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„Weltabschiedswerk“ und Weltabschied

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Enttäuschung, Depression, Flucht- und Auswanderungsgedanken: Wagner litt nach 1876 offenbar auch am Verlust einer Naherwartung, ähnlich wie es die ersten Christen empfunden haben müssen, als die Wiederkunft des Messias ausblieb. „Zwischen Idee und Wirklichkeit“, zitiert Frederic Spotts in seiner Festspielgeschichte den US-amerikanischen Dichter T. S. Eliot, „zwischen Antrieb und Tat fällt der Schatten.“251 Der Komponist musste einsehen, dass sich seine Pläne nicht so hatten verwirklichen lassen, wie er es sich erträumt hatte. Seine Festspielidee war unzureichend umgesetzt. „Bayreuth“, so Udo Bermbach, „war für Wagner von allem Anfang an eine gesellschaftspolitische Aufgabe, nicht irgendein Festspielhaus, sondern ein Ort, an dem sich die revolutionäre Erneuerung der Gesellschaft ein Stück weit vollziehen sollte.“252 Wagners Enkel Beidler sieht in der mangelhaften Verwirklichung der künstlerischen Ideale schlicht „Resignation“ und den Verzicht auf die tragenden, der revolutionären Gedankenwelt von 1848 entstammenden Teile des Festspielgedankens.253 Dies lässt sich auch differenzierter sehen. Wagners eigene Vorstellungen hätten sich mit den Jahren je nach den Umständen geändert, konstatiert Bermbach, „bis sie am Ende mit der Grundsteinlegung des Bayreuther Festspielhauses in Lage, Architektur und Aufführungspraxis an die frühen revolutionsinspirierten Vorstellungen der fünfziger Jahre erneut anknüpften, hinsichtlich der Finanzierung und der sozialen Zusammensetzung des Publikums sich aber weit davon entfernt hatten“.254 Gerade die Bayreuther Besucher, die Wagner mit „Volk“ und „Nation“ gleichsetzte, zeigten ihm sein Scheitern an: „Es war ein, von den Künstlern abgesehen, eher politisch konservativ eingestelltes Publikum, das an einem nationalen Ereignis teilhaben und einem Künstler mit revolutionärer Vergangenheit nahe sein wollte, der befreundet war mit einem verrückten König, ein Ehebrecher und Schuldenmacher, der den Staat und die Gesellschaft seiner Zeit herausgefordert und sich am Ende doch gegen alle Widerstände mit seinen Plänen durchgesetzt hatte.“255 Dennoch zählte für Wagner letztlich die bloße Verwirklichung seiner Idee mehr als alle verwässernden Modifikationen. Lore Lucas sieht in dem Komponisten eine Mischung aus Durchsetzungsvermögen und Anpassungsfähigkeit: „Ohne ein solches Maß von Selbstbewusstsein, unermüdlicher Werbung in eigener Kunst, Kaltblütigkeit im Planen wie in materiellen Belangen, ohne jenes Maß von Opportunismus wäre Bayreuth als Erfüllung des Festspielgedankens weder denkbar gewesen noch möglich geworden.“256

Wagners desperate Haltung gegenüber Reich und Deutschland war schon vor den ersten Festspielen deutlich erkennbar. Seine „zunehmende Verkrampfung“ (Winfried Schüler)257 seit der Reichsgründung sollte sich später bei den Bayreuther Jüngern zum Dogma verengen. Als ihm Plüddemann 1875 in Berlin sagte: „Die Deutschen haben Sie im Stich gelassen“, antwortete er: „Es gibt keine Deutschen, wenigstens sind sie keine Nation mehr; wer dies dennoch meint und sich auf ihren Nationalstolz verlässt, wird zum Narren.“258 Die Querelen um die Finanzierung der Festspiele und deren künstlerischen Rang, aber auch die Bayreuther Verbürgerlichung hatten dem Künstler offenbar nicht gutgetan. Die Euphorie war künstlich, die Depression echt. Deren Ausdruck war auch eine politische Radikalisierung. Zeugnis davon gibt die 1878 erfolgte Gründung der Bayreuther Blätter, die später wesentlich zur weltanschaulichen Ausprägung des Grünen Hügels beitragen sollten. Wagner erschien die völkisch und antisemitisch gestimmte Zeitschrift als zukunftsweisendes Projekt, als politisches Zentralorgan der Festspiele. Schon in einer der ersten Ausgaben schrieb Constantin Frantz auf seinen Wunsch hin einen offenen Brief als Antwort auf dessen Frage „Was ist deutsch?“ Darin stellte der Preußenhasser Frantz die ehrwürdige Tradition des alten Reiches dem banal-realpolitischen Machtstaat bismarckischer Prägung gegenüber. Deutschland müsse wegen seiner Mittellage dem Gesetz des Ausgleichs und damit dem Föderalismus dienen. Die „wahre deutsche Politik“, die Metapolitik, werde „der deutschen Kunst auch erst die rechte Stätte bereiten, wie andererseits die Kunst die Politik beflügeln wird zu immer höherem Aufschwung“.259 Die von Bayreuth bestellte antipreußische Philippika fiel zu allem Unglück mit einem Attentat auf den Kaiser zusammen und sorgte in dem aufgeheizten politischen Klima für heftige Proteste auch unter Wagnerianern. Zahlreiche Mitglieder des Berliner Wagner-Vereins traten nach Erscheinen des Beitrags aus.260 Der Komponist selbst äußerte sich kaum weniger scharf als Frantz, wenn auch nicht öffentlich: „So schnell haben es sich allerdings wohl nur wenige gedacht, dass die Öde des preußischen Staatsgedankens uns als deutsche Reichsweisheit aufgedrängt werden sollte!“261

Politisch-ideologische Radikalisierung und die sogenannte Regeneration, der Hauptbegriff der Bayreuther Ideologie, gingen in Wagners letzten Jahren Hand in Hand. Unter Regeneration verstand er eine rassisch-biologische Erneuerung der Menschheit. In Heldentum und Christentum lehnte er zunächst eine „Erreichung voller Gleichheit“ entschieden ab, eine klare Rücknahme seiner frühen Forderungen.262 Ebenso heftig wandte er sich gegen Demokratie und Parlamentarismus. Auch sein Antisemitismus verschärfte sich und wurde durch die Bekanntschaft mit dem Schriftsteller Joseph Arthur de Gobineau (1816–1882) zunehmend rassistisch aufgeladen. Im Dezember 1877 beklagte sich Wagner über die „Großzüchtung des Judentums im deutschen Volksleibe“, die Bismarck nicht verhindert habe; ferner über das „unsägliche Elend“, das die Juden über das deutsche Volk gebracht hätten.263 Auf Deutschland allerdings wollte er später auch nichts mehr geben, während er sich in Politikverachtung erging, wie seine Frau in ihrem Tagebuch vermerkte: „[E]r würde sich nie mehr entschließen können, ein Wort über Politik zu sagen“.264 Derlei Bemerkungen meinte Wagner freilich nie ganz ernst, oder in „heftigem Scherz“, wie Cosima sich auszudrücken pflegte. Selbst dem verhassten Sozialismus, dem Bismarck die Schranken aufzuweisen versuchte, konnte der Komponist in dieser Weise Sympathie bekunden. Die Führer der Bewegung, äußerte er laut Cosima, seien gewiss konfuse Menschen „und vielleicht auch intrigante, der Bewegung selbst aber gehört die Zukunft, umso mehr, als wir nichts wissen, um sie aufzuhalten, als törichte Repressionsmaßregeln“.265 Zwei Jahre später hält Wagners Frau fest: „R. sagt, er habe gegen die Commune, bei welcher gewiss sehr rechtschaffende Wesen gewesen wären, das Kindische derselben einzuwenden, zu glauben, dass die Macht des Besitzes, die seit Kain und Abel bestünde, auf diese Weise zu erschüttern sei.“266 Ob Scherz oder altersdepressiver Ernst, ist beim späten Wagner schwer zu unterscheiden. Er glaube nicht mehr an „unsere Musik“, schreibt er 1882 an den Wormser Fabrikanten und engen Wahnfriedfreund Friedrich von Schön (1849–1940), und „sollte unseres Freundes, des Grafen Gobineau Prophezeiung, dass in zehn Jahren Europa von asiatischen Horden überschwemmt und unsere ganze Zivilisation nebst Kultur zerstört werden möchte, in Erfüllung gehen, so würde ich mit keinem Auge zucken, da ich annehmen dürfte, dass dabei vor allen Dingen auch unser Musiktreiben zugrunde gehen würde“.267

Parsifal war Wagners „Weltabschiedswerk“, so seine eigene Bezeichnung.268 Schon zwei Jahrzehnte vor der Uraufführung hatte er in einem Brief an Bülow angekündigt, die Oper werde der Schluss seines Schaffens sein. Er sollte Recht behalten. Verbunden war mit der Oper, so Lore Lucas, „ein authentischer Akt der Umwertung des Festspielhauses zum Kunsttempel, einer Umwertung des weltlichen Festspiels zum religiösen Mysterium“.269 Das Bayreuther Christentum, das sich daraus entwickelte, sollte in der Geschichte des Grünen Hügels noch eine verhängnisvolle Rolle spielen. Doch Wagners Auffassungen zu religiösen Fragen sind geprägt von flagranten Missverständnissen, falschen Gewichtungen und bewussten Verdrehungen. Sein Christentum ist ohne Ostern und Himmelfahrt, wie Stephan Mösch festgestellt hat: Zielpunkt sei einzig der Karfreitag, die überbetonte Passion stehe für die „Überwindung des Wollens“.270 Falsch versteht der Komponist in Religion und Kunst auch die unbefleckte Empfängnis Marias, bei der es nicht um die jungfräuliche Zeugung Jesu geht, sondern um ihre eigene, die nach Lehre der Kirche ohne Erbsünde erfolgte.271

Bei Parsifal handelt es sich aus theologischer Sicht um Blasphemie, da in der Oper eine Reihe von christlichen Motiven ins Gegenteil verkehrt wird: Hier opfert der Sohn seinen Vater und nicht wie im Neuen Testament umgekehrt, der Gralskönig Amfortas ist im Gegensatz zu Jesus der einzige Sünder unter Reinen, und am Ende des ersten Aufzugs findet sogar die Rückverwandlung von Leib und Blut Christi in Brot und Wein statt – ein eklatanter Fall von Blasphemie in der Kunstgeschichte, was Opernhäuser bis heute nicht davon abhält, Wagners Letztling vorzugsweise am Karfreitag zu spielen und den Schabernack damit auf die Spitze zu treiben. In Religion und Kunst deutet Wagner das Abendmahl ergänzend als „letztes höchstes Sühnungsopfer für alles sündhaft vergossene Blut und geschlachtete Fleisch“.272 Vollkommen verquer ist seine Ansicht, Jesus habe in den Worten „Solches allein genießet zu meinem Angedenken“ den Übergang vom Fleischgenuss, der auf den kultischen Bereich beschränkt wird, zum Vegetarismus vollzogen. In der Unmöglichkeit, das Gebot einzuhalten, sieht er gar ein Zeichen für den Verfall von Christentum und Kirche. Das Wort „allein“ in dem angeführten Zitat ist übrigens eine Erfindung des Komponisten. Das Licht der Welt erblickte das religioide Schauspiel bei den zweiten Festspielen 1882. Es standen 16 Aufführungen auf dem Programm, die beiden ersten waren den Bayreuther Patronen vorbehalten. Am 29. August endeten die Festspiele. „Im dritten Akt, während der Verwandlungsmusik, kommt Wagner in den Orchestergraben, nimmt Hermann Levi den Taktstock aus der Hand und dirigiert das Werk zu Ende“, so Walter Bronnenmeyer. „Die letzte Tat im Festspielhaus.“273 Schon nach der zweiten Aufführung war Wagner bedeutungsreich vor den Vorhang getreten und hatte gesagt: „Hiermit nehme ich von Ihnen Abschied!“274

Wenige Monate später, am 13. Februar 1883, nahm der Komponist von der Welt Abschied. Schon nach der Parsifal-Premiere hatte ein Augenzeuge gesagt: „Sie werden sehen, Wagner stirbt. (…) Ein Mensch, der das geschaffen hat, was wir heute erlebt haben, kann nicht länger leben, der ist fertig, der muss bald sterben.“275 Wagners Tod in Venedig war der eines echten Künstlers. Von einer Herzattacke ermattet, sank er im Palazzo Vendramin auf einem Sofa hin, nachdem er mit Cosima noch einen heftigen Disput um eine vermeintliche Nebenbuhlerin geführt hatte. Die Witwe wich geschlagene 24 Stunden nicht von dem, was sterblich war an Richard Wagner. Sein Leichnam wurde in einer feierlichen Prozession zurück nach Bayreuth gebracht, wo der Komponist im Wahnfriedgarten die letzte Ruhe fand. Seinem Empfinden nach habe die Beisetzung jenem, dem sie gegolten, wenig entsprochen, erinnerte sich der Sänger Angelo Neumann (1838–1910), Intendant eines Wagnerensembles, an den 18. Februar 1883. „Mir war es, als hätte ein Gott uns verlassen: und alles, was da in Bayreuth geschah, hätte ebenso gut einem wackeren Bürger dieser Stadt gelten können. Die Größe, die Weihe, die Erhabenheit fehlte, in jener Stunde, wo wir Richard Wagner, der eine Welt geschaffen, der Erde übergaben.“276 Selbst alte Gegner wie der berühmte Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick (1825–1904) fanden indes respektvolle Worte: „Noch tief eingetaucht in die Erregung des Tages, wollten wir heute nur den so oft missdeuteten Sinn der ‚Gegnerschaft‘ richtigstellen und aussprechen, dass eine ‚faktiöse Opposition‘ nicht gegen Wagner besteht, sondern nur gegen die Wagnerianer.“277 Genau diese machten im Moment des Todes politisch mobil. Bei einem Kommers der Wiener Burschenschaften Anfang März wurden deutschnnationale und antisemitische Reden gehalten, die Theodor Herzl, den späteren Begründer des Zionismus, zum Austritt aus seiner Studentenverbindung bewogen. Organisiert hatte die Feierlichkeiten Georg Ritter von Schönerer (1842–1921), einer der radikalsten Antisemiten Österreichs. Im Moment von Wagners Tod standen Bayreuth und die Festspiele vor einer ungewissen Zukunft. Seinem Gönner Ludwig II. hatte der Komponist einmal geschrieben, er habe „nur einem sehr gewöhnlichen Theaterkind das Leben geschenkt; er habe nichts Besseres geschaffen als ein leeres Gefäß“.278 An Wagners Familie und Freunden, die in der Stadt zurückgeblieben waren, die schon jetzt die Wagnerstadt genannt wurde, lag es nun, das Gefäß zu füllen.

Wagners Welttheater

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