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Prolog

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Das flache Gebäude mit dem beschädigten Putz war hinter den hoch wuchernden Holundersträuchern kaum zu erkennen. Die Zufahrt war von Brennnesseln und Disteln überwuchert, und aus den Rissen, die die Witterung jahrelang in die Betonplatten vor dem Haus gegraben hatte, wuchs das Unkraut fast einen halben Meter hoch. Ein Stapel alter Autoreifen, der abseits des Weges stand, war vom Moos grün patiniert. Eine Birke wuchs aus ihm heraus, als habe sie den Reifenstapel als Blumentopf auserkoren. Das SEK »Alpha« bahnte sich nahezu geräuschlos seinen Weg zum Haus. Nur der schwere Atem der Männer unter den schwarzen Helmen war zu hören. Ein unterdrückter Fluch, den einer der Polizisten ausstieß, als er in eine Distel griff, wurde von einem ermahnenden »Pssst« kommentiert. Die Gruppe kam langsam voran und bezog unter den mit grauen Brettern zugenagelten Fenstern des Bungalows Stellung. Der SEK-Beamte, der an der rechten Hausecke kauerte, richtete seine Aufmerksamkeit auf den Bereich seitlich des Hauses, der von seiner Position aus am besten einzusehen war. »Alpha bereit«, knisterte es in den Lautsprechern, die auf Ohrhöhe in den Helmen der fünfköpfigen Einsatzgruppe integriert waren. Die marode Eingangstür würde der Türramme keine Sekunde standhalten, und sobald die Tür geöffnet war, würden Blend- und Nebelgranaten jeden Widerstand der oder des Menschen innerhalb des Gebäudes zur Farce werden lassen.

»Team Bravo bereit. Alpha wartet. Sichert den Ausgang und das Fahrzeug.« Dicht neben dem Bungalow stand ein blauer Renault, auf dessen Dach einige Holzpaletten gestapelt waren und der aussah, als wäre er schon sehr lange nicht mehr bewegt worden. Die fünf Männer spannten ihre Muskeln unter der schwarzen Schutzkleidung an und waren bereit zum Zugriff. Das Bravo-Team sollte das Haus von der Rückseite her betreten, und mit dreißig Sekunden Verzögerung würde das Alpha-Team in das Geschehen eingreifen. Das Zielobjekt war chancenlos und bereits so gut wie in Gewahrsam, wenn es gut lief, oder aber tot, wenn es Probleme geben würde. Der Leiter des Einsatzkommandos, ein Mann namens Gerald Picard, war bei seinem Team hoch angesehen, und es bestand zwischen allen Teammitgliedern und ihm ein starkes Vertrauensverhältnis. Picards Vorfahren waren Hugenotten und hatten ihm den französischen Nachnamen vererbt. Sein Team, zwölf Männer und zwei Frauen, hatte ihm den Spitznamen »Captain«, gegeben wegen seiner Namensvetternschaft mit dem Kommandanten des legendären Raumschiffs Enterprise. Und er, Picard, hatte aus dieser Not eine Tugend gemacht, indem er seinen Leuten ihren Spaß ließ, den sie bisweilen mit ihm trieben. »Captain« Picard gab den Einsatzbefehl auf die ihm zu eigen gewordene Art. »Energie!«

Für die beiden SEK-Teams war dies im Grunde ein Routineeinsatz. Sogar die Gegebenheiten der Szene ähnelten denen des Trainingszentrums, auf dessen Gelände Standardsituationen trainiert wurden. Sie wussten, dass sich die Zielperson im Gebäude befand und sie hatten das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Zwar hatte der Täter wahrscheinlich eine Geisel, aber es war zu erwarten, dass sich diese in einem separaten Raum in Gefangenschaft befand und somit keiner Gefahr ausgesetzt war.

Lautes Krachen und Splittern drang aus dem Gebäude, dann zweimal ein scharfer Knall. Nach dreißig Sekunden zerschmetterte die wuchtige Ramme die Eingangstür, die komplett aus den Angeln gerissen wurde. Weißer Rauch quoll aus der Türöffnung und weitere Nebelgranaten flogen ins Innere des Hauses. Die fünf Männer standen auf und stürmten, die Gewehre in Vorhaltestellung, in das Gebäude, und nach weniger als drei Minuten hatten sie die Zielperson, die keinerlei Gegenwehr leistete, aus dem Gebäude gezerrt und mit dem Gesicht nach unten in die Brennnesseln geworfen. Die Hände und Füße des Mannes waren mit schwarzen Kabelbindern gefesselt und zwei Beamte blieben bei der Zielperson, während der Rest der Mannschaft die Bretter von den Fensteröffnungen riss, um das Gebäude rauchfrei zu bekommen. Noch war der Einsatz nicht abgeschlossen, denn sie mussten nun das Entführungsopfer finden und retten. Wenn der Mann nach über zwei Monaten Geiselhaft überhaupt noch lebte, woran es erhebliche Zweifel innerhalb der Sonderkommission gab.

Schnell hatten sie die Tür entdeckt, die mit einem schweren Vorhängeschloss gesichert war. Der Rauch hatte sich mittlerweile komplett verzogen und das Schloss hielt der Zuwendung durch einen Bolzenschneider nicht stand. Da niemand wissen konnte, was sich hinter der Tür befand, hielten Picard und sein Team noch immer die Gewehre schussbereit in den Händen. Hinter der Tür befand sich eine Treppe, die in den Keller des Gebäudes führte. Unter gegenseitiger Sicherung tastete sich die Gruppe in den Keller. Die einzigen Lichtquellen bildeten die kleinen Ziellampen, die an ihren Sturmgewehren angebracht waren. »Meine Fresse, stinkt das«, entfuhr es Picard, als die Gruppe in eine Wolke beißenden Fäkaliengestanks geriet. Die Treppe endete in einem einzigen Raum, der wohl früher als Vorratskammer diente. Hier fanden sie ihn.

Graue Lumpen bedeckten den völlig ausgemergelten Körper nur dürftig. Im Licht der Gewehrlampen sah die Haut des Mannes aschgrau aus. Die Haare des Entführungsopfers waren ebenfalls grau, verfilzt und hingen ihm in strohigen Strähnen in das bärtige Gesicht. Der Mann blickte sie mit irren Augen an und ein animalischer Laut entfuhr seiner Kehle. Der Boden des Kellers war eine einzige Jauchegrube und die Möblierung bestand lediglich aus einer Aluminiumschüssel, in der ein gebogenes und völlig vertrocknetes Stück Brot lag. Als einer der Beamten versehentlich diese erbärmliche Schüssel umstieß und der Kanten Brot in die Jauche fiel, stürzte sich die Gestalt auf das Brotstück und rettete es aus dem Schlamm, der aus seinen eigenen Exkrementen bestand. Hastig stopfte er das besudelte Brot in den Mund und versuchte, das steinharte Stück herunterzuschlucken. Ohne ein Wort griffen Picard und zwei seiner Leute dem Mann unter die Arme, den fürchterlichen Gestank ignorierend. Fast zu spät stellten sie fest, dass er mit einer Kette an der maroden Klinkerwand des Kellers gefesselt war. Die Kette endete in einem Eisenring, der um den Hals des Mannes gelegt worden war. Der schmutzige, lange Bart und die filzigen Haare hatten den Ring verdeckt, und so hätten die Retter ihm fast das Genick gebrochen, als sie ihn aus diesem Höllenloch befreien wollten. Auch hier war der Bolzenschneider nützlich, und so brachten sie ihn, nach Monaten in diesem Keller, wieder ans Tageslicht, doch es war nichts Menschliches mehr an dem Mann, der vor zwei Monaten und elf Tagen Opfer einer der spektakulärsten Entführungsfälle der Geschichte geworden war.

Viel später, als alle Berichte geschrieben waren und Spurensicherung und Ermittlungsbeamte den Tatort übernahmen, saß »Captain« Gerald Picard mit seinen Leuten in der Stammkneipe des Teams. Sie alle waren sich sicher, noch niemals etwas so Erbarmungswürdiges wie an jenem Nachmittag gesehen zu haben, als sie den Millionär Karl Grothner befreiten. Zumindest das, was von ihm übrig war.

Karl -ausgeliefert

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