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Eins
ОглавлениеIm Keller
Aus dem Meer aus Schmerzen ragte ein besonders stechender und pochender wie ein zerklüfteter Felsen empor. Dieser alles dominierende Schmerz strahlte von seinem Nacken auf den ganzen Körper aus, und alle anderen Schmerzherde in und an seinem Körper ordneten sich ihm unter. Die Wellen, die von ihm ausgingen, mischten alle Gedanken, die er zu formulieren versuchte, zu einem Brei aus Wortfetzen, in dem sich Geräusche und grelle Blitze mischten. Er hatte versucht, die Augen zu öffnen, doch es gelang ihm nicht. Seine Augenlider schienen zusammengewachsen zu sein. Als er die Arme bewegen wollte, um nach seinen Augen zu tasten, stieß eine Schmerzspitze von den Ellenbögen gnadenlos in sein Hirn und war für eine Millisekunde dominierender als das Inferno, das in seinem Nacken und Hinterkopf tobte. Wieder wurde er ohnmächtig. Als er das nächste Mal aus der Bewusstlosigkeit erwachte, fühlte er sich, als würden seine Adern von glühender Lava durchflossen. Die Hitze, die in ihm war, ließ den Schmerz erträglicher werden, aber die Bilder, die ihm das Fieber in sein zerschlagenes Bewusstsein projizierte, waren grausam und erzeugten Todesangst in ihm. Er spürte noch, wie sich seine Blase und sein Darm entleerten, bevor ihn die tiefe Dunkelheit erneut aufnahm und in den Vorraum des Todes sperrte.
Erst Stunden später kam er wieder an die Oberfläche. Der Schmerz war zu einem monotonen Dauergefühl abgeklungen. Das Fieber ließ ihn wie ein Stück Treibgut in rauer See unkontrolliert in die Realität eintauchen, um ihn gleich wieder im diffusen Nebel der völligen Orientierungslosigkeit versinken zu lassen. Das Gefühl des freien Falls wechselte sich ab mit einem sehr starken Drehschwindel, der ihm jede Kontrolle über seinen Körper nahm, den er ohnehin nicht mehr wahrzunehmen vermochte. Als habe er keine Grenzen mehr, als bestünde sein Körper aus einer Wolke, die sich ständig veränderte und keine Konturen besaß. Eine Wolke, die tief in ihrem Inneren einen glühenden Kern hatte, der unheilvolle Hitze ausstrahlte. An diesem ersten Tag im Keller war er dem Tod sehr nahe, ohne es zu wissen. An diesem Tag bestand seine Gedankenwelt nicht aus Worten und Bildern, Erinnerungen und Deutungen, sondern nur aus Gefühlen und sensorischen Empfindungen. Erst am Ende des zweiten Tages war er imstande, sich zu fragen, wer er ist. Doch diese Frage blieb unbeantwortet für ihn.
Er hatte es unter Schmerzen geschafft, seine Hände zu seinem Gesicht zu bewegen und nach seinen Augen zu tasten. Er rieb sie vorsichtig und konnte die Verklebung des linken Auges lösen und es halb öffnen. Im ersten Moment dachte er, er sei blind, denn trotz des geöffneten Auges sah er nur Schwärze. Es dauerte einige Minuten, bis er begriff, dass er im Dunklen lag. Seine Nase war völlig zugeschwollen und er spürte eine harte Kruste auf seiner Oberlippe. Er war gezwungen, durch den Mund zu atmen und seine Schleimhäute waren vollkommen ausgetrocknet und rissig geworden. Seine Zunge lag wie ein gestrandeter, toter Wal in seiner Mundhöhle und keine Geschmacksknospe sandte mehr Informationen zu seinem Gehirn. Lediglich die Idee eines Geruchs tanzte wie ein zephales Glühwürmchen durch sein Geruchszentrum. Ammoniak. Und noch etwas anderes, doch auch Teile seiner Assoziationsfähigkeit waren im Meer des Vergessens untergegangen.
Sein nächstes Erwachen war völlig anders. Er konnte beide Augen öffnen und sie konnten endlich wieder Informationen an sein Gehirn senden. Es war zwar ein sehr dämmriges Licht, doch weil er seit zwei Tagen nur Dunkelheit um sich gehabt hatte, war die Helligkeit für ihn zunächst unerträglich und er war gezwungen, die Augen wieder zu schließen. Die Verkrustungen um seine Nase herum waren fort und nach einigen Minuten hatten sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt. Die Lichtquelle war eine matte Glühbirne, die an der Decke des Raumes angebracht war. Er bemerkte, dass er völlig unbekleidet auf einer Pritsche lag. Das schmerzhafte Pochen in seinem Hinterkopf war abgeklungen und er begriff, dass jemand während seiner letzten Ohnmacht bei ihm gewesen war und ihn entkleidet und gewaschen hatte. Vorsichtig sah er sich um. Er befand sich in einem kleinen, fensterlosen Raum. Seine Pritsche war eine Campingliege, wie er erkannte, obwohl er nicht wirklich wusste, was eine Campingliege ist. Vor ihm auf dem Boden sah er eine Blechschüssel, darin ein Kanten Brot und neben der Schüssel eine durchsichtige Kunststoffflasche mit Wasser gefüllt. Langsam und unter Schmerzen gelang es ihm, sich aufzurichten und sich hinzusetzen, die nackten Füße auf kaltem Beton. Es klimperte leise und mit Erschrecken stellte er fest, dass er einen Halsring aus Eisen trug, der mit einer Kette an der Stirnwand des Raumes befestigt war. Doch im Moment war ihm die Flasche mit dem Wasser wichtiger. Er ließ sich von der Kante der Liege auf die Knie gleiten und griff nach der Flasche. Hastig öffnete er den Verschluss und trank gierig mit tiefen Zügen das schale Wasser. Sein Magen war nach so langer Zeit mit der plötzlichen Wassermenge völlig überfordert, und er erbrach es sofort wieder. Wie eine Fontäne schoss ihm das Wasser aus dem Mund und spritzte bis an die gegenüberliegende Wand. Hustend rang er nach Luft und trank danach erneut, aber langsamer und in kleinen Schlucken. Sein Magen krampfte erneut bedenklich, beschloss aber offenbar, das Wasser zu behalten. Obwohl er seit zwei Tagen ohne Nahrung war, verspürte er keinen Hunger. Seine gesamte Bauchgegend fühlte sich an, als sei sie aus heißem Stahl gegossen und kein organisches Material. Sein Blick schweifte durch den Raum. Bröckeliger Putz gab den Blick auf rote Ziegelsteine frei. Er sah auf die schmale Wand, an der seine Halsfessel befestigt war. Eine eigentlich dünne, aber offensichtlich sehr robuste Kette war dort mit einer Sechskantschraube an der Wand befestigt. Er tastete nach dem Eisenring, der um seinen Hals lag und stellte fest, dass ein Vorhängeschloss den Verschluss dieses Ringes bildete. Rechts von ihm erkannte er eine schmale Holztreppe, deren zwölf Stufen zu einer grauen Stahltür führten. Er bemühte sich aufzustehen und in Richtung der Treppe zu gehen, doch nach wenigen, sehr unsicheren Schritten spannte sich die Kette und verhinderte, dass er auch nur die unterste Stufe der Treppe erreichte. Er fühlte unendliche Hilflosigkeit in diesen Minuten. Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Und vor allem: Wer war er? Er schaffte es gerade zurück auf die Liege, bevor das starke Sedativum, das dem Wasser zugesetzt war, wirkte.