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Literatur mit Lücken
ОглавлениеDass politische Faktoren bei der Betrachtung von Wagner und Bayreuth tendenziell vernachlässigt werden, spiegelt sich auch in der Forschungssituation. Die Literatur zum Thema schwankt zwischen ausschweifendem Reichtum und einer Reihe irritierender Erkenntnislücken. Der Komponist selbst zählt zu den meistbeschriebenen Männern der Weltgeschichte – hinter den Bücherstapeln ist seine Persönlichkeit kaum mehr erkennbar. Die Fülle der Literatur lässt an das berühmte Bonmot Karl Valentins denken, wonach bereits alles gesagt sei, nur noch nicht von allen. Die Graphomanie, also die Schreibwut, ist nach den Worten von Max Nordau „ein charakteristisches Krankheitssymptom Wagners und der Wagnerianer“.58 Doch es gibt Lücken. Analog zur Apologetik hat die zeitgeschichtliche und kulturhistorische Forschung sowohl die ideologische Wirkungsgeschichte des Komponisten als auch die politischen Implikationen der Bayreuther Festspiele bisher nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt. Es gebe bei Wagner Erkenntnislücken, konstatierte John Deathridge noch in den 1980er Jahren, „weil dem Zusammenhang Musik und Ideologie in der Regel eindringliche wissenschaftliche Untersuchungen verweigert werden“.59 „Was nach wie vor fehlt“, so Joachim Fest bei der Elmauer Tagung „Richard Wagner im Dritten Reich“ im Sommer 2000, „sind verlässliche Abhandlungen zur historischen Seite hin oder, mit einem anderen Wort: Arbeiten zur Grundlagenforschung.“ Er konstatierte zugleich „die herrschende Vernachlässigung der politischen Wirkungen Wagners“.60 Was den politischen Komponisten Wagner angeht, hat Udo Bermbach mit seinen umfangreichen Arbeiten diese Lücke inzwischen geschlossen.61 Doch das gilt nicht für Bayreuth selbst. In der bisher einzigen umfassenden Monographie zur Festspielgeschichte stellt Frederic Spotts lediglich oberflächliche Verbindungen zur deutschen Politik her.62 Auch in anderen wichtigen Veröffentlichungen sind der zeitgeschichtliche Hintergrund sowie Fragen nach Kontinuitäten und Brüchen in der Geschichte des Unternehmens und seinen Beziehungen zum jeweiligen Staatswesen deutlich unterthematisiert.
Selbst das Thema „Wagner im Dritten Reich“, das in der Öffentlichkeit seit Jahrzehnten auf nachhaltiges Interesse stößt, markierte in der Fachwelt erstaunlicherweise lange Zeit eine „schmerzliche Forschungslücke“ (Jörn Rüsen)63. Eine historische Analyse der Festspielgeschichte in der NS-Zeit fehlt ebenso wie eine politische Biographie über den Bayreuther Chefpropagandisten Chamberlain – englischsprachige Publikationen über ihn sind nicht übersetzt worden64 – oder die Hitlerfreundin Winifred. Dass ein Mann wie Hans Frank, später Generalgouverneur in Polen und als Kriegsverbrecher hingerichtet, in den 1930er Jahren Dauergast in Wahnfried und dort mit der Haushälterin liiert war, wird von der Forschung bisher so gut wie vollständig negiert.65 Die derzeit bestimmenden Wagnerdiskussionen zielen zum einen auf den antisemitischen Gehalt der Opern sowie zum anderen auf die Frage, ob die starke Vereinnahmung des Komponisten durch den Nationalsozialismus im Wesentlichen auf ihn selbst oder aber auf ein verfälschendes Wirken seiner Nachkommen und Anhänger zurückzuführen sei – als habe die Macht des Zeitgeistes gleichsam über das Vermächtnis des „Meisters“ gesiegt.66 Beide Themen sind eng mit den historischen Voraussetzungen des Massenmordes an den europäischen Juden verknüpft – und berühren zugleich die Bayreuther Vergangenheit und Gegenwart.67 Sind Figuren wie Mime oder Beckmesser antisemitisch gemeint? Denkt Wagner in seinen Schriften die physische Vernichtung der Juden vor? Welcher Zusammenhang besteht zwischen der religioiden Wagnerverehrung und dem antidemokratischen Führerprinzip? Warum andererseits beruf sicht Adolf Hitler bei seinen antisemitischen Tiraden nicht stärker auf sein Vorbild Wagner?
Solche Fragen lassen sich nicht allein rational-wissenschaftlich beantworten, sondern müssen auch wirkungsgeschichtlich betrachtet werden. Der leidenschaftliche Wagnerianer Thomas Mann, dessen Hinweise auf den hochpolitischen Charakter des Komponisten und seiner Bedeutung für die Nachwelt lange Zeit nicht genug Resonanz fanden, schrieb 1949, es sei „viel ‚Hitler‘ in Wagner“.68 Diese Bemerkung war allerdings eher auf die vergleichbaren Charaktere und Persönlichkeitstypen als auf politisch-ideologische Gemeinsamkeiten gemünzt.69 So hat Joachim Köhlers These, bei dem Komponisten und dem Massenmörder handele es sich um „Prophet und Vollstrecker“, in der Forschung denn auch nur geringen Zuspruch gefunden.70 Ebenso wenig allerdings lässt sich Wagners Nachwirkung einfach von der deutschen Katastrophe des 20. Jahrhunderts trennen. Hubert Kolland kommt zu dem Ergebnis, die Faschisten hätten „in Wagner und dessen Werke weit mehr hineinprojiziert als aus ihnen herausdestilliert“.71 Doch gerade an der Entwicklung des Grünen Hügels lässt sich ablesen, dass der Nationalsozialismus kein „Betriebsunfall“ war, sondern tief in der kulturell-geistigen Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert wurzelte. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wagner und Hitler muss unvoreingenommen und ergebnisoffen gestellt werden. Bayreuth spielt dabei als Bindeglied eine entscheidende Rolle, denn Wagners Denken wurde erst durch die Bayreuther Ideologie für die NS-Bewegung greifbar. Wer die Folgen der politischen Prägung Wagners für die Entwicklung der Festspiele in den Blick nimmt, muss umgekehrt die Frage stellen, wie weit Wagner erst durch den wichtigsten Ort seiner Wirkungsgeschichte zu dem wurde, was er ist. Ohne Bayreuth gäbe es zwar immer noch den berühmten Opernkomponisten Richard Wagner, seine Weltanschauung hätte aber keine auch nur annähernd vergleichbare Wirkung entfaltet. „Hätte Wagner nur kunstphilosophische, kulturpolitisch-politische Schriften hinterlassen“, fasst Wolfgang Altgeld zusammen, „so würde kaum jemand zögern, ihn zu den kulturpessimistischen und entschieden antimodernistischen Vorläufern deutsch-völkischer Weltanschauung zu zählen, ihm dann aber auch keine besondere Wegbereiterfunktion zuordnen wollen.“72 Dass die Wagnerbewegung im Kaiserreich nicht als Rinnsal wieder versickerte, führt Hildegard Châtellier in erster Linie auf die „permanente Reaktualisierung eines weltanschaulichen Fundus im Medium der Kunst“73 zurück – genau diese Funktion übte Bayreuth aus. Vor diesem Hintergrund überrascht es wenig, dass die bleibenden Vorbehalte in Israel gegen Wagnermusik weniger auf den antisemitischen Komponisten selbst als vielmehr auf ein „Anti-Bayreuth-Syndrom“ (Yirmiyahu Yovel)74 zurückgeführt werden, das sich gegen die Tradition der Festspiele „als Heiligtum, als Wagner-Kultstätte, als Ziel von Pilgerfahrten, und eben nicht als gewöhnlicher Aufführungsort für Musik“ richtet.