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AKommunale Selbstverwaltung – eine Einleitung

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Das spannungsreiche Kräftefeld des kommunalen Wandels lässt sich grob mit den Stichworten Digitalisierung, Klimawandel, Mobilitätswende, nachhaltigem Wirtschaften sowie der Verlagerung der politischen Diskussion und der Bürgerbeteiligung in die sozialen Netzwerke abstecken. Dabei stehen wir eher am Anfang als am Ende der damit bezeichneten ökonomisch-gesellschaftlichen Umbrüche.

Am Anfang des vorliegenden Handbuches sollen aber nicht die zahlreichen Probleme stehen, mit denen die kommunale Ebene zu kämpfen hat. Vielmehr soll auf den Rahmen eingegangen werden, in dem Kommunalpolitik stattfindet: Die kommunale Selbstverwaltung.

Eine Demokratie lebt davon, dass sich die Bürger für das Gemeinwesen verantwortlich fühlen. Das war der Kern der Vorstellung von kommunaler Selbstverwaltung, wie sie Freiherr vom Stein zu Beginn des letzten Jahrhunderts entwickelt hat: Der Bürger sollte möglichst unmittelbar an der Selbstverwaltung beteiligt werden, er sollte die Angelegenheiten seiner Stadt, seiner Gemeinde zu seiner eigenen Sache machen. Dies gilt unverändert: Demokratie bleibt Stückwerk, solange sie nicht im Alltag auf örtlicher Ebene erfahrbar wird. Bürgernahe Selbstverwaltung ist ein tragendes Element jeder demokratischen Ordnung. Alexis de Tocqueville, ein großer Bewunderer der kommunalen Selbstverwaltung in den Neuenglandstaaten des frühen 19. Jahrhunderts, hat die Gemeindeeinrichtungen als Schulen der Freiheit bezeichnet, die das Volk im rechten Umgang mit der Demokratie unterweisen. Dieses Bild ist in der Tat zutreffend, weil sich am Mikrokosmos einer Gemeinde vieles über die Gesetzmäßigkeiten einer freiheitlichen Demokratie erlernen lässt und weil die Kommunalpolitik den Bürgern eine Fülle von Möglichkeiten bietet, sich aktiv politisch zu betätigen. Bürgerschaftliches Engagement kann die verschiedensten Formen annehmen: von der Teilnahme an Bürgerversammlungen und Anhörungen im Gemeinderat bis hin zu den Mitteln des Bürgerbegehrens oder des Bürgerentscheids. Notwendig ist das dauerhafte Engagement im Ehrenamt, die dauerhafte Übernahme von Verantwortung als Mitglied der kommunalen Vertretungskörperschaften oder als sachkundiger Bürger, als Deputierter in Ausschüssen. Die Bereitschaft hierzu nimmt seit einiger Zeit leider ab. Umso mehr gebührt unser Dank denjenigen Mitbürgern, die sich in ihrem örtlichen Lebensbereich im Rahmen von Ehrenämtern für ihre Mitbürger engagieren.

Dort, wo Bürger ihre Angelegenheiten in eigener Verantwortung vor Ort regeln, können Städte und Gemeinden den Menschen eine lebenswerte Heimat bieten. Bürgernahe Aufgabenerfüllung durch die Kommunen setzt ein Höchstmaß an eigener Gestaltungsfreiheit der Städte und Gemeinden voraus. Ziel muss es sein, die Eigenverantwortlichkeit der Kommunen nach Kräften zu stärken. Dies ist ein klassischer Anwendungsfall des allgemeinen Subsidiaritätsprinzips: Was die jeweils kleinere Einheit in eigener Verantwortung wirksam regeln kann, das soll der Staat nicht an sich ziehen. Es gibt Probleme, die besser, schneller und flexibler auf der untersten Ebene als vom Bund oder den Ländern gelöst werden können. Probleme, die auf kommunaler Ebene bewältigt werden müssen, sind in ihren Lösungen oftmals lebensnaher und praxisorientierter. In diesem Sinne erfüllt Kommunalpolitik eine unverzichtbare Dienstleistung für den Bürger. In einer Bürgergesellschaft, die vom Engagement und der Mitwirkung ihrer Mitglieder lebt, muss Politik und Verwaltung für den Bürger da sein und nicht umgekehrt.

Dies bedeutet auch, dass Kommunalpolitik den gleichen Rang und Stellenwert besitzt wie Bundespolitik und Landespolitik. Als die dem Bürger am nächsten stehenden Repräsentanten unserer Demokratie nehmen kommunale Mandatsträger einen wichtigen Rang ein. In der modernen Demokratie steht die Kommunalpolitik gleichberechtigt neben der Bundespolitik und der Landespolitik, und das Gleiche muss auch für ihre demokratisch gewählten Repräsentanten gelten. Nach herkömmlicher Auffassung in der Staats- und Verwaltungsrechtslehre sowie der Rechtsprechung sind die Volksvertretungen in Städten, Gemeinden und Kreisen reine Verwaltungsorgane. Sie sind keine Repräsentationsorgane wie die Landtage oder der Bundestag. Zweifellos lässt sich diese Deutung auf formale Gesichtspunkte der Verfassungsinterpretation stützen; Selbstverständnis und Stellenwert der kommunalen Volksvertreter in der politischen Praxis werden dadurch jedoch nur unzureichend erfasst.

Die kommunale Demokratie unterscheidet sich vom Parlamentarismus in Bund und Ländern im Hinblick auf die Aufgaben und den Umfang der Gesetzesbindung durch höherrangiges Recht – nicht aber in ihrer Qualität. Die Volksvertretungen in den Gemeinden repräsentieren im Rahmen ihres Wirkungskreises ebenso das Volk wie die Landtage oder der Bundestag. Sie sind Gremien der politischen Willensbildung und nicht identisch mit dem Verwaltungskörper. Kommunale Mandatsträger stehen daher – unter demokratischen Gesichtspunkten gesehen – auf der gleichen Stufe wie die Abgeordneten in den Landtagen und im Bundestag.

Wenn den Kommunen heute ein Stellenwert zukommt, der weit über einen Landesannex hinausgeht, so zeigt dies deutlich, dass es ihnen gelungen ist, den theoretischen Charakter und das abstrakte Leitbild mit Leben zu erfüllen. In der fünfzigjährigen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland haben die Gemeinden politisches Engagement vor Ort geweckt, den politischen Pluralismus wesentlich gestärkt und bürgernahe Problemlösungen in ihrem Wirkungskreis ermöglicht. Sie sind damit zu einem stabilisierenden Element des Föderalismus und zu einem Faktor geworden, der die klassische Gewaltenteilung ergänzt und fortschreibt. An der erfolgreichen und glücklichen Entwicklung unseres politischen Gemeinwesens hat die Kommunalpolitik für den Bürger vor Ort mithin einen ganz erheblichen Anteil.

Zu den wichtigen Erfahrungen, die man in der kommunalpolitischen Auseinandersetzung machen kann, gehört zudem die Erkenntnis, dass Polarisierungen in der Politik den Interessen der Bürger auf Dauer nicht dienlich sind. Wer sich in der Kommunalpolitik engagiert, der lernt, wie gut es ist, das Gespräch über parteipolitische Grenzen hinweg zu pflegen und nach partnerschaftlichem Zusammenwirken zu streben. Das ändert natürlich nichts daran, dass auch auf kommunaler Ebene – genauso wie auf staatlicher Ebene – die demokratische Verteilung von Aufgaben und Verantwortung zwischen Mehrheit und Minderheit nicht verwischt werden darf.

Wie auch andere politische und gesellschaftliche Instanzen sehen sich die Gemeinden zurzeit mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen und einem Wertewandel konfrontiert, die eine gegenläufige Tendenz, die eine Abkehr vieler Bürger vom Politischen aufzeigen. Hinter dem – freilich oftmals schiefen und vielfach lediglich medienwirksam genutzten – Schlagwort einer allgemeinen Politikverdrossenheit verbirgt sich eine abnehmende Bereitschaft, sich im politischen oder gesellschaftlichen Leben zu engagieren und organisieren.

Eine Ursache ist die Entwicklung hin zu einer vermehrten Individualisierung der verschiedensten Lebensbereiche. Menschen ziehen sich immer mehr in die eigenen vier Wände zurück und weichen der Übernahme von Verantwortung aus. Im Rückzug ins Private liegt ein allgemeines, gesamtgesellschaftliches Risiko der Politik – aber hier liegt auch die große Chance der Kommunalpolitik. Sie muss sich auf diese Strömung einstellen und sie nutzen. Im Vergleich zu den höheren politischen Instanzen besitzen die Gemeinden am ehesten die Chance, die Tendenz der „Privatisierung“ aufzufangen und zu kanalisieren. Die Kommunalpolitik hat dabei etliche Trümpfe in der Hand, die sie im politischen Alltagsgeschäft ausspielen kann.

Der entscheidende Vorteil, den die Gemeinden im Vergleich zum Bund und den Ländern bieten können, ist die Unmittelbarkeit zum Bürger. Gemeindepolitik ermöglicht den Bürgern eine hohe lokale und regionale Identifikation. Ziel muss es sein, Gemeinschaftsgefühl und Gemeinschaftssinn zu wecken, zu fördern und lebendig zu halten. Die Identifikationskraft des Einzelnen mit der lokalen Einheit ist nicht zu unterschätzen. Wenn die Kommunen es schaffen, den Bürgern das Gefühl zu vermitteln, dass die Politik auf den Beitrag jedes Einzelnen zum Ausbau und zur Fortentwicklung des Gemeinwohls angewiesen ist, dann lässt sich auch das Engagement vieler wieder beleben. Der Eindruck von „Klüngel“ und „Kungelei“ wirkt sich dagegen fatal und kontraproduktiv aus und darf erst gar nicht entstehen. Partizipation, die als tatsächliches Angebot auch erkennbar ist, und Öffentlichkeit wirken dem Eindruck des vermeintlichen Klüngels daher am besten entgegen.

Durch die Selbstverwaltungsgarantie des Grundgesetzes ist den Gemeinden ein unentziehbarer Kernbestand an Aufgaben zugesprochen. Die politische Wirklichkeit zeigt jedoch auch eine Kehrseite. Die Funktionsfähigkeit der Selbstverwaltung wird heute nicht so sehr durch zu wenige, sie wird heute eher durch zu viele Aufgaben gefährdet. Wenn den Gemeinden zu viele Pflichtaufgaben – insbesondere im Leistungs- und Sozialbereich, aber auch als Ordnungsfunktionen – zugemutet werden, dann gerät die Selbstverwaltung durch Überforderung in Gefahr. Insbesondere dann, wenn Bund und Länder nicht für die erforderliche Finanzausstattung sorgen. Es ist deshalb an der Zeit, Bund und Land bei der unkontrollierten Übertragung von Aufgaben Einhalt zu gebieten. Dazu kann das sog. Konnexitätsprinzip beitragen, das sich nunmehr in fast allen Landesverfassungen finden lässt. Auch in Nordrhein-Westfalen gilt: „Wer bestellt, bezahlt“.

Das Konnexitätsprinzip ist wichtig und notwendig als ein Instrument zur Disziplinierung der Politik. Denn nur mit seiner Hilfe können die Länder gezwungen werden, sich Klarheit über die Folgekosten eines Gesetzes zu machen und diese bei politischen Entscheidungen zu berücksichtigen. Das Konnexitätsprinzip verhindert so gesetzliche Wohltaten, die ansonsten von den Kommunen finanziert werden müssten. Diese erzieherische und präventive Wirkung kann deshalb gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Gleichzeitig versuchen der Bundes- und die Landesgesetzgeber auf immer mehr Tätigkeitsfelder kommunalen Handelns Einfluss zu nehmen. Dies zeigt die Gesetzgebungspraxis des Bundes und der Länder in den letzten Jahren. Regelungsdichte und -tiefe der einschlägigen Gesetze und Verordnungen erschweren es den Gemeinden zusehends, in freier Selbstbestimmung eigene Angelegenheiten den örtlichen Verhältnissen entsprechend und angemessen zu regeln. Angesichts der fortschreitenden Verrechtlichung vieler kommunaler Aufgaben, deren Wahrnehmung in die Eigenverantwortung der Kommunen gestellt war, wird deutlich, wie schmal der Grat ist zwischen der notwendigen Regelungsverantwortung der Bundesgesetzgebung einerseits und der Eigenverantwortung der Kommunen andererseits. Der Rechtsstaat verlangt Rechtssicherheit und einklagbare Ansprüche. Eigenverantwortung verlangt aber nach Gestaltungsspielraum und Ermessensausübung. Die Befürchtung der Gemeinden, dass ihnen ihre letzten Freiräume noch entzogen und die Institutionen sowie die Idee der kommunalen Selbstverwaltung dadurch letztlich untergraben werden könnte, ist nur allzu verständlich.

Bund und Länder müssen diese Sorgen ernst nehmen. Idee und Inhalt der kommunalen Selbstverwaltung werden nur dann eine Zukunft haben, wenn den Gemeinden im Rahmen einer ausreichenden Finanzausstattung substantielle Betätigungsfelder in eigener Verantwortung bleiben. Gefordert sind hier in erster Linie die Länder, die gegenüber ihren Gemeinden eine Obhutspflicht haben. Bundes- und Landesgesetzgeber sind zu einem „gemeindefreundlichen“ Verhalten aufgerufen. In lokale Aufgaben sollten sie nur dann eingreifen, wenn dies aus überörtlichen Gründen des Gemeinwohls erforderlich ist. Zugegeben: Das sind Grundsätze und Formeln, die fast jeder akzeptiert und die Differenzen erst in der Konkretisierung hervorrufen. Aber die Zukunft von Kommunalpolitik hängt davon ab!

Handbuch Kommunalpolitik Nordrhein-Westfalen

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