Читать книгу Wagners Welttheater - Bernd Buchner - Страница 8
Spiegel der deutschen Geschichte
ОглавлениеBei den Bayreuther Festspielen sind Kunst und Politik gleichsam naturgemäß miteinander verschmolzen. Durch die Wahl seiner Opernstoffe und durch sein öffentliches Wirken „zwischen Barrikade und Walhalla“ (Dieter David Scholz)37 trug Richard Wagner wesentlich zur Politisierung von Kultur und zur Ideologisierung von Politik im 19. Jahrhundert bei. Von höchsten politischen Kreisen gefördert, war der Grüne Hügel das künstlerische Symbol des jungen deutschen Kaiserreichs – obwohl der Inhalt der Ring-Tetralogie kaum als „ästhetischer Gründungsmythos des Reichs“ taugte (Thomas E. Schmidt)38, vielmehr quer zum Zeitgeist des ausgehenden 19. Jahrhunderts zu stehen schien, und obwohl es nicht gelang, das Festspielhaus durch geregelte öffentliche Förderung in den Rang eines Nationaltheaters zu erheben. Die Diskrepanz zwischen einem privaten Unternehmen und einer nationalen Einrichtung sollte die Geschichte der Bayreuther Festspiele in den kommenden Jahrzehnten prägen. Doch bereits die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen der Festspielgründung und deren unmittelbare Folgen zeigten, dass das Unternehmen mehr war als ein Tempel des Musiktheaters. Es war ein Abbild der gesellschaftlichen Zustände in Deutschland.39 In der Geschichte des Grünen Hügels spiegele sich die deutsche Geschichte, so Udo Bermbach, „und die Geschichte der Festspiele ist fest verbunden mit der allgemeinen deutschen Geschichte“.40
Auch Wagners Opern boten immer wieder Gelegenheit zu historischen Analogien. Umstandslos setzt etwa George Bernard Shaw die deutsche „Sattelzeit“ zwischen der Revolution von 1848 und der Reichsgründung mit dem Kampf zwischen Wotan und Siegfried im Ring gleich.41 John Maynard Keynes notierte nach 1918, manchmal möge man glauben, kein einziger Mann trage so viel Verantwortung für den Krieg wie Wagner, und fährt fort: „[W]ar nicht eigentlich Hindenburg nur der Bass und Ludendorff der fette Tenor einer drittklassigen Wagner-Oper?“ 42 Ein ähnliches Gefühl beschlich Carl von Ossietzky, als er nach Hitlers Machtübernahme notierte: „Zum zweiten Mal soll aus Deutschland eine Wagneroper werden.“ 43 Wie umgekehrt aus einer Wagneroper ein Panoptikum der deutschen Geschichte werden kann, zeigte jüngst Stefan Herheim mit seinem bemerkenswerten Parsifal in Bayreuth.44 Die Festspiele selbst wurden durch den Zusammenhang von Kunstschaffen, Politik und Ideologie sowie durch ihr institutionelles und ökonomisches Fortbestehen über die politischen Brüche hinweg – vom Kaiserreich bis zur frühen Bundesrepublik – zu einem kulturellen Spiegel der jüngeren Geschichte des Landes. Im Mikrokosmos des Grünen Hügels zeigen sich viele Strukturen, Ereignisse und Entwicklungen, die in der großen Politik auftauchten. Bayreuth ist eine Probebühne für Deutschland. Es sei selten, schrieb Wagners Urenkel Wolf Siegfried zum hundertjährigen Bestehen der Festspiele 1976, „dass die Geschichte einer Familie so identisch ist mit der Geschichte eines Theaters; es ist selten, dass die ‚Innenseite‘ einer Familie die ‚Außenseite‘ der Geschichte, ihre geistigen, kulturellen und politischen Veränderungen so widerspiegeln kann, wie es hier der Fall ist“.45 Hans Mayer bringt diese Tatsache auf die prägnante Formel: „Wer eine Zusammenstellung versucht der Familiengeschichte Wagners, der Festspielgeschichte und der Kunstgeschichte von 1876 bis zur Gegenwart, schreibt zugleich deutsche Geschichte und Welthistorie.“ 46
Nach Wagners Tod im Jahr 1883 etablierte die Familie des Komponisten die Festspiele als Institution von nationalem Rang und internationaler Bedeutung. Die Witwe Cosima war die erste Frau an der Spitze einer herausragenden deutschen Kultureinrichtung. So „modern“ und vermeintlich emanzipatorisch Bayreuth sich hier gab, so reaktionär war das ansonsten vertretene politische Gedankengut. Unter Cosimas Ägide, die bis 1906 reichte, wurde der Grüne Hügel zum Anziehungspunkt der völkischen, rassistischen und antisemitschen Bewegung im Reich. Das Haus Wahnfried übernahm zudem in der ehemaligen Markgrafenstadt die geistige Herrschaft und wurde zum Ersatz des fehlenden Fürstenhofes. Der immense Einfluss Bayreuths auf das kulturelle Klima im ausgehenden 19. Jahrhundert ließ Adorno sogar von Zügen einer „Nebenregierung“ sprechen, „die an den späteren Grundsatz gemahnen, dass die Partei den Staat befiehlt“.47 Die weltanschauliche Überformung des künstlerischen Schaffens unter dem Schlagwort des „Bayreuther Geistes“ setzte sich auch in der Ära des einzigen Wagnersohnes Siegfried fort, der wie seine Mutter im Jahr 1930 starb. Siegfrieds Schwager Houston Stewart Chamberlain (1855–1927) wurde zum herausragenden Propagandisten der Festspiele und des Wagnerkults. Die Verehrung für den Bayreuther Meister hatte längst religioide Züge angenommen, wie vor allem die jahrelange kulturpolitische Auseinandersetzung um die Frage zeigte, ob Richard Wagners letzte Oper, das „Bühnenweihfestspiel“ Parsifal, auch an anderen Orten als in Bayreuth gezeigt werden durfte. Politische, ideologische und ökonomische Motive waren in der Diskussion eng verknüpft. Einen radikalen Einschnitt in der Festspielgeschichte bildete der Erste Weltkrieg, der eine zehnjährige Pause auf dem Grünen Hügel nach sich zog und dem Unternehmen zunächst die wirtschaftliche Grundlage entzog.
Bereits 1924 gelang allerdings die Wiedereröffnung der Festspiele – sie stand von vornherein unter politischen Vorzeichen. Daraus machten nun auch Wagners Jünger keinen Hehl mehr. Deutschland sei ein „tragisches Lokal“, notierte Hans von Wolzogen (1848–1938), langjähriger Schriftleiter der Bayreuther Blätter, nach dem Ersten Weltkrieg: „Eingezwängt zwischen bedrohlichen Nachbarschaften muss es stets auf der Wacht sein und darf bei all seiner unpolitischen Eigenart die Politik leider nicht vergessen.“ 48 Bayreuth stellte sich unmissverständlich an die Spitze des Kulturkampfes gegen die Weimarer Republik, trug mit seinem organisatorischen und publizistischen Umfeld erheblich zur Nazifizierung Deutschlands bei und wurde bereits lange vor dem „Dritten Reich“ zu einem repräsentativen Ort der NS-Propaganda sowie zu „Hitlers Hoftheater“, so die berühmte Formulierung Thomas Manns.49 Deshalb ist das Jahr 1933 auch kein herausragender Bruch in der Festspielgeschichte. Eine viel stärkere Zäsur bedeutete für Bayreuth das Jahr 1930, als binnen weniger Monate Cosima und Siegfried starben – just in dem Jahr, in dem in Deutschland mit den Präsidialkabinetten vorerst die parlamentarische Demokratie zu Ende ging. Die Leitung des Festspielunternehmens lag anschließend bis 1944 in den Händen von Siegfrieds Witwe Winifred Wagner, einer engen Freundin Adolf Hitlers. In ihrer Person verdichtet sich die Erkenntnis, wie weit Werk und Wirken Richard Wagners über reines Künstlertum hinausgingen. Winifreds Tätigkeit muss bei der Betrachtung der Festspielgeschichte im „Dritten Reich“ naturgemäß besondere Aufmerksamkeit gelten, ebenso der Frage der NS-Kulturpolitik gegenüber Bayreuth, die mit den sogenannten Kriegsfestspielen den Höhepunkt des staatlichen Zugriffs erreichte.
Der sektiererische, kultische Zug Bayreuths schwächte sich nach dem Zweiten Weltkrieg signifikant ab. Die Festspiele, nun unter Leitung der Enkel Wieland und Wolfgang, bildeten ihre vormals kämpferische Ideologie in eine passiv- aggressive Gesinnung um und verlegten sich ganz auf künstlerische Aspekte. Die scheinbar entpolitisierende Selbstumdeutung des Unternehmens zielte auf eine Anpassung an die politisch-kulturellen Normen der jungen Bundesrepublik. Deren Mustern entsprach auch die spezifische Bayreuther Vergangenheitsverdrängung, die es mit sich brachte, dass die alten Nationalsozialisten nach Wiedergründung der Festspiele 1951 viele Jahre weiterwirken konnten. Erst spät schrieben in den Programmheften auch herausragende Linksintellektuelle wie Adorno, Bloch, Foucault oder Lévi-Strauss. Beim Parsifal 1982, ein Jahrhundert nach Uraufführung des Bühnenweihfestspiels, stieß Hans Küng die „Weltethos“-Diskussion an.50 Dass es in Neubayreuth über den künstlerischen Bruch mit der Vergangenheit hinaus keine oder nur eine reichlich verspätete Entnazifzierung der Festspiele gab, machte aus dem Ort einen „Mikrokosmos der Bundesrepublik“ (Frederic Spotts)51. Politische Momente für die Wagner-Festspiele brachten auch der Ost-Welt-Konflikt, die Gründung der Festspielstiftung 1973, die aus einem bis dato privaten ein öffentliches Unternehmen machte, sowie das hundertjährige Bayreuth-Jubiläum mit Patrice Chéreaus legendärer Ring-Inszenierung mit sich. Trotz des erbittert geführten Familienkampfes um die Nachfolge von Festspielleiter Wolfgang Wagner konnten sich die Festspiele bis in die jüngste Gegenwart hinein ihren weltweit einzigartigen Ruf bewahren, wobei künstlerische Qualität, wirtschaftlicher Erfolg und politische Bedeutung Bayreuths in einem eigentümlichen Verhältnis stehen.
Der Zusammenhang zwischen Kunst und Politik liegt mit Blick auf die Festspiele zwar auf der Hand, wird aber von Wagner-Apologeten bis in die Gegenwart hinein gerne bestritten. Gleichermaßen neigen sie dazu, den ideologischen Gehalt des ästhetischen Materials in den Opern des Komponisten zu negieren.52 Die These von den unpolitischen Festspielen geht im Kern auf die deutschnationale Ideologie Chamberlains und seiner Adepten zurück, während die kosmopolitische Wagnerdeutung in der Nachfolge von Nietzsche, Charles Baudelaire und George Bernard Shaw die politischen Bezüge sehr viel früher und mit deutlich weniger Scheu thematisierte.53 Weil Wagner ein hochpolitischer Künstler war, wurde Bayreuth ein politischer Ort. Unfreiwillig komisch musste es deshalb wirken, wenn im Festspielhaus von Zeit zu Zeit auf Schildern unter dem Meistersinger-Motto „Hier gilt’s der Kunst!“ gebeten wurde, keine nationalistischen Lieder zu singen oder auf politische Diskussionen ganz zu verzichten. Im Zusammenhang mit Hans-Jürgen Syberbergs berüchtigtem Winifred-Film von Mitte der 1970er Jahre, in dem sich die ehemalige Hügel-Chefin ihrer Freundschaft mit Adolf Hitler rühmte, erklärte Wolfgang Wagner gar: „Seit 1951 ist die Politik hier im Festspielhaus weggewischt.“54 Der Festspielleiter räumte damit zwar immerhin ein, dass es zuvor nicht immer ganz sauber zugegangen war. Doch der Meistersinger-Satz, so Stefan Bodo Würffel, diene „bis heute dazu, die Wirkungsgeschichte vom Werk zu trennen, als wären die zwei paar Stiefel nicht gemeinsam marschiert“.55 Von Anfang an, stellt Dietrich Mack fest, „scheinen bei Wagner Werk und Wirkung nicht nur einen legitimen, sondern einen inzestuösen Bund eingegangen zu sein, dem mit Logik kaum beizukommen ist.“56 Deshalb ist es im Fall des Komponisten notwendig, die Zusammenhänge zwischen künstlerischem Ausdruck und politischer Wirkung sichtbar zu machen. „Selbst der radikalste Ästhetizismus ist nicht politikfrei, und die Apolitie reiner Innerlichkeit ist selber ein Politikum“, so der Wagnerforscher Jörn Rüsen.57