Читать книгу Karl -ausgeliefert - Bernhard Giersche - Страница 4
Zwei
ОглавлениеKarl Grothner war ein hochgewachsener und stattlicher Mann. Seine leicht ergrauten Haare verliehen ihm noch zusätzliche Autorität, obwohl er die gar nicht benötigte. Als alleiniger Chef des Handelsriesen »Grothner« und alleiniger Anteilseigner der »Grothner Solutions«, die eigentlich ein Geflecht aus verschiedenen Unterfirmen darstellte, gebot er über die veritable Menge von über zehntausend Angestellten. Er war Besitzer von unzähligen Immobilien und hatte sich mit seinen Firmen strukturell unabhängig gemacht. Wenn ihm zum Realisieren seiner Projekte Partner fehlten, buhlte er nicht um Zusammenarbeit, sondern schuf die Firma, die er benötigte, selbst. Transport, Logistik oder IT-Komponenten umrahmten sein Imperium und bildeten den Metabolismus, der es am Leben erhielt. Karl Grothner verfügte über ein Privatvermögen von über vierhundert Millionen Euro und gedachte, seinen Besitz stetig zu mehren. Sein sportlicher Körper steckte in einem dunklen Anzug, seine gesamte Erscheinung war vollkommen makellos. Die glänzenden Lederschuhe wiesen keinen Quadratmillimeter matter Stellen auf, als er aus der Limousine stieg, nachdem ihm der Fahrer die Tür geöffnet hatte. Der schwere, schwarze Land Rover, der stets wie ein Schatten hinter der Limousine des Firmenchefs herfuhr, hatte etwa fünfzig Meter entfernt gehalten. In ihm saßen vier sehr beeindruckende Männer, deren Aufgabe es war, für die Sicherheit des »Chefs« zu sorgen, wie Grothner immer dann genannt wurde, wenn er selbst nicht zugegen war. Ihn in seiner Anwesenheit so zu nennen, hätte niemand gewagt. In diese Verlegenheit kam allerdings niemand, denn Grothner kommunizierte nicht oft mit seinen Angestellten. Er gab Anweisungen, die stets so klar und durchdacht waren, dass es keinen Bedarf an Nachfragen gab. Hätte es diese gegeben, wäre der Frager für die Mitarbeit im Grothner-Imperium auf der Stelle disqualifiziert worden. An manchen weniger guten Tagen hatte Karl Grothner bis zu fünf Kündigungen ausgesprochen. Er verfügte über mehrere Rechtsabteilungen, von denen sich eine ausschließlich mit der Abwicklung der jeweiligen Beschäftigungsverhältnisse befasste.
Karl Grothner ging die wenigen Meter zum Haupteingang des Verwaltungsgebäudes, dessen gesamte Fassade aus verspiegeltem Glas bestand und das einen perfekten Würfel von exakt fünfundvierzig Metern Kantenlänge darstellte. Der Fahrer wartete weisungsgemäß genau dreißig Sekunden, bevor er dem »Chef« mit der schwarzen Aktentasche folgte, die er ihm dann vor die imposante Bürotür stellen würde. Frau Huss, die mausgraue Sekretärin des »Chefs«, würde ihm, wenn Karl Grothner das Gebäude wieder verlassen würde, jene schwarze Tasche exakt dreißig Sekunden später hinterhertragen und in den Kofferraum der Limousine legen. So war es jeden Tag. Zu genau derselben Zeit. Karl Grothner hatte jedes Detail im Ablauf seines Arbeitstages durchorganisiert und genauestens geplant. Jede Abweichung von diesem Schema, sofern von den Angestellten verursacht, führte in die sofortige Arbeitslosigkeit. Karl Grothners Chefsekretärin, Frau Huss, war eine unansehnliche Frau mit einem strengen und völlig altmodischen Dutt. Sie trug stets unauffällige, knöchellange Kleider und eine ebenso unspektakuläre Brille und selten Schmuck oder Parfüm. Ihr unterstand die Buchhaltung und das gesamte Sekretariat, das eine Etage tiefer untergebracht war. Ihr oblag die Auswahl der Schreibkräfte, die zum inneren Zirkel des Grothner-Imperiums gehörten, da sie Zugang zu teilweise sensiblen Daten und Vorgängen hatten. Sie konnte von sich behaupten, es am längsten mit dem »Chef« ausgehalten zu haben, würde das aber niemals tun. Sie war wie ein Schatten, wie der Mensch gewordene Nachhall seiner Persönlichkeit und Autorität. Als sie sich vor über fünfzehn Jahren auf die Stelle der Chefsekretärin bewarb, war sie in einem grauen Kostüm zum Bewerbungsgespräch erschienen und hatte fachliche Kompetenz bewiesen und das nötige Maß an Unterwürfigkeit mitgebracht, um die Stelle zu bekommen. Leidensfähigkeit musste sie erst lernen, aber Karl Grothner war diesbezüglich ein guter Lehrmeister. Sie lernte mit der absoluten Emotionslosigkeit des Konzernchefs zu leben, wie man es lernen mag, mit einer Krebserkrankung umzugehen. In den ersten Jahren litt sie seelisch Höllenqualen, wenn Grothner menschliche Existenzen mit eiskaltem Kalkül zerstörte. Sie sah ehemalige Firmenbesitzer geschockt und in Tränen aufgelöst aus Grothners Büro schleichen, nachdem deren Unternehmen vom ständig wachsenden und unersättlichen Grothner-Konzern geschluckt und zerschlagen wurden. Sie musste herzzerreißend weinende ehemalige Mitarbeiter abweisen, wenn diese trotz ihres Leids noch den Mut fanden, mit dem »Chef« persönlich über ihre Entlassung reden zu wollen. Und sie musste dies mit der gleichen Kälte tun wie der »Chef« selber. Sonst würde sie die Nächste sein, die gehen musste. In ihrer Position entwickelte sie eine Art »Stockholm-Syndrom«, die Identifikation mit dem Aggressor. Sie arbeitete schon lange nicht mehr für Geld, sie gehörte Grothner. Wie alles um Karl Grothner herum Karl Grothner gehörte.
Der Fahrer hatte die schwarze Ledertasche vor dem Chefbüro abgestellt, Frau Huss kaum wahrnehmbar zugenickt und war gegangen. Der »Chef« war dreißig Sekunden vorher wie immer mit regungslosem Gesicht an ihr vorübergegangen und hatte lautlos die Tür zu seinem Büro geöffnet. Auf seinem schlichten Schreibtisch hatte er eine Tasse schwarzen Kaffee und die Terminliste vorgefunden. Sie nahm die schwarze Tasche und öffnete ohne anzuklopfen die Tür. Er hob nicht einmal den Kopf, wusste er doch, dass sie es war. Karl Grothner saß vor seinem Notebook, und an den Bewegungen seiner grauen Augen konnte sie erkennen, dass er dabei war, seine Korrespondenz zu sichten. Der Chef wusste, dass sie die Tasche nun öffnen und in der Reihenfolge Schnellhefter, Smartphone und Plastikdose mit zwei geschnittenen Äpfeln auspacken und die Gegenstände in vorgeschriebener Ordnung auf dem Schreibtisch platzieren würde.
Wie jeden Tag. Und wie jeden Tag gab er ihr, wieder ohne aufzusehen, sein Diktiergerät mit den Anweisungen für den Tag. Sie nahm es entgegen und war peinlich bemüht, seine feingliedrigen Finger dabei nicht zu berühren. So viel intime Nähe zu diesem Mann wäre für sie unerträglich gewesen. Eine Berührung wäre ein Tabubruch gewesen. In den fünfzehn Jahren, die sie ihn nun kannte, hatte sie nie beobachtet, dass Karl Grothner von irgendjemandem berührt worden war. Er gab niemals jemandem die Hand. Möglichst ohne ein Geräusch zu verursachen, verließ sie sein Büro und nahm auf ihrem Bürostuhl Platz, vor sich den Schreibtisch, der wie ein verkleinertes Abbild des Tisches vom »Chef« aussah.
Sie schaltete das Diktiergerät ein. Karl Grothners tiefe, sonore und doch kalte Stimme erfüllte das Vorzimmer. »Predeick um neun. Quartalszahlen Innvotec-Grothner bis zehn. Den Schweizern absagen. Termin Börsenblatt absagen. Termin Ministerium an Berhues delegieren. Max Fresenius entlassen, Vollzug an mich bis fünfzehn Uhr. Telefonate nur von Dr. Krieger und Herrn Walther durchstellen. Bildschirmkonferenz moderieren Sie. Unterlagen sind im Netzwerk. Brinkmann vom Sicherheitsdienst um sechzehn Uhr bestellen.«
Ein Tag wie jeder andere. Sie atmete auf. Max Fresenius war der Facility-Manager des Verwaltungsgebäudes. Früher hätte man »Hausmeister« gesagt. Frau Huss wusste nicht, was der etwa fünfzig Jahre alte Fresenius verbrochen hatte, vielleicht war nur eine Glühbirne auf dem Männerklo defekt oder es wuchs Unkraut in den schmalen Beeten vor dem Glaskubus. Fresenius war auch für die Wartung des Fuhrparks zuständig. Möglicherweise gab es eine leuchtende Warnlampe in der Cheflimousine.
Es war ihre Aufgabe, den Kündigungsgrund zu formulieren, Fresenius davon in Kenntnis zu setzen und die Rechtsabteilung zu informieren. Ein Memo ging an die Sicherheitsabteilung, die dafür sorgte, dass der Mann seine Sachen packte und dann das Firmengelände verließ und nicht wiederkehrte. Sie erledigte alles innerhalb einer halben Stunde und pflegte die vakant gewordene Stelle in die Firmen-Homepage ein. Routine, die sie mittlerweile ebenso emotionslos erledigte, wie der »Chef« sie anordnete. Keine Fragen.