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Dreizehn
ОглавлениеKlaus Borkowski war betrunken. Drei Stunden hatte er auf dem harten Stuhl im Vernehmungszimmer gesessen. Er konnte sich wirklich nicht erinnern, wer den Renault gekauft hatte.
»Zweihundert Euro für den Renault dahinten.« Er hatte damals kaum aufgesehen. Er hatte hinter seinem verschmierten Schreibtisch gesessen, der übersät war von öligen Blinkrelais und anderen Fahrzeugteilen, Papieren und Kaffeetassen. Es waren selten Leute auf dem Schrottplatz, um Teile zu kaufen, und er hatte seinen Schwanz rausgeholt und hatte sich einen gewichst, ein zerlesenes Pornoheftchen vor sich. Dann war plötzlich dieser Typ aufgetaucht, war einfach in das Büro marschiert und hatte ihm die Kohle auf den Tisch gelegt. Beim Onanieren erwischt zu werden ist das Schlimmste, was einem Mann passieren kann, und so hatte sich Klaus Borkowski ganz eng an den Schreibtisch gedrückt und den Kopf gesenkt, als studiere er die Bauweise eines Blinkerhebels. Ohne aufzublicken und seinen Kunden zu begrüßen, hatte er nur genickt.
»Schlüssel steckt.«
Der Typ war wieder verschwunden, hatte die Batterie des Renault angeklemmt und den Wagen tatsächlich starten können. Borkowski, der seinen, mittlerweile wieder geschrumpften, Penis wieder verstaut hatte, konnte durch das Fenster sehen, wie der Schrotthaufen von einem Renault den Platz verließ. Dabei hatte er den Mann sehen können, der hinter dem Lenkrad saß, aber diesen Sachverhalt den Bullen mitzuteilen, kam ihm nicht in den Sinn.
Er goss Rotwein in sein Wasserglas und trank es in einem Zug leer.
»Scheiß Bullen. Was habe ich mit dem Mist zu tun?«, lallte er in den Raum, der nach Schmieröl und Schweiß stank. Plötzlich flog die Tür auf und zwei Männer stürmten herein. Maskierte Männer. Einer griff ihm sofort an die Kehle, und bevor Klaus Borkowski begriff, was vorging, war seine Nase gebrochen und die rechte Schulter ausgekugelt. Nicht einmal die Zeit zum Schreien blieb ihm, denn der Angreifer hatte ihm mit der behandschuhten Hand den Mund und die Nase gleichzeitig zugehalten.
»Reden wir über deine letzten Verkäufe hier«, hörte er noch, bevor der Mann ihm das linke Ohr abschnitt und er in einem Meer aus Schmerz versank. Später redete er. Ohne Unterlass. Danach starb er. Als die beiden Männer die Baracke des Schrottplatzbesitzers verließen, klingelte in der Hosentasche des Mannes, der Borkowski das Ohr abgeschnitten hatte, ein Handy. Er nahm das Gespräch an, nachdem er die Rufnummer auf dem Display erkannt hatte. »Ja?«
»Seid ihr schon auf dem Schrottplatz?«
»Ja, aber wir sind hier fertig. Haben aber nur eine Beschreibung von dem Kerl.« Die Stimme am anderen Ende der Leitung schwieg einige Sekunden. »Die Arbeit hättet ihr euch sparen können. Die Polizei hat den Mann schon identifiziert. Ich habe alle Daten von ihm hier. Seht zu, dass ihr da wegkommt und lasst den Schrotthändler in Ruhe, der bringt uns jetzt nichts mehr.«
»Der hat seine Ruhe.«
»Dann ist gut. Bis gleich.« Das Gespräch war beendet und die beiden Männer verließen den Schrottplatz, einer von ihnen grinsend.
Im Keller
Manchmal war es schon hell, wenn er aufwachte. Immer war dann die Flasche gefüllt und es gab zu Essen. Brot. Selten lag eine halbe Salatgurke in der Schale oder eine Möhre. In bestimmten Abständen fand er ein Stück Fleischwurst vor, das war dann immer ein besonderes Geschenk. Was ihm ganz und gar nicht behagte, war, dass er seine Notdurft hier im Keller verrichten musste. Mittlerweile gab es kaum noch eine Stelle auf dem Boden, die sauber war. Er fühlte sich sehr schmutzig. Den Gestank, den seine Hinterlassenschaften erzeugten, nahm er nicht mehr wahr. Er kannte es nicht anders, und so hatte er sich damit abgefunden. Seine Versuche, Kontakt mit demjenigen aufzunehmen, der ihn hier unten eingesperrt hatte, blieben stets erfolglos. Er aß, er trank, er erleichterte sich. Dazwischen schlief er. Und wenn er nicht schlief, lag er mit geschlossenen Augen auf seiner Pritsche und versuchte herauszufinden, wer er war. Doch da gab es nichts, was ihm einfiel. Manchmal sah er Gesichter. Doch die lösten bei ihm nichts aus. Er hatte einen immer wiederkehrenden Traum. Da war ein Tannenbaum. Woher er wusste, dass es ein Tannenbaum war, konnte er nicht sagen, doch es war einer und somit war alles gut. Bunte Kugeln hingen an dem Baum und oben auf der Spitze glänzte ein goldener Stern. Bunte Pakete waren unter den Baum gelegt worden und alle diese Geschenke waren für ihn. Das wusste er. Seine Pakete und Päckchen. Doch immer, wenn er im Traum diese wunderschönen bunten Geschenke auspacken wollte, geschah dasselbe. Es war nie etwas darin. Sie bestanden nur aus dem Geschenkpapier. Waren sie vor dem Auspacken noch schwer und fest, blieb zum Schluss nur das Einwickelpapier übrig. Das machte ihn sehr traurig und er dachte, dass ihn doch jeden Tag aufs Neue jemand beschenkte. Brot, Wasser und manchmal Fleischwurst. Und den Anzug, den er trug. Und die Socken, die allerdings mittlerweile sehr dreckig waren. Wenn er den Geschenketraum hatte, wachte er jedes Mal traurig auf. Ihm war, als wäre da noch jemand in seinem Traum gewesen. Aber dieser Jemand war nie zu sehen. Als stünde er oder sie hinter ihm. Dieser Jemand musste den Baum geschmückt und die Geschenke vorbereitet haben. Betrügergeschenke, die nur Vorfreude erzeugten, die dann aber sofort in Enttäuschung umschlug. Er fühlte, dass dieser Jemand ihn liebhaben musste, wenn er sich solche Mühe machte mit dem Baum und den bunten Päckchen. Und ihn hassen musste, denn immer war die Enttäuschung, die Demütigung, nichts geschenkt zu bekommen, das viel intensivere Gefühl. Und natürlich war das Absicht. Dieser Jemand wollte, dass er sich so fühlte. Der war böse. Anders als derjenige, der ihn hier festgekettet hatte. Dessen Geschenke waren real. Brot, Wasser, der Anzug. Und manchmal eine Möhre.
Wenn das Licht an war, sah er oft seine Hände an. Seine Arme. Er zog sich aus und betrachtete seinen Körper. Das war ER. ER. Die Fußnägel waren zu lang und alles an seinem Körper war schmutzig. Aber das war ER. Aber wer war ER? Nur dieser Körper? Warum war ER nur dieser Körper? Es war für ihn intuitiv klar, dass ER noch mehr war, denn sonst hätte er nicht diese Erinnerungen. Auch wenn er die Gesichter nicht kannte, an die er sich manchmal erinnern konnte, so konnten sie doch nur deshalb in seinem Gedächtnis sein, weil er sie irgendwann wirklich gesehen hatte. Wenn er doch nur wüsste, wie sein Gesicht aussah. Vielleicht würde er dann wissen, wer ER war? Das waren dann die Momente, in denen er nach dem Menschen rief, der ihn hier gefangen hielt. Sein Sprachvermögen war zurückgekehrt und mittlerweile konnte er wieder sinnvolle Sätze bilden. Diese Entwicklung hatte er nicht bewusst wahrgenommen. Für ihn waren alle seine Worte sinnvoll und entsprachen genau dem, was er sagen wollte.
»Hallo? Ist da jemand? So komm doch her! Sag mir, wer ich bin und warum ich hier bin. Ich habe kein Wasser mehr, kann ich noch welches bekommen? Halloooo? Ist denn niemand da?« Stets blieb sein Rufen scheinbar ungehört. Und die temporäre Demenz, die er durch sein Hirntrauma erlitten hatte, mutierte in den Tagen und Wochen seiner Anwesenheit im Keller zu einer ausgewachsenen Psychose. Wahnhaft und von tiefsten Depressionen geprägt, vegetierte er in den Tag hinein. Die Substanz in dem Wasser tat ihr Übriges, um seinen geistigen Zustand noch zu verschlimmern. Er begann in den wenigen Stunden, in denen er nicht schlief, seine fehlende Erinnerung durch Fantasie-Szenen zu ersetzen.. In Ermangelung äußerer Reize schuf er sich eine eigene, völlig abstrakte Welt. Platzende Geschenke, Mondgesichter und Fleischwurst. Das Geräusch der Kette, dieses matte Klimpern, spielte stets eine Rolle, denn es war das einzige Geräusch, das immer präsent war. Bei jeder noch so kleinen Bewegung erzeugte die Kette dieses Geräusch. Er sprach stundenlang mit sich selbst. Nicht zitierfähiges, wirres Zeug von buntem Papier, kreischenden Katzen, der Kette und dem Brot. Der Pfützen und Kothaufen. Einmal war er aufgewacht und vernahm ein neues, aufregendes Geräusch. Ein Summen. Periodisch an- und abschwellend. Dann kurze Pausen und wieder das Summen. Mal hier, mal dort. Es war dunkel. Plötzlich, völlig unerwartet, eine Berührung in seinem Gesicht. Er erschrak, und die Berührung war zu Ende. Als er das nächste Mal im Gesicht berührt wurde, zwang er sich, still liegen zu bleiben, und er konnte fühlen, wie der Reiz, der seine Gefühlsnerven so zum Vibrieren brachte, in seinem Gesicht umherwanderte. Manchmal verharrte er an einer Stelle, seinem Mundwinkel oder unterhalb seiner Nase. Dann war das Gefühl so intensiv, dass er es nicht ertragen konnte und er sich bewegte. Sofort war der Reiz fort und verwandelte sich in dieses Summen.
»Komm doch zurück. Komm her zu mir. Fass mich an.« Doch die Fliege, die sich in den Keller verirrt hatte, fand lukrativere Stellen innerhalb des Kellers, und als er das nächste Mal erwachte, war sie fort. Nicht jedoch, ohne ihre Eier in die unappetitlichen Haufen im Keller gelegt zu haben. Er hatte auf diese Weise sehr viele Mitbewohner bekommen, wie sich später herausstellte. Bald spürte er deren Berührungen nicht mehr, und auch das Summen wurde von seiner selektiven Wahrnehmung ausgeblendet. Wie das Rasseln der Kette.