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2. Begriffsgeschichte
ОглавлениеProbleme der Eingrenzung
Die wissenschaftliche Diskussion über die Bedeutung des Begriffs „Literatur“ hat zu immer neuen Kontroversen geführt hat, die hier nicht im Einzelnen wiederholt werden sollen. Ebenso wird an dieser Stelle nicht im Detail über die Bedeutung der Begriffe „Kind“, „Jugend“ und „Kindheit“ reflektiert. Es ist jedoch festzuhalten, dass diese Begriffe im Verlauf der Jahrhunderte unterschiedliche Bedeutungen erhielten und entsprechend auch verschiedene Altersabstufungen umfassten. Hinzu kommt noch, dass bis in die 1960er Jahre hinein diese Begriffe weitgehend synonym verwendet wurden und die dem Erwachsenendasein vorausgehenden Lebensphasen bezeichneten (Lesnik-Oberstein 1994; Wild 1993). Mit dem Wandel der Kindheitskonzepte befasst sich neben der Kinderliteraturforschung auch die Kindheitsforschung (vgl. Kapitel III).
Erste Begriffsbildungen
Die Bezeichnungen „Kinderliteratur“ bzw. „Jugendliteratur“ kommen in älteren Wörterbüchern und Universallexika nicht vor (z.B. Jakob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, Leipzig 1854ff. (= DWb), Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache, Braunschweig 1802ff.). Die einzigen relevanten Stichworte sind „Kinderbuch“ (DWb 11, 734), „Kindergeschichte“ (Campe 2, 929), „Kinderschrift“ (DWb 11, 747), „Jugendbuch“ (Campe 2, 853) und „Jugendschrift“ (DWb 10, 2367), die aber weder etymologisch abgeleitet noch detailliert erklärt werden. Der Begriff „Jugendliteratur“ hat sich seit Detmer (1842) eingebürgert und wird als Äquivalent für den älteren Terminus „Jugendschrift“ verwendet. Der erste Beleg für das Kompositum „Kinderliteratur“ findet sich bei Wilhelm Buchner (1852) und später bei Carl Kühner (1862), wobei die Autoren die Neubildung nicht explizit von den Begriffen „Jugendliteratur“ bzw. „Jugendschrift“ abgrenzen, sondern diese zuweilen synonym verwenden (Kümmerling-Meibauer 2003). In den Literaturgeschichten des 19. und 20. Jahrhunderts wird in der Regel nicht genau zwischen kinder- und jugendliterarischen Werken differenziert. Die Verfasser verwenden die Termini „Kinderschrift“, „Kinderbuch“, „Jugendroman“ und „Jugendlektüre“, ohne die Unterschiede zu benennen, eine Tendenz, die sich auch bei den Kinderliteraturgeschichten von Wilhelm Fricke (1886), Irene Dyrenfurth-Graebsch (1967) und Adelbert Merget (1866) beobachten lässt. Am häufigsten wird die Umschreibung „Kinder- und Jugendschriften“ gewählt, im Verlauf des 19. Jahrhunderts wird aber der Begriff „Jugendliteratur“ oder „Jugendschrift“ als Bezeichnung für das gesamte Schrifttum für Kinder und Jugendliche favorisiert. Der Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ setzte sich dagegen erst gegen Mitte des 20. Jahrhunderts durch.
Differenzierung nach Altersstufen
Im 18. Jahrhundert ist bei Campe (1778) allerdings schon eine Ausdifferenzierung von Kindheit und Jugend als Altersstufen zu erkennen, ohne dass deren Terminologie sich langfristig durchsetzte. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts gehen die mit dem Begriff „Kind“ gebildeten Komposita merklich zurück. Seitdem dominierten die Bezeichnungen „Jugendschrift“ bzw. „Jugendliteratur“. Die ersten geschichtlichen Darstellungen zur Kinder- und Jugendliteratur tragen sämtlich mit „Jugend“ gebildete Komposita im Titel. Die Unterscheidung von „Jugendliteratur“ und „Jugendlektüre“ geht auf Carl Kühner (1862) zurück, an den sich Heinrich Wolgast (1896) anschließt. Eine weitere Begriffsverwirrung entsteht dadurch, dass seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Bezeichnungen „Jugendliteratur“ und „Volksliteratur“ häufig synonym verwendet werden. In vielen Buchtiteln oder Kapitelüberschriften werden beide Begriffe zusammengefasst, als Standarduntertitel wird oft auf die Formel „Für Volk und Jugend“ zurückgegriffen. Diese Gleichsetzung geht auf die Vorstellung der Romantik zurück, dass eigentlich nur die ältere, mündlich tradierte Volksliteratur (Märchen, Sage, Legende, Volkslied) die dem Kind angemessene Literatur sei. Dies führt im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu einer Überschneidung der Begriffe Volks- und Jugendliteratur, wobei man die Interessen und literarische Kompetenz von Kindern/Jugendlichen und dem Volk gleichsam auf eine Stufe stellte (Kümmerling-Meibauer 2003).
Terminologische Überlegungen
Erst Ende der 1920er Jahre setzt sich der Begriff „Kinderliteratur“ zunächst im Bereich der proletarischen bzw. kommunistischen Kinderliteratur-Kritik durch, um die negative Konnotation, die mittlerweile mit dem Wort „Jugendliteratur“ einhergeht, zu vermeiden (Hoernle 1929). Die wachsende Bedeutung des Begriffs „Kinderliteratur“ geht auch auf den Einfluss der ausländischen Terminologie zurück. Denn in der englischsprachigen, skandinavischen, ost- und südeuropäischen Kinderliteraturforschung wird in der Regel keine Unterscheidung zwischen Kinder- und Jugendliteratur getroffen, sondern nur von „Kinderliteratur“ (children’s literature, barnlitteratur, detskaja literatura, littérature enfantine) gesprochen. In der Nachkriegszeit etabliert sich in der DDR und BRD der Begriff „Kinderliteratur“ zusammen mit demjenigen der „Jugendliteratur“. Als Bezeichnung des literarischen Gesamtkomplexes wählt man entweder „Kinder- und Jugendliteratur“ (Brüggemann 1966, Scherf 1975) oder nur „Kinderliteratur“ (Hürlimann 1959). Trotz vielfach geäußerter Kritik hält man in der deutschsprachigen Kinderliteraturforschung – mit einigen Ausnahmen – weiterhin an dem Doppelbegriff „Kinder- und Jugendliteratur“ fest, obwohl die Grenzziehung zwischen beiden Bereichen – außer über eine willkürliche Festlegung einer Altersgrenze hinaus – weder pädagogisch noch entwicklungspsychologisch eindeutig begründet werden kann. Der noch im 18. und 19. Jahrhundert ungebräuchliche Begriff „Jugendbuch“ (Thalhofer 1925) wird in der westdeutschen und österreichischen Kinder- und Jugendliteraturkritik nach 1945 zum Schlüsselbegriff. Der „spezifischen Jugendliteratur“ wird dabei das „gute Jugendbuch“ (Bamberger 1965) entgegengesetzt. Der Begriff der „intentionalen Kinderliteratur“ ist in Abgrenzung von demjenigen der Kinderlektüre in der Kinderliteraturforschung der DDR in den 1960er Jahren entwickelt worden und entspricht demjenigen der spezifischen Kinderliteratur in der westdeutschen Literaturgeschichtsschreibung. Zu Beginn der 1980er Jahre werden diese Begriffe spezifiziert und erhalten ihre heutige Bedeutung. In der Bestimmung der Kinder- und Jugendliteratur als Altersstufen-Literatur zeigen sich ebenfalls Veränderungen. In der DDR galt Kinderliteratur als spezifische Literatur für Leser unter 14 Jahren (Kunze 1964), in der BRD für Leser bis 10–12 Jahren, während sich Jugendliteratur in der DDR an 14–18jährige Leser, in der BRD an 12–14-jährige Leser wandte. Für die seit den 1970er Jahren stetig wachsende Literatur für Leser ab 14 Jahren wird in Abgrenzung gegen den Terminus Jugendliteratur sporadisch auch „Jeansliteratur“ (in den 1970er Jahren) oder „Literatur für junge Erwachsene“ (in Analogie zu Young Adult Literature) verwendet.
Systematisierungsversuche
Erste Versuche zu einer Systematisierung des breiten Gattungsspektrums wurden bereits in den 1970er Jahren unternommen (Doderer 1975) und führten schließlich zu einer Dreiteilung des Gesamtkorpus in „Kinder- und Jugendlektüre“, „intentionale Kinder- und Jugendliteratur“ und „spezifische Kinder- und Jugendliteratur“ (Brüggemann/Ewers 1984). Diese Terminologie hat sich seitdem in der deutschsprachigen Kinderliteraturforschung durchgesetzt. Wegen der inhaltlichen Verwechselbarkeit der Begriffe „intentional“ und „spezifisch“ hat Ewers (2000; 2011) stattdessen die Termini „intendierte Kinder- und Jugendliteratur“ (= intentionale Kinder- und Jugendliteratur) und „originäre Kinder- und Jugendliteratur“ (= spezifische Kinder- und Jugendliteratur) vorgeschlagen. Neben diesen Unterscheidungen, die durch Lektüreentscheidung, Auswahlkriterien und Absichtserklärung von Autoren getroffen werden, sind außerdem Bestimmungen anzutreffen, die den Begriff „Kinder- und Jugendliteratur“ inhaltlich und formal zu bestimmen versuchen. Hierbei können drei Ansätze unterschieden werden. Kinder- und Jugendliteratur kann aufgefasst werden als (a) Literatur, die für die Erziehung des Kindes oder Jugendlichen unabdingbaren Werte und Kenntnisse vermittelt (= Erziehungs- oder Sozialisationsliteratur); (b) Literatur, die sich gemäß den Vorstellungen einer entwicklungspsychologischen Altersstufen-Theorie an das Sprachvermögen, die intellektuellen und kognitiven Fähigkeiten sowie die Bedürfnisse des kindlichen und jugendlichen Lesers anpasst (= kind- und jugendgemäße Literatur); (c) Literatur, die der Aneignung literarischer Regeln dient und sich hinsichtlich der Kinderliteratur durch spezifische Merkmale wie Einfachheit, Redundanz und Nachahmung mündlichen Erzählens auszeichnet (= Anfänger- oder Einstiegsliteratur), hinsichtlich der Jugendliteratur dem Jugendlichen den Übergang zur Erwachsenenliteratur erleichtern soll (= Übergangsliteratur) (Ewers 2000). In der englisch- und deutschsprachigen Forschung trifft man gelegentlich auch Studien an, die Kinder- und Jugendliteratur als „Gattung“ bzw. „Genre“ definieren. Diese Klassifizierung ist überaus problematisch, weil es hierbei zu einer Gleichsetzung von einem theoretischen Begriff für Textgruppenbildungen mit einem Literaturbereich kommt, dessen konstituierendes Merkmal die Ausrichtung an einer bestimmten Rezipientengruppe ist. Diese verwirrende Begriffsvielfalt verdeutlicht auf der einen Seite, dass der Gegenstandsbereich der Kinderliteraturforschung überaus vielfältig ist, auf der anderen Seite wird aber auch ersichtlich, dass es bislang noch zu keiner Einigung hinsichtlich der Definition des Untersuchungsgegenstandes gekommen ist.
All Age Literatur und Crossover Literatur
Mit den aus dem englischen Sprachraum übernommenen Begriffen „All Age Literatur“ und „Crossover Literatur“ wird auf ein seit den 1990er Jahren viel diskutiertes Phänomen, die formale, thematische und narrative Annäherung von Kinder- und Jugendliteratur an die Erwachsenenliteratur auf der einen Seite und die damit einhergehende zunehmende Lektüre von Kinder- und Jugendliteratur durch Erwachsene auf der anderen Seite hingewiesen. Während „All Age Literatur“ für die Bezeichnung von Werken gewählt wird, die sich generationenübergreifend an alle Leser/-innen wenden (oft findet sich im Klappentext oder im Untertitel ein entsprechender Vermerk wie „von 9 bis 99“), deutet der Begriff „Crossover Literatur“ (oder: Crossover Fiction) darauf hin, dass hier nicht nur Kinder, Jugendliche und Erwachsene zugleich angesprochen werden (wofür man schon vorher den Begriff der „Mehrfachadressiertheit“ verwendet hat), sondern dass man die entsprechenden Werke aufgrund der Themenwahl, Erzählstrategien und Genres nicht mehr eindeutig der Kinder- und Jugendliteratur bzw. der Erwachsenenliteratur zuordnen kann (Beckett 2009; Falconer 2009, vgl. Kapitel III).