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I Ur- und Frühgeschichte

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6 Höhlenmalereien aus der Höhle von Lascaux

III.3.4.3

Vitruv 1981, 157f

Der römische Architekturtheoretiker Vitruv erzählt in der Einleitung zum 6. Buch seines epochalen Architekturtraktats die antike Wanderanekdote über einen schiff-brüchigen Philosophen. Aristippos, der Begründer einer Philosophenschule in Kyrene, geht an der Küste von Rhodos nach erlittenem Unglück an Land und kommentiert in den Sand geritzte geometrische Figuren, die er dort entdeckt: »Bene speremus! Hominum enim vestigia video« (»Lasst uns guter Hoffnung sein! Ich sehe nämlich Spuren von Menschen!«). Aristipp tritt sozusagen aus der Unsicherheit des Liquiden auf das feste Land – und was gibt es Festeres als Geometrie!

Blumenberg 1979

Barbaro 1556, 265

In der Renaissance feierte der Humanist Daniele Barbaro, ohne auf die Daseinsmetapher des Schiffbruchs zurückzugreifen, in seinem Vitruv-Kommentar diese geometrica schemata ebenfalls als ausdrückliche Zeichen menschlicher Kultur (»cioè non d’animali brutti, perché non hanno discorso […]«).

VI.7.3.4

Panofsky 1955, 11

IX.3.4.2

Die Metaphorik von den Zeichen des Menschen steht hier geradezu programmatisch für die Absicht dieses Werks über die Geschichte der Kunstphilosophie, das sich für die Ideen hinter den Zeichen interessiert. Erwin Panofsky unterschied mit diesem Kriterium Kunstdinge von Naturdingen: »Die Zeichen und Gebilde des Menschen sind Zeugnisse, weil, oder eigentlich: insofern sie Ideen artikulieren, die vom Vorgang des Zeichengebens und Bildens, auch wenn sie dadurch realisiert werden, doch unterschieden sind.«


7 Zeichen des Menschen. Prähistorische Bilder in der Wüste Jordaniens

Bertram 2005, 295

IX.3.3.1

Es geht im Folgenden also einmal darum, die Spuren des Menschen in der Welt zu identifizieren und zum anderen darum, die Intentionen und Ideen hinter diesen Spuren zu rekonstruieren. Besonders treffend passt dieses Bild als Einstieg in die Urgeschichte. Denn nicht anders als Aristipp in der Geschichte Vitruvs stoßen auch heutige Paläoanthropologen auf Spuren, die der Mensch auf seinem Weg aus dem Dunkel der Vergangenheit in das Licht der historischen Fassbarkeit zurückgelegt hat. Solche Spuren des Menschen sind neben geometrischen Figuren auch Gebrauchsgegenstände und Kunstwerke. Denn auch diese »gehören nicht zur Ausstattung der von Menschen unberührten Welt. Sie bilden einen Teil der Ausstattung unserer Welt – der Welt, in der wir in vielfältiger Weise zu Verständnissen und Selbstverständnissen kommen.« Über das bloß Faktische hinaus dürfen wir hoffen, dass der Mensch mit Ernst Cassirer ein animal symbolicum ist und dass diese Spuren Sedimente einer wie immer gearteten Deutung von Welt sind. Solche Deutungen von Welt in einer schriftlosen Zeit aus den blanken menschlichen Artefakten zu erschließen, ist das Hauptinteresse eines kunstphilosophischen Blicks. Doch dieser Blick ist schwierig, denn er funktioniert nie ohne Rezeptionshorizont. Die Kommentierung der erwähnten Anekdote in der Renaissance verrät jene Hochschätzung der Menschen, welche die geometrica schemata hinterlassen haben, die man in der Hochzeit des Humanismus und der Antikenverehrung erwarten durfte. Wir werden im Folgenden sehen, dass sich beispielsweise das 19. Jh. mit seinem selbstbewussten Fortschrittsdenken der Geschichte weitaus zurückhaltender näherte und dem Menschen früher Epochen wenig Kreativität in Weltdeutung, Kunst und Architektur zutraute. In das Bild einer langsamen Kulturwerdung passten keine geometrica schemata bereits am Anfang. Der Aufstieg zum ersten Geschichtswesen konnte nur aus einer kulturellen Wüste erfolgt sein.

Die bewusste Verwendung der Kapitelüberschrift Ur- und Frühgeschichte, die den in dieser Hinsicht problematischen Terminus Vorgeschichte vermeidet, ist nicht zuletzt auch der Vorsicht gegenüber der hermeneutischen Falle einer Rückprojektion moderner Vorstellungen auf die frühe Geschichte geschuldet. Die Reflexion darüber muss die Methodendiskussion permanent begleiten. Damit soll auch klar sein, dass im Folgenden die Geschichte eines Kontinuums erzählt wird und dass es nicht zwei oder mehrere Geschichten nebeneinander gibt, in denen der Mensch mit seinen kulturellen Äußerungen betrachtet werden soll.

Es ist klar, dass bei einem solchen Unternehmen, bei dem es um die Betrachtung einer Zeit ohne schriftliche Reflexionen der Weltdeutung geht, die Rekonstruktionsversuche zwangsläufig spekulativ bleiben müssen. Freilich gibt es dieses Problem für den an kunstphilosophischen Fragen Interessierten auch in der geschichtlichen Zeit – wenn man die übliche Grenzziehung zwischen (nach der älteren Nomenklatur: Vorgeschichte) Frühgeschichte und Geschichte an der Entstehung der Schriftlichkeit akzeptiert. Zum einen sind kunstphilosophische und ästhetische Reflexionen gegenüber anderen Fragen über viele Jahrhunderte marginal geblieben oder in anderen Diskursen verborgen, zum anderen sind auch dort, wo solche Reflexionen ausdrücklich durchgeführt werden, manche hermeneutischen Hürden zu überwinden, die Spielraum für verschiedene Deutungen offen lassen. Ein nicht geringes Maß einer Rekonstruktionsbreite von Artefakten verschwindet keineswegs, auch wenn gute Textquellen diese begleiten.

Lieberman 2001 Leakey et al. 2001

Anati/Anati 2015, 220

Immerhin ist richtig, dass die Auswertung schriftlicher Quellen das ausschließliche Operieren mit archäologischem Material beendet. Dieses Material, um das es in diesem ersten Kapitel geht, reicht nach neueren Nachrichten bis zu 6 Mio. Jahre zurück und ist extrem umfangreich. An etwa 70.000 Fundplätzen sind an die 80 Millionen prähistorische Bildwerke bekannt, davon 70 % aus Jäger- und Sammlerkulturen, der Rest aus Bauernkulturen. Von der prähistorischen Kunst entfällt der Löwenanteil (95 %) auf Felskunst und nur 5 % auf mobile Kunst.

Die Altertumswissenschaft, die sich auf schriftliche Quellen stützt, beginnt demgemäß im vierten und dritten Jahrtausend im Vorderen Orient und in Ägypten. Aus dieser Zeit stammen die ältesten Quellen, die in Keilschrift oder Hieroglyphenschrift verfasst sind.

Kunstphilosophie und Ästhetik

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