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Elf

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Die Benommenheit wich langsam und Sequenz für Sequenz kehrte die Erinnerung zurück. Sein Fahrer hatte laut geschrien, dann gab es einen fürchterlichen Ruck, als der Mercedes in den Lastwagen gekracht war. Die Airbags hatten ausgelöst, doch der Aufprall war so verheerend, dass er trotz des Schutzmechanismus hart mit dem Kopf auf die Sitzlehne des Beifahrersitzes geprallt war. Dann war die Schwärze über ihn gekommen. Noch hielt er die Augen geschlossen. Es rauschte in seinen Ohren, als könne er sein Blut fließen hören. Es war kühl. Fakt. Er war bei einem Unfall verletzt worden. Fakt. Er lebte. Fakt. Er befand sich nicht mehr in seinem Auto. Fakt. Seine Handgelenke waren gefesselt. Fakt. Etwas lag um seinen Hals. Fakt. Es roch muffig, wie in einem Keller. Fakt. Wenn etwas wie Scheiße aussah, wie Scheiße roch und sich wie Scheiße anfühlte, dann ist es mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Scheiße. Fakt ... Karl Grothner öffnete die Augen.

Eine rissige Betondecke, abblätternde weiße Farbe. Stockfleckig. Daran, provisorisch befestigt, ein rotes Stromkabel, an dessen Ende eine Glühbirne schwaches Licht in den Raum warf. Er hob seine zusammengebundenen Hände und begutachtete den Kabelbinder, der ihm ins Fleisch schnitt. Die Kopfverletzung schmerzte. Nicht zu ändern, weswegen er den Schmerz in seine Realität integrierte. Karl drehte den Kopf nach rechts. Eine Kellerwand. Putz war herabgefallen und gab den Blick auf stellenweise grau patinierten, roten Klinker frei. Sein Blick tastete jeden Quadratzentimeter des Raumes ab, in dem er sich befand. Er nahm einen Eisenring wahr, der an der hinteren Stirnwand befestigt war. Er sah die Kette und folgerte, dass das Ende dieser Kette ebenfalls in einem Ring endete, der um seinen Hals lag. Die Situation war klar. Er war entführt worden. Karl Grothner schloss seine Augen wieder und dachte nach. Derzeit gab es für ihn keine Handlungsalternativen. Er brauchte mehr Informationen, um Entschlüsse fassen zu können. Grothner versuchte mit seinen gefesselten Händen zu ertasten, ob er vielleicht an sein Smartphone, das in der rechten Innentasche seines Sakkos steckte, kommen könnte, musste aber einsehen, dass es absolut unmöglich war, das Gerät aus der Tasche zu ziehen. Was waren das für Verbrecher, die ihrem Opfer das Handy ließen? Er konnte das Smartphone durch den Stoff spüren und versuchte nun, es durch Drücken und Schieben von außen aus der Innentasche zu befördern. Für eine Sekunde konnte er die glatte und kühle Oberfläche des Gerätes an seinem Kinn fühlen, nachdem es aus der Tasche gerutscht war. Er konnte nicht verhindern, dass das Smartphone von der Pritsche fiel und mit einem kühlen Geräusch auf dem Kellerboden aufschlug. Dieses klackende Geräusch initiierte eine Millisekunden dauernde Erinnerungssequenz in Grothners Gehirn. Der Kopf seines Fahrers war aufgeplatzt, als er mit brachialer Gewalt gegen die Windschutzscheibe geprallt war. Teile der Schädeldecke und blutig-graue Gehirnmasse waren an ihm vorbeigeflogen und mit einem schmatzenden Geräusch an der Heckscheibe gelandet, bevor er selbst das Bewusstsein verloren hatte. Dann war die Szene vorbei und Grothner wusste, dass sein Fahrer bei dem offenbar bewusst herbeigeführten Unfall zu Tode gekommen war. Das ließ Rückschlüsse auf die Gewaltbereitschaft seiner Entführer zu. Fakt. Er versuchte, sich auf der schmalen Pritsche aufzurichten, doch dazu fehlte ihm die notwendige Kraft. Also drehte er sich auf die rechte Seite, um so, mit den ebenfalls gefesselten Beinen voran, langsam von der Pritsche zu gleiten. Es gelang ihm, und nun kniete er vor dem Smartphone, das, mit dem Display nach unten, auf dem grauen Betonboden lag. Seine Entführer waren offensichtlich ziemliche Dilettanten, sonst hätten sie ihm wohl kaum das Handy gelassen. Er griff nach dem Gerät und hielt es zwischen seinen gefesselten Händen, drehte es mit den Fingern um und musste erkennen, dass das Display vollkommen zerstört war. Grothner betätigte den kleinen Schalter, der das Smartphone sonst aus dem Standby-Betrieb erweckte, doch nichts tat sich. Das Gerät war bei dem Unfall zerstört worden. Fakt. Es gelang ihm, das Handy in seine rechte Sakkotasche zu stecken und sah sich nun im Raum um. Der Raum mochte drei mal zwei Meter Grundfläche messen. Eine Treppe führte an der Stirnseite des Raumes nach oben. Diese mündete an einer grauen, fleckigen Stahltür. Kaum, dass ein Blick auf diese Tür fiel, hörte er, wie sich von außen jemand daran zu schaffen machte. Er hatte keine Gelegenheit, sich wieder auf die Pritsche zu legen, und so schwang die Tür nach innen auf und Karl Grothner und Marius Kleinhans begegneten sich zum zweiten Mal. Kleinhans trug wieder den Motorradhelm und hielt kurz inne, als er Grothner auf dem nackten Betonboden knien sah. Das getrocknete Blut in seinem Gesicht verlieh der Situation etwas sehr Erschreckendes. Karl hatte die gefesselten Hände vor sich gehalten, es sah aus, als betete er. Dass er in dieser Situation den Blick nach oben gerichtet hatte, verstärkte den ersten Eindruck, den Marius vom Multimillionär Karl Grothner erhielt. Ein erbarmungswürdiger Anblick. Marius hatte sich seinen Text bereits zurechtgelegt. Er schwitzte unter seinem Helm, die ganze Situation war für ihn fast unerträglich. Er wollte das nicht. Wollte nicht wie ein Tier sein, das Menschen umbringt und dafür sorgte, das jemand, und sei es Karl Grothner, so unwürdig auf dem Boden knien musste. Und dennoch musste er das jetzt durchziehen.

»Ich helfe Ihnen, Moment.« Marius griff seinem Opfer unter die Arme und half ihm auf die Pritsche zurück. Grothner saß nun vor ihm.

»Sie wissen, was los ist?«, fragte Marius. Karl sah ihn nur mit stahlgrauen Augen an. Ruhig. Ganz in Ruhe schien er ihn zu scannen mit diesen Augen.

»Ich sage Ihnen jetzt die Regeln. Und wenn Sie die schön einhalten, sind Sie bald wieder ein freier Mann und unsere Wege trennen sich.« Marius Kleinhans fühlte, dass er der Situation kaum gewachsen war. Er hatte damit gerechnet, dass Karl weinen, ihn anflehen, ihn anschreien würde. Doch der saß nur da und sah ihn fast amüsiert an. Marius spürte, dass der Mann vor ihm nicht die geringste Angst hatte. Das war so nicht vorgesehen.

»Das läuft so: Sie bleiben ruhig und brav. Ich gebe Ihnen zu Essen und zu Trinken. Ich erpresse Geld für Ihre Freilassung, und sobald ich das habe, lasse ich Sie laufen. Machen Sie Ärger oder Stress, wird der Service hier schlechter. Ich werde Sie von den Fesseln befreien, Sie dürfen sich hier im Raum frei bewegen. Da hinten steht ein Eimer, da können Sie sich erleichtern. Es gibt eine Plastikschüssel mit Waschwasser und einen Lappen. Ein Handtuch gibt es auch. Ich habe Sie angekettet, Sie können also nicht zur Tür, so lang ist die Kette nicht. Wenn ich Informationen brauche, sind Sie kooperativ. Sind Sie das nicht, wird der Service auch schlechter, alles klar soweit?« Marius hatte sich vorgenommen, mit fester, dominanter und selbstbewusster Stimme zu sprechen. Ihm selbst kam es vor, als läge etwas Weinerliches, Schwaches und Zittriges in seinen Worten. Grothner hatte während seiner Rede nur kurz die rechte Augenbraue gehoben und war ansonsten regungslos geblieben.

»Haben Sie das verstanden?« Grothner hob nur die Arme, anstatt eine Antwort zu geben, den Blick fest auf die Augen gerichtet, die er als Einziges vom Gesicht seines Entführers durch das Visier des Motorradhelmes sehen konnte. Nervöse Augen, wie er feststellte. Mit einem Hauch von Resignation, fast Trauer in ihnen. Keine sehr intelligenten Augen. Fade, blaue Augen. Gerötet. Der Mann hatte geweint. Falten in den Augenwinkeln. Der Mann war zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt. Und Angst. Angst in diesen Augen. Und Ehrfurcht. Vor ihm. Und noch etwas. Etwas sehr Emotionales. Karl kannte das. Doch es fiel ihm in dieser Sekunde nicht ein. Er hatte es schon manches Mal in den Augen von Menschen, mit denen er zu tun zu haben gezwungen war, gesehen. Verstanden hatte er es nie. Gewissen. Das war es. Ein für Karl Grothner sehr surrealer Begriff. Marius Kleinhans griff in seine Gesäßtasche und förderte einen Saitenschneider hervor, mit dem er die Kabelbinder an Karls Händen und Füßen durchschnitt.

»Sind wir uns also einig?«, fragte er sein Opfer. Grothner hob die Oberlippe, bleckte die Zähne, seine Mundwinkel wiesen nach unten. Er lächelte.

»Und ob!«

Karl -ausgeliefert

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