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1. Literacy Studies
ОглавлениеKinderliteratur und Kognition
Eine wesentliche Eigenschaft von Kinder- und Jugendliteratur ist, dass sie auf den kognitiven, emotionalen und sprachlichen Entwicklungsstand von Kindern und Jugendlichen Rücksicht nimmt, ob das nun altmodisch als „Kind- und Jugendgemäßheit“ oder in neueren Studien als „Akkomodation“ (Ewers 2000) bezeichnet wird. Die Anpassung an soziale, ethische, gesellschaftliche und ästhetische Vorstellungen der Zeit wird dagegen oft mit dem Begriff „Akkulturation“ umschrieben. Eine wichtige Rolle spielt dabei sicher das Konzept der „Einfachheit“, dessen Bedeutung für das Verständnis von Kinder- und Jugendliteratur von Maria Lypp (1984; 2000) und Perry Nodelman (2008) herausgestellt wurden. Dieser Ansatzpunkt, so einfach er in mancher Hinsicht wirken mag, ist eine Herausforderung für alle diejenigen, die einen primär literaturgeschichtlichen Zugang zur Kinder- und Jugendliteratur wählen bzw. deren theoretischer Fokus es ist, die Kinder- und Jugendliteratur als spezifisches Handlungssystem von der Erwachsenenliteratur abzugrenzen. Wenn Kinder- und Jugendliteratur eine Literatur ist, die auf die kognitiven und sprachlichen Fähigkeiten und Interessen ihrer Adressaten Rücksicht nimmt, muss man also genau erklären, wie diese Anpassung geschieht. Dass ein wesentliches Merkmal von Kinderliteratur darin besteht, sich in bestimmter Weise an die kindliche Zielgruppe anzupassen, ist bekannt. Allerdings ist bislang kaum darüber reflektiert worden, inwiefern Kinderliteratur eine Schlüsselposition hinsichtlich des Verständnisses des Phänomens „Literatur“ einnehmen kann, um auf diese Weise die enge Verzahnung von Kinderliteratur und Erwachsenenliteratur zu analysieren.
Verschiedene Formen von Literacy
Diese grundlegenden Aspekte, die sowohl für die allgemeine Literaturwissenschaft als auch für die Literaturdidaktik von großem Interesse sein dürften, können nur durch einen interdisziplinären Zugang, der Ergebnisse der Kinderliteraturforschung, kognitiven Psychologie, Spracherwerbsforschung und Literacy Studies berücksichtigt, erforscht werden. Einen wichtigen Beitrag haben hierbei die Literacy Studies geleistet. Mit dem Begriff „Literacy“ werden nicht nur die Fähigkeiten des Lesens und Schreibens bezeichnet (sogenannte Functional Literacy), sondern auch weitere grundlegende Kompetenzen wie Textverständnis, Vertrautheit mit Literatur und anderen Medien sowie Erfahrungen mit der Lese-, Bild- und Erzählkultur. Man unterscheidet dabei drei spezifische Formen: a) Literary Literacy, d.i. die Fähigkeit, Literatur zu verstehen und auch selbst zu produzieren; in der deutschen Forschung als „Literaturerwerb“ bezeichnet, b) Visual Literacy als die Fähigkeit, Symbole und Zeichen in Bildern zu verstehen (Bilderwerb), und c) Media Literacy als die Kompetenz, mit verschiedenen Medien (Printmedien, AV-Medien, interaktive Medien) umgehen zu können. Die damit verbundenen Fähigkeiten werden in einem offenen Erwerbsprozess erworben, der nicht nur die Kindheits- und Jugendphase, sondern auch den erwachsenen Leser einschließt.
Literarische Sozialisation
Die Literacy Studies weisen zwar einige Gemeinsamkeiten mit der literarischen Sozialisationsforschung auf, sind aber im Gegensatz zu diesem theoretischen Ansatz weitaus breiter angelegt. Die literarische Sozialisationsforschung geht der Frage nach, wie jemand zu einem Leser bzw. einer Leserin wird, wobei sie das Augenmerk ausschließlich auf literarische Texte richtet und folglich nicht-fiktionale Texte wie etwa Sachliteratur oder Zeitungen ausschließt. Im Gegensatz zur Leseforschung bezieht sie dagegen literarische Sozialisationsformen ein, die nicht auf der Lektüre beruhen, d.h. sie untersucht die frühkindliche literarische Sozialisation (z.B. Vorlesesituationen) ebenso wie den Einfluss anderer Medien auf die literarische Rezeptions- und Produktionsfähigkeit.
Early Literacy
In vielen Studien konnte nachgewiesen werden, dass die basalen kognitiven, emotionalen und ästhetischen Fähigkeiten, die für das Verstehen von Literatur relevant sind, bereits im Vorschulalter erworben werden, wenn Kinder ab dem Alter von 10 bis 12 Monaten mit Kleinkindbilderbüchern – zumindest in westlichen Kulturen – in Kontakt kommen. Die Literacy-Konzepte und -kenntnisse, die Kinder in der Vorschulzeit erwerben, werden als Early Literacy oder zuweilen auch als Emergent Literacy bezeichnet. Um diesen Erwerbsprozess detaillierter zu beschreiben, sind zahlreiche empirische Studien durchgeführt worden, die sich vor allem auf die Vorlesesituation im Vorschulalter und den kindlichen Erzählerwerb fokussierten (Braun 1995; Boueke et al. 1994; Jones 1996; Wieler 1997). Im Rahmen dieses Erwerbsprozesses spielt Kinderliteratur (später kommen noch andere Kindermedien hinzu) eine wichtige Rolle. Denn die frühkindlichen Erfahrungen mit Literatur sind einerseits bestimmt durch den mündlichen Vortrag von Kinderliedern, Kinderversen und Geschichten, andererseits durch das gemeinsame Betrachten und Vorlesen von Bilderbüchern und Kinderbüchern. Kleine Kinder werden zunächst an das Konzept „Buch“ herangeführt, erfassen durch das Betrachten der Bilder visuelle Codes (Bilderwerb) und werden durch das Zeigen und Benennen der abgebildeten Gegenstände bei ihrem Wortschatzerwerb unterstützt. Diese Korrelation macht schon deutlich, dass Bilderwerb, Spracherwerb und Literaturerwerb eng miteinander verzahnt sind. Später werden Kinder mithilfe komplexerer Bilderbücher und Kinderbüchern mit einfachen Geschichten mit dem Konzept „Narration“ vertraut gemacht. Darüber hinaus werden die kindlichen Rezipienten allmählich an literarische Phänomene herangeführt. So wurde im Rahmen der Early Literacy-Forschung nachgewiesen, dass Kinder im Vorschulalter schon erste Kenntnisse bestimmter literarischer Funktionen und Formen erwerben, z.B. Genrebewusstsein, Fiktionsbewusstsein, Verstehen von Komik und indirektem Sprachgebrauch (Metapher, Ironie) sowie rudimentäres Wissen über Intertextualität und die Bedeutung der Erzählerperspektive. Diese Kenntnisse unterstützen die zunehmende Fähigkeit, über Sprache und Literatur zu reflektieren. Man bezeichnet diese Fähigkeit als metalinguistische bzw. metaliterarische Aufmerksamkeit (Gombert 1992; Kümmerling-Meibauer 2003). Diese Kenntnisse werden nicht nur passiv erworben, sondern im spielerischen Umgang von den Kindern selbst angewendet. Kinder erwerben die Fähigkeit, selbst Geschichten zu erzählen, und dies geht Hand in Hand mit dem Verstehen komplexer Strukturen in literarischen Texten.
Interaktion verschiedener Literacy-Formen
Mit dem Eintritt in die Schule beherrschen die Kinder weitgehend ihre Muttersprache, doch der Erwerb der Fähigkeit zu lesen und zu schreiben (Literacy im engeren Sinne) beginnt erst. Das Kind wird nun mehr und mehr fähig, Literatur selbständig zu rezipieren und zu produzieren. Diese ganzen Erwerbsprozesse sind äußerst diffizil, zumal dann, wenn verschiedene Literacy-Formen interagieren wie etwa beim Bilderbuch, Kinderfilm oder Computerspiel. Der potenzielle Nutzer muss dann Kenntnisse über visuelle und sprachliche Symbole besitzen, um die auf der Text- und Bildebene (beim Film und Computerspiel noch ergänzt um eine auditive Ebene) vermittelten Inhalte angemessen zu verstehen. Die Interaktion verschiedener Symbolsysteme in einem Medium wird als „Multimodalität“ bezeichnet, einem Ansatz, der von Gunter Kress und Theo van Leeuwen entwickelt wurde und darauf aufmerksam macht, dass diese Symbolsysteme nicht hierarchisch angeordnet sind, sondern gleichberechtigt nebeneinander stehen. Darüber hinaus besitze jedes Symbolsystem eine eigene „Grammatik“, die nicht angeboren, sondern durch einen langwierigen Prozess erworben werde (Kress 1997; Kress/van Leeuwen 1996).
Es hat schon einige fruchtbare Versuche gegeben, das Zusammenspiel von Kinderliteratur und Literacy, auch unter Berücksichtigung des kindlichen Spracherwerbs, zu analysieren, (u.a. Hall et al. 2003; Jones 1996; Klein/Meibauer 2011; Kümmerling-Meibauer 2011; Rau 2007), die Forschung steckt in diesem Bereich noch in den Kinderschuhen.