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5. Crosswriting

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Begriffsbestimmung

Die Kinder- und Jugendliteratur ist historisch immer auf die Erwachsenenliteratur bezogen. Sie nimmt deren Strömungen auf, agiert zum Teil aber auch als Avantgarde. Kinder- und Jugendliteratur und Erwachsenenliteratur gehören zusammen, sollten also auch in ihren wechselseitigen Beziehungen erforscht werden. Nimmt man diese Thesen ernst, so stellen sich für die (Kinder-)Literaturwissenschaft folgende Fragen: Schreiben Autoren anders, wenn sie sich an verschiedene Zielgruppen richten? Gibt es literarische Werke, die sich sowohl an Kinder und Jugendliche als auch an Erwachsene richten? Und: Warum enthalten viele Kinderbücher Informationen, die offenbar nur von einem erwachsenen Mitleser verstanden werden können? Obwohl es zu diesen Fragen schon seit den 1980er Jahren Untersuchungen gibt, so etwa der Sammelband Kinderliteratur – Literatur auch für Erwachsene? (1990) von Dagmar Grenz oder die Studie Poetics of Children’s Literature (1986) von Zohar Shavit, hatte erst ein special issue des Jahrbuches Children’s Literature (1997) mit dem ungewöhnlichen Titel „Crosswriting“ die entsprechende Fanalwirkung. Die Begriffsbildung Crosswriting ist selbst ein Kunstwort und geht offensichtlich auf die beiden Herausgeber U.C. Knoepflmacher und Mitzi Myers zurück, die den Terminus in Analogie zu dem Begriff „Crossover Literature“ des viktorianischen Satirikers Samuel Butler bildeten (Knoepflmacher/Myers 1997). Crosswriting lässt sich – auch aufgrund der Ambivalenz des Wortes „cross“ – nicht adäquat ins Deutsche übersetzen, weshalb der englische Begriff beibehalten wird.

Formen des Crosswriting

Drei Formen des Crosswriting werden im Allgemeinen unterschieden. Zunächst macht Crosswriting darauf aufmerksam, dass es eine wachsende Anzahl von Autoren und Autorinnen gibt, die literarische Werke sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene schreiben, man denke nur an Autoren wie Bertolt Brecht, Hans Magnus Enzensberger, Peter Härtling, E.T.A. Hoffmann, Erich Kästner, Christian Morgenstern und Joachim Ringelnatz. Außerdem referiert Crosswriting auf das Phänomen des rezipientenübergreifenden Schreibens, d.h. ein kinderliterarisches Werk spricht sowohl Kinder als auch Erwachsene an, wobei verschiedene Bedeutungsebenen herausgeschält werden können. In der deutschsprachigen Forschung haben sich für diese Form des gleichzeitigen Ansprechens zweier Lesergruppen die Termini Mehrfachadressiertheit oder doppelsinniges Kinderbuch etabliert (Ewers 2000). Dieser Gruppe ordnet man viele Kinderklassiker, aber auch zahlreiche moderne Kinder- und Jugendbücher zu, so etwa E.T.A. Hoffmanns Nußknacker und Mausekönig (1816) oder Cornelia Funkes Tintenwelt-Trilogie (2003–2007) (vgl. Kapitel V.1 und V.6). Zuletzt verweist Crosswriting auf die Tatsache, dass ein zunächst als Erwachsenenbuch konzipiertes Werk von demselben Autor/derselben Autorin in ein Kinderbuch umgeschrieben wird oder umgekehrt. Für die deutschsprachige Kinder- und Jugendliteratur kann stellvertretend Leonie Ossowski genannt werden. Unter dem Pseudonym Jo Tiedemann veröffentlichte sie 1956 bei einem Ostberliner Verlag ihren Erwachsenenroman Stern ohne Himmel, der 1978 in einer gekürzten und sprachlich bearbeiteten Version als Kinderbuch publiziert wurde. Hiervon zu unterscheiden sind die kinderliterarischen Adaptionen von Werken der Erwachsenenliteratur durch andere Autoren, wie dies etwa mit Daniel Defoes Robinson Crusoe (1719/20; dt. 1720) oder Jonathan Swifts Gulliver’s Travels (Gullivers Reisen, 1726; dt. 1727) mehrfach geschehen ist. Für eine Theorie des Crosswriting sind diese Adaptionen ebenfalls von großem Interesse. Die Konzeption des Crosswriting hat man mittlerweile auch auf andere mediale Formen, z.B. das Bilderbuch oder den Kinderfilm, übertragen (Beckett 2011; Kümmerling-Meibauer/Koebner 2010).

Crossover Literatur

Der Begriff „Crossover Literatur“ – oft auch als „All Age Literatur“ bezeichnet – ist zwar eng mit dem Konzept des Crosswriting verbunden, verweist darüber hinaus aber auf das Phänomen, dass sich die Kinder- und Jugendliteratur auf der einen Seite und die Erwachsenenliteratur auf der anderen Seite hinsichtlich der Themen, Formen und narrativen Strukturen immer mehr einander angleichen, so dass es bei manchen Werken zuweilen schwierig ist, sie einem Literaturbereich eindeutig zuzuordnen (Beckett 1999, 2009; Blümer 2009; Blume 2005; Falconer 2009). Der Terminus „Crossreading“ dagegen referiert auf das Phänomen, dass Erwachsene Kinder- und Jugendliteratur lesen, während Jugendliche ein vermehrtes Interesse an der Erwachsenenliteratur zeigen, vor allem im Bereich der Fantasyliteratur.

Zusammenhang mit anderen theoretischen Fragestellungen

Über die Erstellung einer Typologie des Crosswriting und den Vergleich von Werken desselben Autors, die sich an Erwachsene und/oder Kinder und Jugendliche richten, hinaus ist das Phänomen des Crosswriting für verschiedene literaturhistorische und theoretische Fragestellungen von großer Bedeutung, etwa für die historische Kanonforschung, das Konzept der Intertextualität, die Narrationsforschung, die Frage nach dem Remake bzw. dem Verhältnis von Original und Kopie, dem Einfluss künstlerischer Avantgarden auf die Kinder- und Jugendliteratur, die Untersuchung verschiedener Leserrollen von Erwachsenen oder die Analyse der zugrundeliegenden Kindheitsbilder. Obwohl das Phänomen, dass Autoren sowohl für Kinder als auch für Erwachsene schreiben, sich bereits seit dem 18. Jahrhundert nachweisen lässt, hat sich die allgemeine Literaturwissenschaft dieses theoretisch hochinteressanten Aspektes bisher nicht angenommen. Offenbar hat man noch gar nicht die Brisanz dieser Thematik erkannt, denn hier ergibt sich die Chance, auf die enge Verzahnung von Kinder- und Jugendliteratur mit der Erwachsenenliteratur hinzuweisen und folglich die Schnittstellen zwischen beiden Literaturbereichen genauer zu analysieren.

Kinder- und Jugendliteratur

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