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4. Klassik- und Kanonforschung

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Klassiker- und Kanondebatte

Die Frage nach den Auswahlkriterien für den Klassikerstatus kinderliterarischer Werke hat ebenso heftige Diskussionen hervorgerufen wie die Überlegungen, ob ein Kanon der Kinder- und Jugendliteratur überhaupt notwendig sei. Die ideologiekritischen Vorbehalte gegenüber den etablierten Kinderklassikern führten in den 1970er Jahren dazu, dass man dem traditionellen Klassikerbegriff gegenüber skeptisch blieb (Dahrendorf 1980; Doderer 1969). Eine Neubesinnung setzte erst im Zuge der allgemeinen Klassik- und Kanondebatte in der Germanistik und anderen Philologien seit Mitte der 1980er Jahre ein. Drei Fragestellungen standen im Vordergrund: erstens Definitionsversuche des Klassikerbegriffs; zweitens Eingrenzung und Typologie des Klassikerkanons und drittens Ansätze zu einer Theorie des Klassischen. Bis heute scheiden sich die Kinderliteraturforscher im Hinblick auf eine Klassikerdefinition in zwei Lager: auf der einen Seite orientiert man sich am Postulat der Popularität und Langlebigkeit, ergänzt um eine wirkungs- und rezeptionsgeschichtliche Perspektive (Hurrelmann 1995, O’Sullivan 2000), auf der anderen Seite hebt man die literarische Qualität und Vorbildfunktion als wesentliche Kriterien hervor (Kümmerling-Meibauer 1999a, Nodelman 1985). Eine Verbindung dieser synchronen und diachronen Merkmale wird in Kümmerling-Meibauer 2003 vorgeschlagen. Hinsichtlich der Typologie ist die Unterscheidung zwischen klassischem Werk, klassischem Autor und klassischer Epoche bzw. Epochenabschnitt (in einigen Ländern wie Großbritannien, Norwegen oder den USA hat sich der Begriff „Goldenes Zeitalter der Kinderliteratur“ für die Bewertung einer bestimmten Zeitspanne durchgesetzt) noch nicht hinreichend erforscht und reflektiert worden. Eine weitere wichtige Unterscheidung betrifft die Abgrenzung von älteren und modernen Kinderklassikern, wobei die allgemein akzeptierte Zeitgrenze das Jahr 1945 darstellt. Die damit einhergehende Debatte über die Dialektik von Wahrnehmung der Historizität und Wahrnehmung der überzeitlichen Geltung hat der Klassik- und Kanonforschung großen Auftrieb gegeben.

Bestimmung des Klassikerbegriffs

Die Schwierigkeiten, den Kinderklassikerbegriff präziser zu erfassen und wissenschaftlich zu begründen, hängen einerseits mit der nicht reflektierten Übertragung des Klassikbegriffs der Allgemeinliteratur auf die Kinder- und Jugendliteratur, zum anderen mit dem beschränkten Kinderklassiker-Korpus (in der Regel beziehen sich entsprechende Studien auf eine Auswahl von ca. 20-30 Werken mit einer Dominanz der angloamerikanischen Kinderklassiker) zusammen. In nur wenigen Fällen wird diese Übertragung als Analogie in dem Sinne verstanden, dass klassische Kinder- und Jugendbücher für den Bereich der Kinder- und Jugendliteratur das leisten können, was klassische Werke für Erwachsene für den Bereich der Hochliteratur bedeuten, nämlich diese als Bestandteil des „kulturellen Gedächtnisses“ zu verstehen. Da die Auseinandersetzung mit dem Klassiker-Konzept untrennbar mit dem Aspekt der Kanonisierung und (literarischen) Bewertung verknüpft ist, ergeben sich hierbei äußerst komplexe Fragestellungen. Neben der Bedeutung eines kinderliterarischen Kanons für das „kulturelle Gedächtnis“, wurden noch der Zusammenhang mit der „literarischen Bildung“ (als einem Bestandteil literarischer Rezeptionskompetenz) sowie dem zugrundeliegenden Kindheitskonzept diskutiert. Da die berühmtesten Kinderklassiker durch Medienverbundsysteme und Merchandising über Jahrzehnte hinweg immer wieder in neuen medialen Formen präsent sind, nehmen diese weiterhin als transmediale Long- und/oder Bestseller einen bedeutenden Platz in der aktuellen Kinder- und Jugendliteratur ein. Welchen Einfluss die damit einhergehenden Änderungen der literarischen Originalvorlage in Form von Modernisierungen, Adaptionen und Remediationen auf die Rezeption und das Verständnis der zugrunde liegenden Geschichte und ihrer Figuren haben, ist wiederholt analysiert worden und ist ein beliebter Gegenstand medienhistorischer und medientheoretischer Studien, ebenso die Umschreibung bzw. Adaption von klassischen Werken der Erwachsenenliteratur für Kinder und Jugendliche, auch in Form von Bilderbüchern (Zöhrer 2011).

Weltliteratur für Kinder

Kinder- und Jugendliteratur war schon früh „Weltliteratur“. Daher sollten nationale Kinderliteraturen immer im Kontext der internationalen Kinderliteratur betrachtet werden. Erich Kästner oder Astrid Lindgren sind in diesem Sinne internationale Autoren, die deshalb auch in die meisten Weltsprachen übersetzt worden sind. Der literaturtheoretische Diskurs über den Kinderklassikerbegriff ist folglich verzahnt mit dem Konzept einer „Weltliteratur für Kinder“, das auf Überlegungen von Paul Hazard (1925) zurückgeht. Hazards Ideen sind wegen ihres Eurozentrismus und ihrer „naiven“ Sichtweise auf die tatsächlichen Produktions- und Vertriebsverhältnisse auf dem internationalen Buchmarkt wiederholt kritisiert worden (O’Sullivan 2000). Eine Basis für eine Neubestimmung des Begriffs bietet der theoretische Ansatz der Post-Colonial Studies, der dazu beigetragen hat, den tradierten Weltliteratur-Begriff kritisch zu reflektieren. Das Plädoyer für eine Erweiterung des Kanons um nicht-europäische, indigene Literaturen führte zu einer veränderten Perspektive auf die Peripherie. Im Rekurs auf die Idee einer „New World Literature“ bedeutet diese Forderung den kosmopolitischen Einschluss von Literaturen aus Dritte-Welt-Ländern, aber auch von Minderheiten und Migranten. Die durch diese Überlegungen ausgelöste Debatte ist eng mit der Kanonisierung bzw. De-Kanonisierung von Kinder- und Jugendliteratur verknüpft. Die Forderung nach einer Neubesinnung und kritischen Reflexion des kinderliterarischen Kanons hat auf der einen Seite dazu geführt, den Normcharakter des Kinderliteraturkanons kritisch zu überprüfen, auf der anderen Seite historische Studien zur Kanonforschung angeregt. Ausgangspunkt dieser Untersuchungen war die Frage, aus welchen Gründen Kinder- und Jugendliteratur nicht als Bestandteil der Allgemeinliteratur angesehen und folglich de-kanonisiert worden ist. Dies zeigt sich u.a. daran, dass Kinder- und Jugendliteratur in der Regel nicht in nationalen Literaturgeschichten berücksichtigt oder nur marginal, oft in Verbindung mit abwertenden Einschätzungen, behandelt wird. Um diese Fragen hinreichend beantworten zu können, müssten sowohl die Wissenschaftsgeschichte der Kinderliteraturforschung als auch der historische Wandel der Bewertung von Kinder- und Jugendliteratur anhand historischer Quellen (Literaturgeschichten, Literaturkritiken, Schul- und Lesebücher, Leselisten usw.) erforscht werden. Entsprechende Studien liegen bislang nur zu Deutschland (Kümmerling-Meibauer 2003) und den USA (Clark 2003) vor.

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