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Die Geburt der Festspiele aus dem Geiste der Bürgerlichkeit
ОглавлениеThomas Mann hat in Leiden und Größe Richard Wagners über den Komponisten geschrieben: „Er ist den Weg des deutschen Bürgertums gegangen: von der Revolution zur Enttäuschung, zum Pessimismus und einer resignierten, machtgeschützten Innerlichkeit.“133 Tatsächlich waren die Festspiele in Bayreuth auch das Ergebnis der Verbürgerlichung des romantisch geprägten Künstlers, der über Jahrzehnte hinweg ein unstetes Bohèmeleben geführt hatte. Dies erfolgte eher auf Druck der Verhältnisse als aus freiem Willen. Der Hausstand des Komponisten umfasste eine siebenköpfige Patchworkfamilie mit Kindern in überwiegend schulpflichtigem Alter, was einen dauerhaften Wohnsitz nahelegte. Die Festspiele wiederum setzten ein organisatorisch-institutionelles Grundgerüst voraus, samt Anbindung, wenn nicht Anbiederung an die örtlichen Gegebenheiten. Die Stadt Bayreuth schließlich erhoffe sich durch den Bau des Festspielhauses Aufträge für das heimische Handwerk und einen touristischen Aufschwung durch die zu erwartenden Gäste. Heute würde man das Mittelstandsförderung nennen. Nachdem Wagner in der Oper Die Meistersinger von Nürnberg seinen Frieden mit dem Bürgertum gemacht hatte und sich in Tribschen erstmals für längere Zeit sesshaft geworden war, wurde er in Bayreuth zum ersten Mal selbst Bürger.134 Die verspätete deutsche Nation, die erst in der Reichsgründung von 1871 eine staatliche Form erhielt, fand eine zeitgleiche Entsprechung im späten Habituswechsel des Künstlers.
Das damalige Bayreuth ist ein verschlafenes Beamtennest von rund 18.000 Einwohnern, dessen beste Zeiten weit über ein Jahrhundert zurückliegen. Die Stadt atmet eher den Geist der Gemütlichkeit von Jean Paul, des berühmten, viele Jahre in Bayreuth beheimateten Dichters – dessen umstürzlerisches Potential nimmt sie weniger zur Kenntnis, ganz zu schweigen von dem des hier geborenen Anarchisten Max Stirner, den Wagner übrigens sehr schätzte. Jean Paul hatte im Geburtsjahr des nachmaligen Komponisten prophetisch geäußert, „dass wir noch bis diesen Augenblick auf den Mann harren, der eine echte Oper zugleich dichtet und setzt“.135 Wagner wiederum hatte schon in seiner Pariser Elendzeit geschwärmt: „Deutscher zu sein ist herrlich, wenn man zu Haus ist, wo man Gemüt, Jean Paul und bayrisches Bier hat“.136 Nun war der Mann dort angekommen, wo er sich hingesehnt hatte, aber sein Prophet Jean Paul, Verfasser der sprachmächtig-fabulösen Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, dass kein Gott sei, hätte sich wohl nicht wenig gewundert über die grellen und gleichsam überkompensatorischen Akte von Bürgerlichkeit, mit denen die Wagners ihren Einzug in der Stadt illuminierten. Cosima, die frömmelnde Katholikin, trat am 31. Oktober 1872 mit ihren Töchtern demonstrativ zum Protestantismus über. Damit bildete die Familie auch konfessionell eine Einheit.137 Der Übertritt mag auch als konformistisches Zugeständnis an die neue Heimat gewertet werden: Bayreuth, einstige Residenz der fränkischen Hohenzollern, war weit überwiegend evangelisch. Der erste gemeinsame Gang zum Abendmahl war für Cosima ein feierlicher Akt: „Als wir uns umarmten, R. und ich, war es mir, als ob jetzt erst unser Bund geschlossen wäre, jetzt erst wir vereint wären in Christus“.138
Die endgültige Entscheidung für Bayreuth hatten Richard und Cosima beim Besuch der Stadt vom 17. bis 20. April 1871 getroffen. Die „Eigentümlichkeit und die Lage der freundlichen Stadt“ habe ganz seinen Wünschen entsprochen, schrieb der Komponist später.139 „Nun ein [privates] Haus finden“, notierte Cosima, „mit dem Schlossverwalter fahren wir überall herum, nichts konveniert ganz, also auch für uns bauen.“140 Die Villa Wahnfried am Rande des Hofgartens, für die Ludwig II. sukzessive 25.000 Taler – heute rund 725.000 Euro – aus seiner Privatschatulle beisteuerte, versetzt die Wagners in die Rolle von Großbürgern in einer Kleinstadt. Keine drei Wochen nach seinem Bayreuthbesuch kündigte der Komponist die ersten Festspiele für das Jahr 1873 an.141 Die Bayreuther Stadtväter hatten rasch und weitsichtig auf die Pläne des Komponisten reagiert – sie erkannten wohl instinktiv, welches Potential die Festspiele bargen. Der Magistrat bot Wagner zunächst ein Grundstück auf dem Stuckberg bei Sankt Georgen als Festspielort an.142 Als der Plan scheiterte, weil die Eigentümer ihre Grundstücke nicht hergaben, fand sich der Grüne Hügel. An Spott für das Vorhaben fehlte es schon damals nicht, zumal der Grüne Hügel zu Analogien einlud: Am gegenüberliegenden Roten Hügel befindet sich bis heute die Bayreuther Nervenheilanstalt. Ein bissiger Kommentator befand 1872 im Bayernkurier, ein Grund für die Wahl Bayreuths als Festspielort sei, dass „die Stadt eine sehr gute Irrenanstalt besitzt, so dass, wer bei viertägiger Wagnerscher Musik seinen Verstand verliert, dort gleich Unterkunft finden kann“.143 Für den Fall, dass es in Bayreuth zu verrückt zugehen würde, bewarben sich auch andere Städte um die Ausrichtung der Festspiele. Darunter waren Berlin, Baden-Baden, Darmstadt, Chicago und Bad Reichenhall, deren Stadtväter in völliger Verkennung der Dimension des Projekts auf die 25 Mann starke örtliche Kurkapelle verwiesen.144 Wagner selbst hatte als mögliche Alternative zu Bayreuth lediglich noch Straßburg erwogen, den Gedanken aber verworfen.145 Den Stadtvätern von Baden-Baden, die ihm den Bau eines Festspielhauses anboten, beschied der Komponist, er wolle auf keinen Fall für „badereisende Faulenzer“ spielen.146 Der Berliner Verein „Wagneriana“ offerierte dem Künstler 60.000 Taler, wenn er sein Projekt in die Reichshauptstadt verlegt. Das alles konnte den Bürger Wagner nicht mehr aus seinem Bayreuth fortlocken.147
Im Jahr der Reichsgründung glaubte der Komponist an die deutsche Sendung seiner Kunst und der bevorstehenden Festspiele. Er versuchte, sich national kompatibel zu machen, indem er den Ring als Nationaloper und sein Bayreuther Unterfangen als repräsentativ für das neue Reich proklamierte. Schon in einem Brief an Ludwig II. am 1. März 1871 bezeichnete der Komponist die Festspiele als „deutsches Nationalunternehmen“ und schrieb: „Haben wir nun den deutschen Leib gerettet, so gilt es jetzt, die deutsche Seele zu erkräftigen.“148 Den Kaisermarsch, Auftragswerk eines Verlags, brachte Wagner im gleichen Jahr zwar erst nach einigem Zögern zu Papier, dann aber mit Akribie und Pathos. Er verwendete Luthers Choral „Ein feste Burg ist unser Gott“ und ließ am Ende singen: „Heil! Heil dem Kaiser König Wilhelm“.149 Auch für eine etwaige Totenfeier für die gefallenen Soldaten des deutsch-französischen Krieges bot er eine Komposition an, der Vorschlag wurde abgelehnt.150 Hinter Wagners nationaler Ertüchtigung standen wohl nur zum kleinen Teil echte patriotische Motive. Vielmehr erhoffte sich der Tonsetzer für sein Unternehmen finanzielle Zuwendungen aus Berlin. In seiner ersten ausführlichen theoretischen Abhandlung zum Bayreuther Projekt, entstanden ebenfalls im Jahr der Reichsgründung, denunziert er das Theater der Gegenwart in altbewährter Manier als „undeutsch“ und unterstellt ihr eine Entartung des Geschmacks, um sodann Bayreuth als neuartige Theaterinstitution zu preisen.151 Diese würde „dem Organismus des deutschen Wesens, welcher sich gegenwärtig im wieder entstandenen deutschen Reiche politisch auszubilden im Begriffe ist, ganz vorzüglich entsprechen, da die in ihr wirkenden Kräfte stets den Teilen des Ganzen angehören würden.“152 Von der scharfen Unterscheidung „deutsch“ und „undeutsch“ rückte Wagner alsbald wieder ab, wenn er sich einen internationalen Anstrich seiner künstlerischen Pläne wünschte: „Den Charakter einer wahrhaft nationalen Unternehmung würde ich dieser auf eine freie Vereinigung begründeten in einem vorzüglichen Sinne auch dann noch zusprechen zu dürfen glauben, wenn außerdeutsche Freunde meiner Kunst sich zur Teilnahme an ihr meldeten“.153
Bei der Grundsteinlegung für das Festspielhaus am 22. Mai 1872 war von einer internationalen Prägung nicht viel zu spüren. „Wir geben mit diesem Bau nur den Schattenriss der Idee und übergeben diesen der Nation zur Ausführung als monumentales Gebäude“, hatte Wagner wenige Wochen zuvor an seinen Bayreuther Gewährsmann, den Bankier und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten Friedrich Feustel (1824–1891), geschrieben und damit den provisorischen Charakter des Gebäudes ebenso betont wie den nationalen Anstrich des Unternehmens.154 Bei der Feier selbst, zu der rund 1000 Fremde in die Stadt kamen, ein Drittel von ihnen Mitwirkende, äußerte er sich ähnlich.155 In einer Rede an der Baustelle sprach der Komponist von der Verheißung, „den Deutschen ein ihnen eigenes Theater zu gründen“.156 Die örtliche Presse berichtete über die Aufführung von Beethovens 9. Symphonie im Opernhaus, Wagner sei ein „musikalisches Feldherrntalent“, um dessen Taktstock sich die Musiker „wie um ein nationales Banner geschart“ hätten.157 Am Abend deutete der Komponist bei einer Rede im „Goldenen Anker“ den Stadtnamen Bayreuth, der so viel wie „Rodung der Bayern“ bedeutet: „[W]ir sind hier beim Ort, wo man das Unkraut ausrottet und wie man einst den Wald hier gereutet hat und gepflanzt eine liebliche Stadt, so wollen auch wir hier ausreuten die fremdländische Aftermuse, die Zerrbilder der Kunst“.158 Jeder kunstsinnige Ausländer musste Bemerkungen wie diese als eine Aufforderung empfinden, Bayreuth eher zu meiden.
Für die Realisierung des Projekts waren immense Geldsummen notwendig. Vor allem aus diesem Grund sprach Wagner von einer nationalen Aufgabe und bemühte sich intensiv um Mittel. Überall im Reich und darüber hinaus wurden Richard-Wagner-Vereine ins Leben gerufen.159 Auch in Berlin hatte sich bald herumgesprochen, dass der Protégé des bayerischen Monarchen mit der Sammelbüchse unterwegs war. Die Baronin Spitzemberg notierte in ihr Tagebuch: „Freitag abend sollten wir zu Frau von Schleinitz, wo Richard Wagner den Text zu seinen ‚Nibelungen‘ vorlesen soll. Carl hatte aber wenig Lust dazu, und obendrein fürchteten wir, die Sache möchte mit einer Geldsammlung für Bayreuth enden, wozu wir keineswegs geneigt wären.“160 In Theodor Fontanes Novelle L’Adultera gibt es eine Passage über Wagners Musik und Persönlichkeit sowie die berühmte Fähigkeit des Komponisten, Menschen für seine Projekte einzunehmen und dafür um Geld zu bitten. Wagner wird ironisch als „Ritter von Bayreuth“ und „Hexenmeister“ bezeichnet.161 1873 gerieten die Vorbereitungen der Festspiele deutlich ins Stocken. Börsenkrach und Finanzkrise wirkten sich bis Bayreuth aus.162 Ende des Jahres hatte Wagner seine Pläne schon fast aufgegeben. An seinen Mannheimer Förderer, den Musikalienhändler Emil Heckel (1831–1908), schrieb er: „Ich will die noch offenen Seiten des Festspielhauses mit Brettern zuschlagen lassen, damit sich doch wenigstens die Eulen nicht darin einnisten, bis wieder weitergebaut werden kann.“163 Heckel schlug vor, über den badischen Großherzog an Kaiser Wilhelm I. heranzutreten, um die Festspiele als Friedensfeier des Reiches fördern zu lassen. Friedrich I. lehnte indes eine Vermittlung ab, weil er eine negative Antwort aus Berlin fürchtete.164 Bismarck war von Wagner wiederholt angeschrieben worden, sah aber keine Veranlassung, das Unternehmen zu unterstützen. Er verwies ihn an den Reichstag – was der durchaus antiparlamentarisch gesinnte Komponist als „Zumutung“ empfand.165 Der Reichskanzler, so vermuteten Zeitgenossen, habe sich in dieser Angelegenheit deshalb zurückgehalten, weil er nicht in die bayerischen „Jagdgründe“ habe einbrechen wollen.166 Schon vor der ersten Vorstellung waren die Festspiele in den Dualismus zwischen Kaiserreich und bayerischer Monarchie hineingeraten.
Schließlich war der große Moment gekommen: Die Festspiele begannen. „Wenn im Jahre 1876 der deutsche Tondichter Richard Wagner die Fürsten und die Prominenz Europas nach Bayreuth einlädt, um im eigenen Festspielhaus sein Lebenswerk vorzuführen – ist das die Erfüllung des größten und mutigsten Künstlertraumes aller Zeiten, oder ist es das verwegene Abenteuer eines Größenwahnsinnigen?“167 Die Frage von Lore Lucas ist nicht einfach zu beantworten. Bei der Eröffnung des Theaterrestaurants am 1. August sagte Wagner, auf den Enthusiasmus der Künstler könne man „künftig Staaten gründen“.168 Während der Festspiele, bei denen Siegfried und Götterdämmerung uraufgeführt wurden und die Tetralogie drei Mal komplett zu sehen war, standen Künstlerträume und Größenwahn nicht im Vordergrund. Es dominierten praktische Probleme. Bayreuth war vom Ansturm der Gäste vollkommen überfordert, es gab zu wenig Quartiere und nicht genug Essen und Getränke. Die angereisten Wagnerianer mussten sich zwar um Schnitzel prügeln, konnten aber Siegfriedhüte, Nibelungenmützen oder Wagnerkrawatten kaufen.169 „Die Nibelungenmütze“, schrieb Paul Lindau mit beißendem Sarkasmus, „zeichnet sich nur durch ihre geschmacklose Form aus; die Wagnerkrawatte unterscheidet sich von anderen Krawatten auf den ersten Blick durch gar nichts, nimmt man aber diese Krawatte liebevoll in die Hand und besieht sie sich genauer, so bemerkt man unter dem Stege, welcher den Zipfel festhält, eine schwarzseidene Schnur; zieht man an dieser Schnur, so öffnet sich die Krawatte, das Mittelstück schlägt sich auf und man erblickt in der Mitte medaillonartig von Seide eingefasst, die Photographie des Lenbach’schen Portraits von Richard Wagner. Der Wagner-Schwärmer kann also immer den Meister am Halse tragen, ohne dass der Profane dessen gewahr würde.“170
Im Zuge des Festspielauftakts entwickelte sich in der Wagnerstadt die „erste kommerzielle Devotionalienindustrie größeren Stils außerhalb religiöser Wallfahrtsorte“ (Ute Daniel)171. Auch überzeugte Wagnerianer wie der Komponist und Musikkritiker Martin Plüddemann (1854–1897) sahen die Auswüchse des Bayreuther Geschäftssinns durchaus kritisch. Nach der Premiere 1876 schrieb der langjährige Freund und Mitarbeiter des Komponisten: „Der Besuch dürfte sogar im nächsten Jahre erleichtert sein, da die Hauptsache, das Theater mit allem Zubehör, steht, und daher der Eintrittspreis ein bedeutend geringerer sein würde. Auch die Bayreuther dürften mit ihren Preisen heruntergehen; man hat viele und teilweise berechtigte Klagen gehört darüber, dass alles sehr teuer und dabei Wohnung und Essen nicht einmal immer gut waren. – Der Ring des Nibelungen kann angesehen werden als eine ungeheure Paraphrase des Fluches, der von Alters her auf dem Golde liegt. Die Bayreuther hatten aus dem in ihrer Stadt vorgeführten Werke nichts gelernt, sondern waren teilweise in hohem Maße goldgierig. Sie spekulierten allerdings einigermaßen richtig: ‚Wer 25 Taler für einen Abend im Theater gibt, zahlt auch wohl sonst jeden Preis, den wir fordern.‘ Im nächsten Jahre, wo die Plätze billiger werden, würde nun diese Spekulation nicht mehr zutreffen, und wenn die Stadt Bayreuth dennoch wieder vom Goldfieber ergriffen wird, möchte sie sich verrechnen, wie Wien 1875 mit seiner Weltausstellung.“172 Darüber hinaus hatte zum großen Ärger Wagners bereits vor dem Auftakt ein schwunghafter Handel mit den Eintrittskarten begonnen, für ein Generalprobenticket wurden bis zu 20 Mark (heute 160 Euro) bezahlt. Der Verwaltungsrat der Festspiele setzte zudem eigenmächtig eine öffentliche Probe des zweiten Aufzugs der Götterdämmerung an – gegen drei Mark (24 Euro) Eintritt. Binnen einer halben Stunde waren an den drei Verkaufsstellen die Karten weg.173 Damit war ein tragender Bestandteil der Festspielidee, die Unentgeltlichkeit des Zutritts, ad absurdum geführt. Künstlerisch empfand Wagner die Festspiele als Fiasko, es gab unzählige technische, darstellerische und sängerische Probleme. Schon nach der Rheingold-Premiere am 13. August wurde der Komponist eine halbe Stunde lang gerufen, kam aber nicht auf die Bühne. „Er saß außer sich in seinem Zimmer, schimpfte auf alle Darsteller [und] war nicht zu beruhigen“, berichtete der Dessauer Ballettmeister Richard Fricke.174 Cosima Wagner versuchte die künstlerischen Mängel in der ihr eigenen Art zu beschönigen. Nach der Generalprobe der Götterdämmerung schrieb sie in ihr Tagebuch: „So weit wird die Ausführung vom Werk zurück bleiben, wie das Werk von unsrer Zeit fern ist!“175
Gesellschaftlich hingegen waren die ersten Festspiele ein gigantischer Erfolg. Zwei Kaiser waren nach Bayreuth gekommen, der deutsche und der brasilianische, zudem zahllose regierende Fürsten, Staatsmänner, Künstler. Wilhelm I., der die ersten beiden Vorstellungen besuchte, sagte zu Richard Wagner: „Ich habe nicht geglaubt, dass Sie es zustande bringen würden“.176 Der Kaiser setzte hinzu: „Was mich vor allem an dem Unternehmen freut, ist sein nationaler Charakter“. Der Komponist beantwortete das Lob mit einer Klage: „Majestät, ich sehe nicht die Nation, die mich unterstützt hätte“.177 Ein nationales Großereignis waren die Festspiele auf jeden Fall. Dieser Gedanke klingt auch bei Karl Marx durch, allerdings unter ganz anderen Vorzeichen. Wegen der Festspiele waren in Nürnberg, wo der Sozialist auf der Durchreise von London nach Karlsbad übernachten wollte, alle Hotelzimmer besetzt, worauf der rückenleidende Marx auf einer Bahnhofsbank nahe der tschechischen Grenze übernachten musste. In einem Brief an Engels führte er bittere Klage über das „Narrenfest des Staatsmusikanten Wagner“178. Doch der Bayreuther Meister fand sich in seinen Hoffnungen enttäuscht, künstlerischer Paladin des neuen Reiches zu werden. Alte Loyalitäten der Machthaber zu der jahrhundertelang hohenzollerischen, kurzzeitig sogar preußischen Markgrafenstadt Bayreuth gab es nicht. Dass der Kaiser das Festspielereignis als „nationales Unternehmen“ bezeichnete, entsprang eher Höflichkeit als Überzeugung. Das Reich von 1871 sah sich in preußischer Tradition, hatte die Massenwirksamkeit des nationalen Gedankens noch nicht entdeckt und war weit davon entfernt, sich eine staatsrepräsentative Kunst zuzulegen.