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Drei

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An den Mann heranzukommen schien unmöglich. Wenn er den Glaskasten verließ, waren stets die Gorillas in der Nähe. Zwar immer dezent im Hintergrund, aber nahe genug, um jederzeit eingreifen zu können, sollte jemand ihrem Boss zu nahe kommen. Den Mann so abzugreifen, war undenkbar. Das war Marius Kleinhans klar. Alleine schon das Sammeln notwendiger Informationen über sein potentielles Opfer gestaltete sich extrem schwierig. Er durfte keinen Fehler machen, sonst wäre der Coup vorbei, bevor er begonnen hatte. Es hatte Tage gedauert, bis es ihm gelungen war, den Weg vom Firmensitz bis in das Privathaus seines Opfers nachzuvollziehen. Sein ursprünglicher Plan war es, den beiden Fahrzeugen einfach zu folgen. Im ersten Auto, einem schwarzen gepanzerten Mercedes, saßen Grothner und sein Fahrer. Bei jeder Fahrt wurde der Wagen von einem Land Rover begleitet, in dem vier Sicherheitsleute saßen. Marius Kleinhans hatte jedesmal die Verfolgung nach wenigen Kilometern abgebrochen, weil sein Instinkt ihm einredete, dass die Bodyguards mitbekommen hatten, dass er sie verfolgte. Erst an einem Tag, an dem es sehr stark regnete und man von ihm maximal die Scheinwerfer im Rückspiegel erkennen konnte, hatte er sich getraut, sie bis zu ihrem Ziel zu verfolgen. Als er die kleine Kolonne durch ein sich automatisch öffnendes Tor fahren sah, war er sich sicher, das Privathaus von Karl Grothner gefunden zu haben.

Marius Kleinhans hatte die feste Absicht, Karl Grothner zu entführen, um ein saftiges Lösegeld zu kassieren. Auf ihn war er durch Zufall gekommen, als er einen Pressebericht gelesen hatte, der sich mit dem Grothner-Imperium befasste. Dort war geschrieben worden, dass über den Privatmann Karl Grothner kaum Informationen vorlagen, weil dieser extrem menschenscheu sei und noch niemals ein Interview gegeben hatte. Auch existierten kaum Fotos von dem Mann, was ebenfalls sehr ungewöhnlich war. Immerhin besaß Grothner ein Wirtschaftsimperium und zählte zu den reichsten Menschen im Land. Marius Kleinhans war der klassische Kriminelle. Von leicht überdurchschnittlicher Intelligenz hatte ihn seine eher banale Verbrecherkarriere immerhin darin geschult, Chancen zu erkennen und ziemlich gute Planungen vorzunehmen, wenn es darum ging, an das Geld anderer Leute zu kommen. Er war mit einem Meter siebzig ein eher kleiner Mann, aber er war extrem muskulös, ohne dabei gedrungen oder körperlich unproportional zu wirken. Er trug kurz geschnittenes, braunes Haar und sein bartloses Gesicht war markant männlich. Ein leichter Unterbiss verlieh ihm das Aussehen einer Bulldogge, was auch sein Spitzname damals im Knast war. Zwei Jahre Santa Fu hatten ihn gelehrt, dass es besser ist, alleine zu arbeiten. Damals hatten ihn die Fehler und der Leichtsinn anderer vor Gericht und anschließend ins Gefängnis gebracht. Diesmal wollte er so ein Fiasko vermeiden. Er bestritt seinen Lebensunterhalt mit Einbrüchen und war darauf spezialisiert, die Sicherheitssysteme der Reichen und Schönen zu analysieren und zu umgehen. Aber er geriet immer mehr an seine Grenzen, denn die technische Entwicklung von Bewegungsmeldern, Kamerasystemen und anderen Einrichtungen ging rasant vonstatten. Mehrfach hatte er einen lange geplanten Einbruch abbrechen müssen, weil er trotz aller Vorbereitung Alarm ausgelöst hatte. Marius Kleinhans verstand sich als Gentleman-Einbrecher. Er wollte nicht in Mietwohnungen einsteigen, um der Arbeiterklasse die wenigen Habseligkeiten zu nehmen. Die Reichen wollte er bestehlen. Und so für ein wenig Gerechtigkeit sorgen. Vor allem auf sich bezogen, denn es waren doch die Reichen, die ihn arm hielten. Die ihm jede Chance verweigert hatten und in ihm eine Made sahen, die versuchte, sich einen Krumen vom Kuchen zu holen. Und dieser Karl Grothner war für ihn zum Sinnbild dieser Ungerechtigkeit geworden. Schwer reich und ohne Familie. Geld nur um des Geldes willen. Noch nie hatte Grothner etwas gespendet oder sich sonst irgendwie sozial engagiert. Für Kleinhans war der Magnat wie Dagobert Duck, der ohne sein tägliches Bad im Geldspeicher zugrunde ging. Wenn er es schaffte, Karl Grothner zu entführen und Lösegeld zu erpressen, wäre er selbst reich. Hätte ausgesorgt bis zum jüngsten Tag. Und er hätte etwas Ehrenhaftes getan, diese Arbeit würde ihn als Kriminellen adeln. Schnell hatte Kleinhans in Erfahrung gebracht, dass es unmöglich war, Grothner in dessen Haus zu packen. Das ganze Anwesen war eine einzige Alarmanlage und der Land Rover stand auch nachts vor dem Tor. Einmal in der Nacht wechselte die Besatzung des Wagens und Kleinhans sah keine Chance, auch nur in die Nähe des Wohnhauses zu gelangen, das von einer drei Meter hohen Mauer umgeben und von keiner Seite wirklich zu sehen war. Lediglich in dem Moment, in dem Grothners Mercedes durch das geöffnete Tor fuhr, konnte man das Wohnhaus erkennen. Ein graues, sehr modernes Gebäude mit einem Metalldach. Schmucklos und funktionell. Innerhalb der Mauern, die das Haus umgaben, gab es weder Bäume noch Büsche oder Blumen. Nur gepflegten, kurz geschnittenen Rasen. Auf der Mauer waren Scheinwerfer angebracht, und sobald nachts irgendein Tier die Bewegungsmelder aktivierte, stürzten die vier Männer aus dem Rover und überprüften die Lage. Da war nichts zu machen. Nächtelang hatte Kleinhans das Anwesen im Schutz der gegenüberliegenden Buschgruppe beobachtet. Er suchte nach einem Loch im Sicherheitsnetz des Multimillionärs. Doch auch nach Wochen des Beobachtens und Sondierens hatte er keine Ahnung davon, wie er des Mannes habhaft werden konnte, ohne dass man ihn in kürzester Zeit fassen und zurück nach Santa Fu bringen würde. Doch er gab nicht auf. »Geht nicht gibt es nicht« war seine Devise, und eines Tages hatte er zumindest den Hauch einer Idee.

Jeden Morgen bot sich ihm das gleiche Schauspiel, zumindest unter der Woche: Von Montag bis Freitag verließ Grothners Wagen um genau acht Uhr das Privatgrundstück. Nie auch nur eine Minute davor oder danach. Und jeden Abend um exakt siebzehn Uhr und dreißig Minuten durchfuhr der gepanzerte Mercedes das Tor in Gegenrichtung. Wie der Fahrer es fertigbrachte, trotz des Verkehrs auf dem Weg hierhin, so unglaublich pünktlich zu sein, war Kleinhans schleierhaft. In Grothners Abwesenheit war das Anwesen keineswegs verwaist. Lieferanten kamen zu festen Zeiten und brachten Lebensmittel oder andere Dinge. Es gab drei Menschen, zwei Frauen und ein Mann, die jeden Tag zur gleichen Zeit durch das Tor gingen. Vermutlich Hausmeister, Köchin und Hauswirtschafterin, mutmaßte Kleinhans. Es gab auch zwei Wachleute einer Sicherheitsfirma, die in schwarzen Uniformen hinter dem Tor standen und jeden, der das Anwesen betreten wollte, kontrollierten. Jeder Lieferant und jeder Bedienstete besaß einen Ausweis, und Kleinhans konnte beobachten, dass sich Wachleute und die Menschen, die das Anwesen betreten durften, persönlich kannten. Hier gab es keine Chance, hinter die Mauern zu gelangen. Selbst wenn er sich als Vertretung ausgeben würde, um so auf das Grundstück zu kommen, würden unzählige Kameras sein Gesicht aufnehmen und innerhalb kürzester Zeit wäre er zur Fahndung ausgeschrieben. Nein, mit der Entführung dieses Mannes durfte ihn nie jemand in Verbindung bringen können.

Die einzige Möglichkeit, um den Mann abzugreifen, musste sich in dem Zeitfenster befinden, in dem Grothner unterwegs zu seiner Firma war. Die Strecke vom Wohnsitz Grothners bis zum Glaskasten betrug nahezu genau sechzehn Kilometer. Die Fahrstrecke ließ sich in dreiundzwanzig Minuten bewältigen. Grothners Fahrer hatte drei alternative Streckenführungen, die er je nach Verkehrslage wählte. Die ersten fünf Kilometer jedoch waren stets die gleichen. Eine schmale Landstraße, die erst durch landwirtschaftlich genutzte Flächen führte, dann kam ein Waldstück von einem Kilometer Länge und danach kam bereits das Ortseingangsschild, und die Fahrstrecke wurde nicht mehr vorhersehbar. Innerhalb des Waldstückes gab es eine Querstraße, die in die Landstraße mündete. Diese war von Büschen gesäumt und führte zu einem verlassenen Bauernhof. Diese Stelle hatte sich Kleinhans ausgesucht, um Karl Grothner zu entführen. Blieb nur das Problem mit den Männern im Land Rover, die wie Schmeißfliegen an dem Wagen des Konzernchefs klebten. Die musste er loswerden, und er wusste auch schon wie. Der Land Rover hielt jeden Abend an genau derselben Stelle vor dem Haus des Millionärs. Drei Meter vor dem Eingangstor. Direkte Nachbarn besaß das Anwesen nicht und die Straßenbeleuchtung war nur im unmittelbaren Eingangsbereich so hell, dass jede Bewegung auffallen musste. Links und rechts des ummauerten Grundstücks war die Fläche bewaldet, was Kleinhans das Observieren des Anwesens erleichterte. Auch auf der gegenüberliegenden Straßenseite war das Gelände dicht mit Buschwerk bewachsen. Erst nach über zweihundert Metern gab es eine weitere Villa, die jedoch weder Mauer noch Hecke besaß und einem Unternehmerehepaar gehörte, wie Kleinhans herausfand. Erst nach Tagen war ihm aufgefallen, dass der schwere Geländewagen der Bodyguards immer über einem Kanaldeckel stehenblieb, nachdem Grothners Auto auf das Anwesen gefahren war. Hierin lag möglicherweise die Lösung des Problems. Ein Plan reifte in ihm heran und Kleinhans begann sich auf den Tag vorzubereiten, an dem er einen der reichsten Männer Deutschlands entführen würde. Er entwendete in den nächsten Tagen einen zehn Tonnen schweren und voll beladenen Kieslaster von einer Baustelle in einer Nachbarstadt und brachte ihn auf den verlassenen Bauernhof, wo er ihn unter einer großen Remise so einparkte, dass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Kleinhans kaufte von einem Schrotthändler einen alten blauen und zerbeulten Renault, nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass dieser noch fahrbereit war. Mit gestohlenen Kennzeichen versehen, brachte er auch dieses Fahrzeug in Stellung. Nun musste er warten. Schon nach wenigen Tagen hatte er Glück. Der Mercedes und sein Begleiter fuhren an diesem Tag nicht in Richtung des Hauses, in dem Grothner lebte, sondern schlugen den Weg in Richtung des Flughafens ein. Heute Nacht würde der Land Rover nicht vor dem Haus stehen, denn der Hausherr war nicht anwesend. Kleinhans wusste, dass zwei Kameras auf den Bereich des Eingangstores gerichtet waren. Sein Sachverstand sagte ihm, dass der Gullydeckel, über dem normalerweise der Rover stand, außerhalb des Erfassungsbereiches dieser Kameras lag. Im Schutz der Dunkelheit brachte Kleinhans ein Stahlseil und eine vier Zentimeter dicke und zwei Meter lange Eisenstange zu dem Gullydeckel, hob diesen mit einer Brechstange an und schob ihn so weit zur Seite, dass er die Trosse und die schwere Eisenstange hineinwerfen konnte. Er warf einen prall gefüllten Rucksack hinterher, dann verschloss er den Gully wieder und verschwand so schnell er konnte von der Straße. Über eine Stunde verharrte er in seinem Gebüsch, bis er ganz sicher sein konnte, dass niemand etwas davon mitbekommen hatte. Nun schlich er erneut zu dem Kanaldeckel, hebelte ihn zum zweiten Mal heraus und schob ihn so weit zur Seite, bis er selbst in das enge Kanalrohr klettern konnte. Sobald er unterhalb der Straßendecke war, schob er von innen den Deckel wieder in seine Position. Der senkrechte Teil des etwa sechzig Zentimeter durchmessenden Kanals mündete in einem waagerechten Rohr, das der Regenwasserentsorgung diente. Auf dem Grund dieses Rohres fand Kleinhans das Stahlseil, die schwere Eisenstange und seinen Rucksack. Er verband das Seil mit einem Karabinerhaken mit der Eisenstange und legte diese so in das waagerechte Rohr, dass sie wie ein Anker wirken müsste. Am anderen Ende der Trosse hatte er ebenfalls einen Karabinerhaken befestigt. Das Kanalrohr lag trocken, denn es hatte schon geraume Zeit nicht mehr geregnet. Es hatte einen Durchmesser von achtzig Zentimetern und war somit groß genug, um sich auf allen Vieren darin fortbewegen zu können. Marius Kleinhans nahm eine Taschenlampe aus dem Rucksack und kroch in das Rohr zu seiner Linken. Fünfzig Meter weiter würde er den nächsten Kanaldeckel finden, und an dieser Stelle wollte er aus dem Kanalsystem verschwinden, wenn es soweit war. Er musste zunächst aber herausfinden, ob sich die fünfzig Meter tatsächlich im Kriechgang bewältigen ließen. Davon hing, wie von vielen anderen Elementen, sein Plan ab. Langhans litt zu seinem Glück nicht an Klaustrophobie und es befand sich nur trockener Schlamm in dem Betonrohr. Er bewältigte die Strecke bis zum nächsten senkrechten Rohr innerhalb von zwanzig Minuten, stieg an den Metallkrampen, die in das senkrechte Rohr eingelassen waren, empor, und drückte von unten gegen den Gullydeckel. Der mochte um die fünfzehn Kilogramm wiegen und Kleinhans konnte ihn mühelos anheben und zur Seite schieben. Der Renault stand von dieser Stelle nur hundert Meter entfernt, Kleinhans hatte ihn rückwärts in einen Waldweg gefahren, sodass er von der Straße aus nicht zu sehen war. Um kein weiteres Risiko einzugehen, kroch er auf allen Vieren wieder zurück zu der Stelle, an der der Land Rover hoffentlich bald stehen würde. Nun musste er warten, wenn er Pech hatte, mehrere Tage, bis Grothner von seiner Geschäftsreise zurückkehrte. Er richtete es sich mit dem Inhalt des Rucksacks, einer Decke und Lebensmitteln, so bequem wie möglich in dem Kanalrohr ein und betete, dass es nicht zu regnen begann. Sonst würde das alles eine sehr feuchte Angelegenheit werden.

Nach zwölf Stunden in dem Rohr spürte er seinen Körper kaum noch. Auch wenn es nicht allzu kalt war, ließ ihn die Bewegungsunfähigkeit auskühlen. Er kroch immer wieder in dem Kanal hin und her, kletterte die kurze Leiter empor, um nicht steif zu werden und begann, an der Durchführbarkeit seines Planes zu zweifeln. Einsamkeit ist ein guter Einflüsterer von Bedenken. Plötzlich schien ihm das alles zu riskant. Es gab zu viele Unwägbarkeiten. Hatte er wirklich keine Spuren an der Stahltrosse und der Stange hinterlassen? Mit bloßen Fingern hatte er sie nie angefasst. Die ganze Zeit, während der Vorbereitung und hier unten im Kanal, hatte er Handschuhe getragen. Aber er wusste auch, dass die Forensiker alles absuchen würden und dass sie ihn durch ein einziges Haarfollikel identifizieren konnten. Zweifel schlichen wie Viren, die begonnen haben, einen Organismus zu infizieren, in seine Gedanken, und als es erneut dämmerte und der Land Rover noch immer nicht über ihm stand, war er kurz davor, das Projekt abzubrechen. In der Dunkelheit hier unten und mit dem ständigen Rascheln in dem Kanalrohr, das von beiden Seiten der Röhre zu hören war und dessen Ursprung wohl in der Rattenpopulation lag, kam ihm sein ganzer Plan mehr und mehr idiotisch vor. Wer war er, dass er glaubte, diesen Mann tatsächlich entführen zu können? Einen Mann, der ein Imperium führte, in einer gepanzerten Limousine fuhr und von wahrscheinlich waffenstarrenden Leibwächtern bewacht wurde. Er war ein Krimineller, wenigstens das konnte er von sich behaupten. Aber was hatte er schon vorzuweisen? Einige gut gelungene Einbrüche in Villen ziemlich reicher Leute. Letztlich war er im Knast gelandet. Und heute? Heute saß er wie eine Ratte in dieser Kloake und glaubte tatsächlich, ausgerechnet ihm könne so ein Coup gelingen? Fast musste er lachen. Und selbst wenn es ihm gelang, seinen Plan durchzuführen, würde man ihn jagen, bis man ihn gefasst hatte. Und dann? Mindestens zwölf Jahre Knast erwarteten ihn. Und wenn Karl Grothner etwas zustoßen würde bei der ganzen Sache, käme er wohl niemals wieder frei. Er fror. Die Dunkelheit ließ Lichtpunkte vor seinen Augen tanzen und die Geräusche, die die Ratten in der Kanalisation verursachten, schienen immer lauter zu werden. Fast bekam er Angst vor dem, was da hinten in der Dunkelheit scharrte und trippelte.

Die Vorräte im Rucksack gingen zur Neige und trotz der Enthaltsamkeit beim Trinken verspürte er einen immer stärkeren Harndrang. Sich hier zu erleichtern war ausgeschlossen, er würde sein genetisches Material gleich deziliterweise hinterlassen.

Resigniert kroch er wieder durch das Rohr und verließ das Kanalsystem, um sich zu erleichtern. Die neue Nacht war angenehm warm, jedenfalls hier oben, und die Grillen gaben ihr Konzert in der Ferne. Er beschloss, nachdem er seine Notdurft verrichtet hatte, seine Sachen aus dem Schacht zu holen und die Aktion abzubrechen. Es sollte offensichtlich nicht sein. Er konnte nicht noch länger in dem engen Kanal sitzen und auf sein Opfer warten. Das würde er nicht aushalten. Die Schwachstelle in seinem ansonsten grandiosen Plan war er selber. Er hatte nicht gedacht, dass er schon nach weniger als zwanzig Stunden so weit war. Bei der Planung hatte er sich noch vier oder mehr Tage zugetraut. Enttäuscht ging er in Richtung des geöffneten Kanaldeckels, als plötzlich Scheinwerfer zu erkennen waren. Grothner kehrte zurück. Sofort wurde Kleinhans Körper von Adrenalin durchflutet, das innerhalb des Bruchteils einer Sekunde seine Zweifel davonspülte. Schnell warf er sich hinter eine Buschgruppe, um nicht von den Scheinwerfern der beiden Fahrzeuge erfasst zu werden. Nachdem die kleine Wagenkolonne ihn passiert hatte, stieg er rasch wieder in das Kanalrohr, schloss den Deckel und kroch so schnell er konnte zu seinem Lager zurück. Marius Kleinhans glaubte nicht, dass den Insassen der beiden Fahrzeuge der verschobene Gullydeckel aufgefallen war, und wenn doch, konnte er es jetzt nicht mehr ändern. Er wollte den richtigen Moment abpassen, möglichst unmittelbar, nachdem der Range Rover zum Stehen gekommen war, denn dann würde im Inneren des Autos noch die größte Unruhe herrschen. Der Karabinerhaken und die ersten dreißig Zentimeter der zwanzig Meter langen Stahltrosse waren von ihm mit Isolierband ummantelt worden, damit es keine oder nur wenige Geräusche gab. Er nahm den Karabinerhaken und befestigte ihn an seinem Gürtel, stieg dann die Leiter hinauf und blickte durch die runden Löcher des Kanaldeckels. Tatsächlich stand der Wagen direkt über ihm. Ohne lange zu überlegen drückte Kleinhans den Deckel nach oben und schob ihn langsam und möglichst leise so weit zur Seite, dass der Kanal halb geöffnet war. Er lauschte, doch es erfolgte keine Reaktion auf seine Aktivität. Den Bodyguards über ihm in ihrem schweren Geländewagen würde schon früh genug auffallen, dass er hier war, dachte er grimmig. Kleinhans war erstaunt, wieviel Raum zwischen der Fahrbahndecke und der Unterseite des Geländewagens bestand. Dieser Umstand erleichterte sein Vorhaben und vorsichtig schob er sich unter das Auto. Es gelang ihm, den Karabiner um die vordere rechte Radaufhängung zu legen und ihn dann zweimal um die Traverse zu wickeln, an der das rechte Vorderrad befestigt war, bevor er den Karabinerhaken an der Stahltrosse einrasten ließ. Das war nach seiner Einschätzung die schwierigste Phase in seinem Plan. Er kroch in den Gully zurück und schob den Deckel wieder über die Öffnung. Das Stahlseil verhinderte, dass sich der Deckel wieder komplett einfügte, aber das spielte keine Rolle. Der heraufschnellende Gullydeckel würde den Schaden an dem Fahrzeug vergrößern, wenn es anfuhr. Auf dem Grund des waagerechten Kanals überprüfte er den Sitz des Stahlseils an der massiven Eisenstange, die er so platziert hatte, dass sie als Anker fungieren würde, wenn das sich spannende Seil sie empor riss. Mit der Taschenlampe kontrollierte er seine Arbeit und suchte jeden Zentimeter ab, um auszuschließen, dass er irgendetwas versehentlich liegengelassen hatte. Morgen würden Ermittler und Forensiker hier herumkriechen und nach irgendeinem Hinweis auf den oder die Täter suchen. Nach zwanzig Minuten verließ er den engen Kanal und lief zu dem Renault, der versteckt in dem Wald stand, der das Grundstück Grothners umrahmte. Die Stunden in dem engen Rohr hatten ihren Tribut gefordert. Ihm tat jeder Muskel und jeder Knochen weh, doch die Bewegung jetzt ließ den Schmerz schnell vergehen. Allerdings hatte er nun wieder ein gutes Gefühl, was seinen Plan anging. Karl Grothner würde morgen seine Geisel sein. Er würde im Keller des ehemaligen Pförtnerhauses in der Industriebrache der alten »Buttwanger« Fabrik am Stadtrand liegen, ein Ort, der so verlassen war, wie man es sich als Entführer nur wünschen konnte. Um acht Uhr würde Grothner noch guter Dinge sein. Um acht Uhr und fünfzehn Minuten würde sich das zu einhundert Prozent geändert haben, dessen war sich Marius Kleinhans sicher.

Karl -ausgeliefert

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