder wendet er biographische Aspekte ins Grundsätzliche, macht sozusagen aus der Not eine Tugend, aus Erfahrung eine Philosophie. Erstmals erwähnt der Komponist seine Pläne für ein eigenes Festspiel in Briefen, die er im September 1850 aus Zürich an seine Freunde, den Maler Ernst Benedikt Kietz und den Violinisten Theodor Uhlig, schrieb. Zu dieser Zeit ist noch kein mehrteiliges Ring-Drama geplant, sondern eine einzige Oper – erst später wachsen sich die Pläne von hinten nach vorne zu einer Tetralogie aus. Er trage sich „mit den allerkühnsten Plänen“, ließ er Kietz wissen, „zu deren Verwirklichung jedoch nichts Geringeres als mindestens die Summe von 10.000 Taler gehört. Dann würde ich nämlich hier, wo ich gerade bin, nach meinem Plane aus Brettern ein Theater errichten lassen, die geeignetsten Sänger dazu mir kommen und alles Nötige für diesen einen besonderen Fall mir so herstellen lassen, dass ich einer vortrefflichen Aufführung der Oper gewiss sein könnte. Dann würde ich überall hin an diejenigen, die für meine Werke sich interessieren, Einladungen ausschreiben, für eine tüchtige Besetzung der Zuschauerränge sorgen und – natürlich gratis – drei Vorstellungen in einer Woche hintereinander geben, worauf dann das Theater abgebrochen wird und die Sache ihr Ende hat.“86 An Uhlig schrieb Wagner, die Pläne sähen auf den ersten Blick „sehr chimärisch“ aus, aber allein durch sie wage er an die Vollendung der Oper zu denken. Nach den Aufführungen solle das „Theater eingerissen und meine Partitur verbrannt“ werden. „Nun, komme ich Dir gehörig verrückt vor?“87

Aus der verrückten Idee ist ein Jahr später im Zusammenhang mit dem Anwachsen des Dramas zum vierteiligen Ring des Nibelungen der entschiedene und konzeptionell untermauerte Wille entstanden, eigene Festspiele ins Leben zu rufen. In einem weiteren Brief an Uhlig am 12. November 1851, einem grundlegenden Dokument zur Festspielidee, beschreibt Wagner die „gefühlte Unmöglichkeit, auch den ‚jungen Siegfried‘ nur einigermaßen ansprechend in Weimar – oder sonst wo aufführen zu können. Ich mag und kann jetzt nicht mehr die Marter des Halben durchmachen. – Mit dieser meiner neuen Konzeption trete ich gänzlich aus allem Bezug zu unsrem heutigen Theater und Publikum heraus: ich breche bestimmt und für immer mit der formellen Gegenwart.“ An eine Aufführung der Tetralogie könne er allerdings „erst nach der Revolution denken: erst die Revolution kann mir die Künstler und die Zuhörer zuführen. Die nächste Revolution muss notwendig unsrer ganzen Theaterwirtschaft das Ende bringen: sie müssen und werden alle zusammenbrechen, dies ist unausbleiblich. Aus den Trümmern rufe ich mir dann zusammen, was ich brauche: ich werde, was ich bedarf, dann finden. Am Rheine schlage ich dann ein Theater auf, und lade zu einem großen dramatischen Feste ein: nach einem Jahre Vorbereitung führe ich dann im Laufe von vier Tagen mein ganzes Werk auf: mit ihm gebe ich den Menschen der Revolution dann die Bedeutung dieser Revolution, nach ihrem edelsten Sinne, zu erkennen. Dieses Publikum wird mich verstehen: das jetzige kann es nicht.“88

Ähnlich hatte sich der Komponist bereits zuvor in der Mitteilung an meine Freunde geäußert. Wagner mag bei seinen Plänen an die Niederrheinischen Musikfeste gedacht haben, bei denen seit 1817 Oratorien von Händel und Haydn sowie Symphonien von Beethoven aufgeführt wurden – ein Beispiel für Musik als von der bürgerlichen Öffentlichkeit des frühen 19. Jahrhunderts getragene Kunst. Unmittelbares künstlerisches Vorbild könnte auch das Wirken Karl Immermanns gewesen sein, der von 1832 bis 1837 das Düsseldorfer Theater leitete. Später wird zudem Franz von Dingelstedt, der 1854 in München „Mustervorstellungen“ im Rahmen sogenannter „Gesamtgastspiele“ veranstaltete, Wagners Ideen stark beeinflussen.89 Doch letztere unterscheiden sich durch ihren eminent politischen Anstrich. Im Privatbrief an Uhlig – interessanterweise nicht in der halböffentlichen Mitteilung – benennt Wagner klar die Rolle der Revolution bei seinen Festspielplänen. Er will ein politisches Fest, dessen Gegenstand nicht in erster Linie die Aufführung musikalischer Dramen ist, „sondern die Revolution, als deren Deutung Wagner sein Werk verstanden wissen wollte“.90 Er erhebt somit den Anspruch, den Revolutionären den Sinn ihres Tuns erklären zu wollen, erläutert Herfried Münkler: „Das Fest, die Festspiele treten damit gleichsam an die Stelle der Verfassung, oder sie sind doch zumindest der entscheidende Kommentar zu der Ordnung, die durch die Revolution geschaffen worden ist.“91 Mit seiner Vorstellung, erst der Umsturz werde die Menschen hervorbringen, die zu ästhetischer Erziehung fähig sind, kehrt er zugleich Schillers Ideen in dessen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen um.92

Mit der Politisierung seines geplanten Festspiels schlug Wagner, bewusst oder unbewusst, eine Brücke zur national-freiheitlichen Bewegung des 19. Jahrhunderts. Zum politischen Stil der Nationalbewegung, der er sich von frühester Jugend an verbunden wusste, gehörte das Fest als „Moratorium des Alltags“ (Odo Marquard)93 wesentlich hinzu. Dessen elementare Funktionen sind Selbstvergewisserung, Gemeinschaftserfahrung, moralische Orientierung und Unterhaltung.94 Auf dem Vorbild der religiösen Feste in Spanien, die Wagner gut kannte, sowie auf der Feierkultur der Französischen Revolution beruhend, waren etwa das Wartburgfest von 1817 sowie das Hambacher Fest 1830 wichtige Wegmarken auf dem Weg zur schwarz-rot-goldenen Revolution.95 „Mit Bewusstsein plötzlich in einer Zeit zu leben, in welcher solche Dinge vorfielen, musste natürlich auf den siebzehnjährigen Jüngling von außerordentlichem Eindruck sein“, hielt Wagner in seiner Autobiographie fest.96 Die Passage bezieht sich zwar auf die Pariser Julirevolution und nicht auf das Hambacher Fest im gleichen Jahr, doch er dürfte an der Entwicklung in Deutschland kaum weniger Anteil genommen haben. Ebenso wenig wird dem jungen Komponisten entgangen sein, wie stark die nationale Bewegung bei ihren Feierlichkeiten auf altgermanisches Erbe zurückgriff – ein wesentlicher Bestandteil von Wagners Mythenfundus. Die Durchbrechung und Aufhebung des Alltags, wie sie im Fest möglich wurde, bedeutete jenen revolutionären Ausnahmezustand, den Wagner als Voraussetzung seiner Kunst betrachtete.97 Darüber hinaus stellten Feste, so Herfried Münkler, eine „bevorzugt von Anarchisten immer wieder gedachte und praktizierte Form einer radikal herrschaftsfreien Ordnung“ dar.98 Selbst der Funktionswandel, den das bürgerlich-politische Fest im 19. Jahrhundert durchlief, kam Wagner zupass: „Feste zeigten Gesellschaften immer weniger, wie sie waren, und immer mehr, wie sie einst gewesen waren oder in Zukunft sein sollten.“99 Schließlich wollte der Komponist bei seinen eigenen Festspielen den weit in die Vergangenheit reichenden Nibelungenmythos mit dem „Kunstwerk der Zukunft “ verbinden.

1854 kündigte Wagner an, binnen zwei Jahren mit der Ring-Komposition fertig sein zu wollen, um sich dann an das „Unmögliche“ zu machen: „mir mein eigenes Theater zu schaffen, mit dem ich vor ganz Europa mein Werk als grosses dramatisches Musikfest aufführe. Dann gebe Gott, dass ich meinen letzten Seufzer von mir stoße!“100 Mit der Komposition gerät Wagner allerdings bald darauf in eine Sackgasse, so dass er die musikalische Arbeit am Ring – den Text hatte er bereits 1853 abgeschlossen – 1857 für mehr als ein Jahrzehnt unterbrach. Andere Projekte, vor allem die Oper Tristan und Isolde, durch die Wagner die Liebesaffäre mit Mathilde Wesendonck künstlerisch aufarbeitete, hatten Vorrang. Unter veränderten Voraussetzungen nahm Wagner den Festspielgedanken einige Zeit später wieder auf. In einem Brief an Hans von Bülow brachte er Ende 1861 Paris, Wien und Berlin als mögliche Festspielorte ins Gespräch. Dabei dachte er allerdings offenbar nicht an den Ring. „Da ich nicht mehr Franzose werden kann, bleiben mir nur die beiden deutschen Hauptstädte. Obwohl Wien sehr musikalisch ist, halte ich doch Berlin, auch wie du es neulich mir schilderst, für wichtiger und förderlicher.“101 Wien wurde dem Komponisten zudem durch das Tristan-Fiasko verleidet: Fast drei Jahre lang wurde die Oper dort geprobt und schließlich für unaufführbar befunden. Wagners Anforderungen an das Orchester und die Titelpartien seien zu hoch, hieß es. Das bestärkte ihn im Wunsch nach einem eigenen Festspieltheater, in den Folgejahren nahmen die Pläne wieder bestimmtere Formen an.

In einem Vorwort zur Ring-Dichtung, die 1862 im Druck erschien, stellte Wagner noch einmal die Leitlinien dar. Zwar äußert er sich am Ende skeptisch über die Erfolgsaussichten: „Ich hoffe nicht mehr, die Aufführung meines Bühnenfestspieles zu erleben: darf ich ja kaum hoffen, noch Muße und Lust zur Vollendung der musikalischen Komposition zu finden.“102 Doch ein entschlossener Grundton ist unüberhörbar. Wagner stellt sich die Aufführung seines Bühnenfestspiels als „frei von den Einwirkungen des Repertoireganges unserer stehenden Theater“ vor. „Demnach hatte ich eine der minder großen Städte Deutschlands, günstig gelegen, und zur Aufnahme außerordentlicher Gäste geeignet, anzunehmen, namentlich eine solche, in welcher mit einem größeren stehenden Theater nicht zu kollidieren, somit auch einem großstädtischen eigentlichen Theaterpublikum und seinen Gewohnheiten nicht gegenüberzutreten wäre.“103 In jener Kleinstadt „sollte nun ein provisorisches Theater, so einfach wie möglich, vielleicht bloß aus Holz, und nur auf künstlerische Zweckmäßigkeit des Inneren berechnet, aufgerichtet werden; einen Plan hierzu, mit amphitheatralischer Einrichtung für das Publikum, und dem großen Vorteile der Unsichtbarmachung des Orchesters, hatte ich mit einem erfahrenen, geistvollen Architekten in Besprechung gezogen.“ Vorgesehen sind drei vollständige Ring-Aufführungen. Nicht nur zu den organisatorischen Fragen des Theaterprojekts, auch zur Finanzierung macht der Künstler detaillierte Angaben. Einer mäzenatischen „Vereinigung kunstliebender vermögender Männer und Frauen“ zeigt er sich skeptisch gegenüber, vielmehr hofft er auf einen Fürsten, der die Mittel für seine Residenzoper auf das Wagnerprojekt umzulenken bereit wäre. „Wird dieser Fürst sich finden?“104

Der Fürst fand sich 1864 in Gestalt von König Ludwig II. von Bayern. Er war nicht nur für den Künstler Feuer und Flamme, sondern auch für dessen Festspielgedanken. Rasch entschloss sich Ludwig, für Wagner ein monumentales Festspieltheater in München bauen zu lassen.105 Gottfried Semper lieferte die Entwürfe. Der Bau, der auf der rechten Isarhöhe nahe des Maximilianeums und mit Sichtbeziehung zur Residenz entstehen sollte, ließ von Wagners ursprünglicher Idee nur wenig übrig. Gedacht war an ein Nationaltheater, kein Privattheater für seine Werke. Unverkennbar war die Tendenz zur Sakralisierung: Der König sprach von den „Geweihten“, die den „heiligen Bau“ einst beträten.106 Die Pläne scheiterten durch finanzielle Schwierigkeiten und politische Intrigen, auch die oberste Baubehörde legte ihr Veto ein.107 Selbst eine abgespeckte Version als Einbau in den Münchner Glaspalast erwies sich als utopisch. Ludwig II. gab das Vorhaben aber nie ganz auf. Noch im März 1868 sprach er davon, es sei nur aufgeschoben. Wenig später wollte er Wagner mit dem Bau von Schloss Neuschwanstein ehren, das „ein würdiger Tempel für den göttlichen Freund“ werden sollte.108 Mit Wagners Festspielidee hatte das nichts zu tun. Diese hatte im Lauf der Jahre zahllose Modifikationen durchlaufen, die sich in Gegensatzpaaren beschreiben lassen: Provinz versus Metropole, Einmaligkeit versus Wiederkehr, Nationalbühne versus Privattheater, fürstliche Finanzierung versus Mäzenatentum. Als Ort der Festspiele sah Wagner ursprünglich Zürich vor, wo er Anfang der 1850er Jahre wohnte. Er veranstaltete dort im Mai 1853 auch Festspiele, allerdings nicht auf einer Bretterbühne vor den Stadttoren, sondern im dortigen Theater.109 Der Rhein als Aufführungsort, wie ihn der Komponist 1851 genannt hatte, stellt eine inhaltliche Nähe zur Ring-Tetralogie her und erfüllt die Bedingung der Abgeschiedenheit – Cosima Wagner sollte diesen Gedanken später wieder aufgreifen. Weimar wiederum, das 1856 von Franz Liszt ins Gespräch gebracht wurde, wäre mit einem Wagner-Festspielhaus „zur zentralen nationalen Kult- und Weihestätte eines Doppelmythos von Klassik und Richard Wagners Musikdramen geworden“ (Peter Merseburger)110. Dies widerstrebte dem selbstbewussten Komponisten. Der Festspielcharakter und die verlangte „Distanz zum Alltag“ hätten sich in Zürich oder Weimar allerdings mit Sicherheit besser verwirklichen lassen als in Berlin, Wien oder München, die in den 1860er Jahren ins Gespräch kamen. Das Lob der Provinz, das später in Bayreuth anklang, war also eher der Macht des Faktischen geschuldet.

Auch das Dogma der Einmaligkeit gab Wagner rasch wieder auf. Es entsprach auch nicht dem Vorbild der griechischen Antike. Der Zwiespalt drücke bei Wagner keine Entwicklung des Festspielgedankens aus, so Carl Dahlhaus, sondern eine Unentschiedenheit.111 „Wagner, der ursprünglich von einem Gefühl für die Würde der Vergänglichkeit erfüllt war, ist schließlich dem Drang nach Monumentalisierung verfallen.“ Große Varianz legt Wagner bei der Frage an den Tag, ob er ein Nationaltheater oder ein privates Unternehmen gründen will. Immer wieder hatte er sich unter Berufung auf den „deutschen Geist“ für ein Nationaltheater starkgemacht, diesen Gedanken aber nicht mit den eigenen Plänen in Verbindung gebracht. Konstitutiv für die Festspielidee war ferner die Frage, welche Werke in einem von Wagner zu errichtenden Bühnenhaus auf dem Programm stehen sollen. Er hat ursprünglich an nichts anderes als an den Ring gedacht. Das war aber kein Dogma. In Zürich formulierte er den Gedanken, auch seine frühen Opern Tannhäuser, Holländer und Lohengrin aufzuführen.112 Die Pariser Pläne für eine „deutsche Musteroper“ Anfang der 1860er Jahre sahen Tristan und Isolde sowie Tannhäuser vor, nicht aber das Nibelungendrama.113 Im Ring-Vorwort von 1862 schließlich regt Wagner an, auch zeitgenössische Werke anderer Künstler ins Programm zu nehmen. Diese, so seine Bedingung, müssten allerdings stilistisch seinen eigenen Musikdramen gleichen.

Als weitsichtig erwies sich Wagner bei der Planung des Bühnenbaus – hier ist unter allen Faktoren der Festspielidee die größte Kontinuität sichtbar.114 Das Festspielhaus wurde ab 1872 letztlich genau so errichtet, wie der Komponist es von Anfang an wollte: mit unsichtbarem Orchester sowie einem amphitheatralischen, während der Aufführungen vollkommen verdunkelten Zuschauerraum. Mit seinem Fachwerk erinnert es von außen sogar an die einst imaginierte provisorische Bretterbude vor den Toren Zürichs. Was den Spielplan betraf, kehrte Wagner zu seinem Ausgangsgedanken zurück, im Festspielhaus ausschließlich den Ring zeigen zu wollen. Deshalb konnte es nicht verwundern, dass der Komponist die separaten, von Ludwig II. befohlenen Münchner Uraufführungen von Rheingold 1869 und Walküre 1870 als schwere Kränkung und Demütigung empfinden musste. Der König wiederum sah in Wagners Widerstand eine Majestätsbeleidigung. Er wies seinen Hofrat Düfflipp an, die „widerstrebenden Kräfte“ zum Gehorsam zurückzuführen und zu unterwerfen.115 Der zornige Regent fühlte sich im Recht – er war Eigentümer der Ring-Partitur, doch zugleich verstieß er gegen Wagners Festspielgedanken.116 Wagner war danach gleichsam als Ideologe seiner eigenen Idee gezwungen, seine Pläne zu konkretisieren und endlich nach einem passenden Ort zu suchen.117 Da Siegfried unmittelbar vor der musikalischen Vollendung stand, musste der Komponist zudem befürchten, dass sich sein königlicher Seelenfreund auch dieses Werks zwecks Münchner Aufführung bemächtigen würde. Ludwig II. erwog sogar, die beiden ersten Akte der Oper zu zeigen, da der dritte noch gar nicht komponiert war.118

Bayreuth als möglicher Aufenthalts- oder auch Festspielort stand seit längerem vor Wagners Augen. Besucht hatte er die Stadt bereits sehr viel früher, am 26. Juli 1835 auf der Reise von Karlsbad nach Nürnberg. In seiner Autobiographie schreibt Wagner: „Die Fahrt durch Eger, über das Fichtelgebirg, mit der Ankunft in dem vom Abendsonnenschein lieblich beleuchteten Bayreuth, wirkte noch bis in späteste Zeit angenehm auf meine Erinnerung.“119 Drei Jahrzehnte später, im Februar 1866, kommt Wagner auf Bayreuth zurück. In einem Brief an Hans von Bülow malt er sich im Zuge seiner anschwellenden Nürnberg-Begeisterung aus: „Ich wünschte, der König gäbe mir einen Pavillon des Bayreuther Schlosses zum Ruhesitz: Nürnberg in der Nähe – Deutschland um mich herum.“120 Hier tauchen bereits beide Motive auf, die Wagner später immer wieder als Vorzüge eines Festspielstandorts Bayreuth betonte: Die Stadt liegt im bayerischen Herrschaftsbereich und zugleich – verkehrsgünstig – in der Mitte Deutschlands. Am 24. Juli 1866 empfiehlt Wagner Ludwig II. gar, München den Rücken zu kehren und die Regierung nach Nürnberg zu verlegen. Der König dachte durchaus über den Vorschlag nach. „Sollte ich auch ferner Grund haben mit den Bewohnern meiner bisherigen Hauptstadt unzufrieden zu sein, so soll mich nichts hindern mein Hoflager in Nürnberg aufzuschlagen und dorthin den Sitz meiner Regierung zu verlegen“, schrieb er noch im November an Cosima.121 Seine Residenz indes, hatte Wagner empfohlen, sollte der Monarch in Bayreuth als dem „Herz Deutschlands“ nehmen.122 Dieser Vorschlag war im Kontext von Wagners Bemühungen, den bayerischen König im deutsch-deutschen Krieg auf die Seite Preußens zu ziehen, durchaus ein Politikum. Denn Bayreuth war Stammsitz der fränkischen Hohenzollern und hatte mit der glorreichen Zeit der Markgräfin Wilhelmine (1709–1758), Schwester Friedrichs des Großen, eine deutliche preußische Note. Hätte sich Ludwig II. auf den Vorschlag seines Künstlerfreundes eingelassen, wäre das ein klares Verständigungszeichen gegenüber Bismarck gewesen. Das aber kam für den Regenten in dieser Situation nicht in Frage.

Der König ließ sich von Wagner gleichwohl überzeugen, den fränkischen Teilen seines Herrschaftsgebietes mehr Aufmerksamkeit als bisher zu schenken. Ehemals selbständige Gebiete wie die Bistümer Bamberg und Würzburg, die reichsfreie Stadt Nürnberg oder das Markgraft um Bayreuth-Ansbach gehörten erst seit wenigen Jahrzehnten zur Krone, die Integration war noch keineswegs abgeschlossen. Franken war vom Krieg 1866 besonders schwer gebeutelt worden. Im Spätherbst unternahm Ludwig II. eine Reise durch die zerstörten Gebiete, er besuchte unter anderem Bayreuth, Hof und Schweinfurt. Die Reise des menschenscheuen Monarchen kam erst auf intensives Zuraten der bayerischen Minister und Wagners zustande – und wurde ein Triumphzug für Ludwig II.123 Zuvor schon hatte der Komponist seine Liebe zu Nürnberg entdeckt und siedelte dort seine einzige historische Oper an, die 1868 vollendeten Meistersinger. In besagtem Brief an Bülow von Februar 1866 notierte er: „Dass dieser eigentliche wahre u. einzige ‚deutsche‘ Kunstsitz, das protestantische Nürnberg – zur bayerischen Krone gekommen ist, und dadurch in die Domäne meines katholisch-enthusiastischen Königsfreundes geraten, ist wunderbar bedeutend“. Wagner will dort eine Kunstschule ansiedeln, die „deutsch und unjüdisch“ ist.124 Als er vor dem Krieg ein deutsches Bündnis anregt, in das auch Preußen und Österreich gezwungen werden, will er die Fürsten in Nürnberg versammelt sehen.125 Und die Festwiese der Meistersinger, in denen merkwürdigerweise kaum Politik vorkommt, wird von Udo Bermbach als ein in die Natur verlegtes Amphitheater, ein sich im Naturzustand befindliches Bayreuth interpretiert.126

Markgräfin Wilhelmine spielte auch bei der Entscheidung für Bayreuth als Festspielstadt eine Rolle. Nachdem sich die Münchner Theaterpläne Ludwigs II. zerschlagen hatten, wurde Wagner zuerst von Hans Richter, dem späteren ersten Ring-Dirigenten, auf die Stadt aufmerksam gemacht.127 Im Zusammenhang mit dem Diktat von Mein Leben stieß Wagner dann am 5. März 1870 erneut auf Bayreuth. Laut ihrem Tagebuch ermunterte Cosima ihren Mann, im Konversationslexikon den Artikel „Baireuth“ zu lesen. Diesen Ort habe Richard zuvor „genannt als den, den er wählen wollte, zu unsrer Freude lesen wir unter den Gebäuden ein prachtvolles altes Opernhaus darin aufgeführt!“128 Was mit Wagners „Wahl“ gemeint ist, wird nicht deutlich. Auch bleibt es ein Rätsel, wie er geglaubt haben kann, dass das Markgräfliche Opernhaus, ein typisches logengeprägtes Hoftheater aus dem 18. Jahrhundert, für seine Zwecke geeignet sein könnte. Es ist irritierend, dass der Komponist in Betracht gezogen hat, hier den Ring aufzuführen. Erst ein Jahr später fuhren die Wagners nach Bayreuth und überzeugten sich an Ort und Stelle, dass Wilhelmines Bauwerk als Festspielbühne nicht in Frage kam. Wie „unmöglich muss es dünken Siegfried und Wotan inmitten von Amoretten, Muscheln“ und dem „Apparat des 18ten Jahrhunderts auftreten zu lassen“, schrieb Cosima.129 Bei den ersten Festspielen 1876 wurde der barocke Prachtbau lediglich als Probenbühne verwendet.130 An der Stadt Bayreuth allerdings blieb das Herz der Wagners sofort hängen. Richard kleidete die Entscheidung später in eine kleine Ideologie: „In Deutschland ist wahrhaft nur der ‚Winkel‘, nicht aber die große Hauptstadt produktiv gewesen.“131 Selbst ein entschiedener Wagnerkritiker wie der Schriftsteller und Journalist Paul Lindau musste anerkennen: Bayreuth sei ein bescheidenes Fleckchen Erde, „das von den großen Verkehrsstraßen ganz abseits liegt und niemals zufällig berührt, sondern immer nur absichtlich erreicht wird“.132

Wagners Welttheater

Подняться наверх