Читать книгу Im Land der Schatten - Billy Remie - Страница 10

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Nach einem Mondzyklus brach das Unglück über den Stamm herein.

Bellzazar hatte inzwischen in das Leben des Stammes, der ihn aufgenommen hatte, einen guten Einblick erhalten. Als stiller Beobachter war er am Rande geblieben, um nicht unnötig Missfallen zu wecken, jedoch waren, bis auf Lugrains Weib und Lugrains älterer Bruder Brathen, alle anderen Stammesmitglieder zuvorkommend und aufgeschlossen ihm gegenüber. Liebe und Fürsorge überall. Abgesehen von Lugrain und seinen Brüdern, waren auch keine festen Familienstämme auszumachen. Mittlerweile wusste Bellzazar jedoch, dass die Frau aus der Stammesmutterhütte, mit dem dunklen Haar, die Lugrain geküsst hatte, Lugrains kleine Schwester war. Lugrains Frau, ihr Name war Carrfee, und Surrath waren ebenfalls Geschwister – die einzigen mit hellem Haar im ganzen Stamm.

Die Kinder wurden vom gesamtem Stamm aufgezogen, einige Männer versorgten mehrere Gefährtinnen, einige Frauen sorgten für mehrere Gefährten. Der Stamm war eine große Familie, wo jeder für jeden Mann, Bruder, Vater oder Onkel war.

Nicht nur Männer griffen zum Speer. Frauen waren Kriegerinnen und Jägerrinnen. Männer waren Sammler, Berater, oder zogen die Kinder auf. Es gab keine fest verteilten Geschlechterrollen, wie Bellzazar es durch Schriften im Reich der Götter über andere Stämme gelernt hatte.

Von all jenen war ihm sein Retter Lugrain natürlich der Liebste, doch von diesem abgesehen, suchte Bellzazar die Gesellschaft von dem gemiedenem Surrath. So wie auch er, wurde dieser von den angesehenen Mitgliedern des Stammes ignoriert. Bellzazar hatte durch beobachten recht schnell herausgefunden, warum Surrath größtenteils unter sich blieb.

Es war eine Tatsache, dass Lugrain und Brathen im Stamm die begehrtesten Männer waren, um Lugrains Aufwartung verzerrten sich viele. Sein Weib soll wie eine Löwin um ihn gekämpft haben, aber auch seine eigene Schwester begehrte die Frucht seiner Lenden. Bellzazar erfuhr auf Nachfrage hin, dass es im Stamm sogar ganz üblich war, dass Schwestern das erste Kind von Brüdern empfingen, gezeugt am Tage des Festes zu Ehren des Frühlings, dem sogenanntem Blutfest.

Aber Lugrain hatte Bellzazar erklärt, dass ihm nicht der Sinn danach stand, verwandtes Blut zu mischen. Außerdem erzählte er, dass er sein Weib nur zur Gefährtin genommen hatte, auf Drängen seines Vaters. Dieser bereits verstorbene Mann hatte eine Vision von einem Stamm gehabt, in denen Frauen nur die Kinder versorgten und sich jeder Mann nur ein Weib nahm. Laut Lugrain soll er besessen davon gewesen sein, nachdem er über einen Winter lang bei anderen Stämmen gelebt hatte, weil starke Schneestürme ihm den Weg nach Hause versperrten. Nun war Lugrains Vater tot, von einem Eber bei der Jagd getötet, und Lugrain litt trotzdem noch unter seiner eifersüchtigen Gefährtin, die ihn für sich allein beanspruchen wollte.

Über Lugrain hatte Surrath einst gesagt, als er zusammen mit Bellzazar im Wald nach Beeren gesucht hatte: »Lugrain hat gewiss nichts gegen die Vorstellung, sich nur mit einer einzigen Person zu vereinen, er schätzt es sogar sehr, deshalb nimmt er auch nicht mehr an den Frühlingsritualen teil, jedoch ist es nicht meine Schwester, nach der sich sein Herz sehnt.«

Bellzazar selbst war in den Genuss gekommen, begehrt zu werden. Lugrains kleine Schwester hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ihm nachzulaufen und ihm schöne Augen zu machen. Sie verstand nicht, dass er überhaupt nicht in der Lage war, ihr Nachkommen zu schenken – es war das Einzige, was diese aufgeweckte Jägerin begehrte – denn die Götter hatten ihm nicht nur einen unsterblichen Leib gegeben, sondern einen Leib, der keine Kinder zeugen konnte. Immerhin wollten sie nicht verbreitet sehen, an dem sie Zweifel hegten.

Bellzazar verstand das Konzept der Fleischeslust ohnehin nicht. Natürlich verstand er den Zweck, Sterbliche mussten sich fortpflanzen, aber darüber hinaus schien es ihnen sogar Spaß zu machen, und sie stellten diesen Akt oftmals für alle anderen zur Schau. Im Stamm wurde sich mehr als notwendig gepaart, es gab so viele Kinder und Schwangere, das er sich fragen musste, wie sie alle durch den bevorstehenden Winter bekommen sollten.

Es war bereits bitterkalt geworden, die Luft peitschte um die Behausungen, die Wasserquellen waren gefroren. Lugrain sagte, sie würden bald die Ebenen verlassen und sich zum Wildnis Pass zurückziehen, wo der Winter milder aber nicht weniger gefährlich war. Dort gab es eine Höhle, die dem Stamm gehörte. Jeden Winter versammelten sie sich dort bis der Frühling kam und sie zurück in die fruchtbaren Ebenen konnten.

Aber bis dorthin wartete der Stamm noch auf eine Gruppe Kundschafter, wie Bellzazar von Lugrain erfuhr. Surrath und Carrfee hatten nämlich noch einen Bruder, einen großen Bruder, der nach Überlebenden seines alten Stammes suchte. Jedoch bisher erfolglos. Lugrain war der Ansicht, Garim, so hieß er, verschwendete seine Zeit. Aber Lugrain sprach trotz dieser Auffassung stets mit einem liebevollen Schmunzeln von Garim, er nannte ihn einen wahren Freund und hatte viel Zuneigung für ihn übrig.

Bellzazar war noch zu fasziniert von dem Leben der Sterblichen, von den Eindrücken dieser Welt, um sich Gedanken über den Winter und den damit verbundenen Erfrierungs- oder Hungerstod zu machen. Vor allem wunderte er sich über die Freude in seinem Inneren, weil Lugrain ihm am Morgen, bevor sie zur Jagd aufgebrochen waren, ein Geschenk von unermesslichem Wert gemacht hatte.

»Er ist ein Nachkomme von Wanderer«, hatte Lugrain stolz erklärt. »Ich möchte, dass du ihn behältst. Er wird dir gute Dienste leisten, wenn du uns irgendwann verlassen solltest.«

Bellzazars Hand war zitternd über die schwarzen Nüstern gestrichen, die sich weicher als alles andere auf der Welt anfühlten. Der schwarze Hengst war jung aber bereits groß und stämmig, ein echtes Prachtexemplar. Lugrains Pferd Wanderer zeugte die besten Nachkommen, umso eifersüchtiger war Brathens Blick, als Lugrain am Morgen beschloss, dass dieser Hengst an Bellzazar gehen sollte.

»Ich kann das nicht annehmen«, war Bellzazar ehrfurchtsvoll über die Lippen gekommen.

Lugrain hatte gelacht. »Beleidige mich nicht, indem du mein Geschenk ablehnst.«

Erschrocken war Bellzazar zu ihm herumgewirbelt. Das Letzte, was er wollte, war Lugrain vor den Kopf zu stoßen. Lugrain: sein Retter, sein Lehrer, sein Beschützer, in dem er mehr einen Bruder sah als in allen Göttern aus dem Himmelsreich.

Lugrain hatte milde lächelnd seine Schulter gedrückt. »Du hast das Reiten auf ihm gelernt – na ja, halbwegs – und er lernte mit dir, einen Reiter zu akzeptieren. Ihr gehört zusammen, seid Freunde.«

Freunde … Und das obwohl Bellzazar mehr als oft heruntergeworfen worden war. Reiten sah bei Lugrain so einfach aus, war in Wahrheit jedoch um einiges schwieriger. Inzwischen fiel er im Galopp wenigstens nicht mehr runter. Ganz zum Leidwesen von Brathen, der bei Bellzazars Reitversuchen immer herzhaft gelacht hatte.

Auch jetzt verkniff er sich keinen Kommentar vom Lagerfeuer aus, wo er das Frühstück einnahm: »Du solltest ihm zum Pferd auch Seile dazu schenken, Lugrain, damit wir ihn auf dem Rücken des Hengstes festbinden können.«

»Ignorier ihn, Zazar. Welchen Namen willst du ihm geben?«

Darüber musste Bellzazar nicht nachdenken: »Lugrain. Ich möchte ihn Lugrain nennen.«

Das Strahlen in Lugrains Augen hatte ihm gezeigt, dass dieser seine Entscheidung nicht albern fand, sondern sich daran erfreute. Jener Blick warf Lugrain Bellzazar oft zu, und immer wieder musste Bellzazar feststellen, dass es Surrath, der sie stets beobachtete, traurig davongehen ließ.

Nun, Stunden später, gingen Lugrain und Bellzazar durch den Wald, die Pferde hatten sie am Rand freilaufen lassen, weil ihre schweren Hufe die gute Beute vertrieben hätte. Ein Drache zog über ihren Köpfen hinweg, sein Hort war ganz in der Nähe, schon seit vielen Monden wurden seine dunklen Schwingen über den Wäldern gesichtet. Er fraß so fiel, dass kaum noch genug Wild zum Jagen übrig war. Lugrains Stamm wollte die Tierarten nicht ausrotten, weshalb sie auf die Wildbestände achtgaben, der Drache erschwerte ihnen deshalb die Jagd.

Der Wind war eisig, er peitschte vereinzelte Schneeflocken in ihre Gesichter, weiße Punkte sammelten sich in ihrem schwarzen Haar, ihre Körper wurden durch Pelze und Fellumhänge vor der Kälte geschützt, jedoch fror Bellzazar trotzdem. Er fror immer, weil sein Körper sich erst an die Temperaturen in dieser Welt gewöhnen musste. Selbst nahe am Feuer liegend zitterte er noch im Schlaf, obwohl Surrath für Bellzazar immer fiel Feuerholz auflegte.

Bei dem Gedanken an Schlaf und Feuer, erinnerte er sich an etwas, das er schon seit der ersten Nacht beobachtete. Stets heimlich, wohlbemerkt. Jedoch war gestern Abend etwas Unerwartetes geschehen: er war erwischt worden.

Trotz Weib, suchte Lugrain ausschließlich Surraths Hütte auf – was wohl auch der Grund dafür war, dass Surrath aus Neid und Eifersucht gemieden wurde – und stieg zu Surrath unter die Felle.

Jede Nacht beobachtete Bellzazar die beiden, nicht wissend, was er davon halten sollte. Und letzte Nacht hatte er durch die Flammen Lugrains Blick aufgefangen.

Lugrains muskulöser Köper war mit Schweiß überzogen gewesen, sein dunkles Haar war geöffnet und fiel fließend auf seine gebräunten Schultern, das Weiß in seinen Augen hatte geleuchtet, als er durch das Feuer hindurch Bellzazars Blick einfing. Auch Surrath, der auf dem Bauch unter ihm gelegen hatte, ebenfalls nackt, verschwitzt, war Bellzazars Blick ebenso wenig entgangen.

Erschrocken hatte Bellzazar sich einfach schlafend gestellt. Er hatte die beiden auflachen aber weitermachen hören. Keuchen und schweres Atmen war zu hören gewesen, genau wie jede Nacht. Es war zu etwas geworden, das Bellzazar vermissen würde, wenn es weg wäre.

Danach, als sie sich in den Armen lagen und Lugrain Surrath den Arm auf und ab streichelte, beide erschöpft, aber mit entspannten Mienen, hatte Bellzazar sie reden hören.

»Er ist nicht wie wir«, hatte Surrath geflüstert.

Lugrains Erwiderung darauf lautete: »Das muss er ja auch nicht sein.«

»Ich weiß, wie du ihn ansiehst«, Surraths Stimme klang traurig, »so wie du mich ansiehst.«

»Ich gab dir ein Versprechen, das ich halten werde. Nur du und ich. Und Zazar ist unser Freund, unser Schützling, deiner und meiner. Mach dir keine Sorgen um die Treue meines Herzens.«

Fell raschelte, als Surrath sich zu Lugrain umdrehte. »Ich zweifle nicht an deinem Herz, und Zazar ist mein Freund, trotzdem macht es mich traurig, wenn deine Augen bei ihm leuchten.«

»Ich schwöre dir bei der Göttin der Liebe, das durch Zazars Anwesenheit mein Herz nicht ins Wanken gerät«, hauchte Lugrain versprechend und animalisch zugleich, sodass Bellzazar vernahm, wie sie ihre Körper gleich darauf erneut vereinigten, um den Schwur zu vollenden.

Im Wald, während unter seinen Füßen die gefrorene Erde knirschte und die Kälte an seinen Beinen hochkroch, wie eine aufdringliche Schlange, sagte Bellzazar zu Lugrains Rücken: »Ich habe euch gesehen, letzte Nacht.«

In Lugrains Stimme klang ein Lächeln mit: »Das war gewiss nicht die erste Nacht.«

Sie hatten es also schon früher bemerkt. Warum hatten sie nichts gesagt? War es falsch von ihm, zuzusehen? Nein, wohl nicht. Im Stamm wurde der Akt an wärmeren Tagen direkt in der Mitte am großen Feuer vollzogen. Und jeder konnte und durfte sich dazugesellen. Trotzdem, dass zwischen Lugrain und Surrath hatte mehr als nach Fleischeslust ausgesehen. Es war eine innigere Vereinigung als das, was der Rest des Stamms vollzog.

Umso dringlicher war Bellzazars Nachfrage: »Wieso Surrath? Er ist doch wie du, ein Mann.«

Auflachend sagte Lugrain: »Das hast du richtig erkannt, Zazar.« Aber dann blieb er stehen und drehte sich mit besorgter Miene zu Bellzazar zum. Unsicher hakte er nach: »Stört es dich? Siehst du uns jetzt anders?«

»Nein«, antwortete Bellzazar wahrheitsgemäß, zuckte jedoch dann mit den Schultern. »Allerdings versteh ich nicht, wozu.«

Lugrains Augenbrauen zuckten nach oben, wieder begann er über Bellzazar zu lachen. »Wozu, fragst du mich? Na, weil es Spaß macht. Weil es … von inniger Liebe zeugt, und … weil es keine tiefere Verbindung geben kann.« Es fiel Lugrain ganz offensichtlich schwer, es zu erklären. Er kratzte sich am Kopf und runzelte nachdenklich die Stirn.

»Aber er ist ein Mann«, warf Bellzazar ein. »Wozu vollziehst du den Akt mit ihm, du kannst dich ja nicht mit ihm fortpflanzen …«

Lugrain sah ihn an, als hätte Bellzazar ihm gerade mit einem Eimer eins über den Schädel gehauen. »Aus Liebe, natürlich.«

Das verstand Bellzazar erst recht nicht. »Im Reich der Götter lieben wir uns auch. Aber nicht so.«

»Dann hast du nie …?«

Bellzazar schüttelte den Kopf. »Wozu? Ich kann mich nicht vermehren.«

Lugrain widerholte: »Na, aus Liebe!«

»Die Liebe der Götter ist anders. Sie ist rein«, erklärte Bellzazar. »Eine reine Liebe, die wir alle teilen.«

»Du wolltest doch nicht teilen«, erinnerte ihn Lugrain. Lange und ausgiebig hatten sie über Bellzazar gesprochen. Lugrain wusste, dass Bellzazar seinen Erzeuger finden und töten sollte, dafür musste er sich selbst opfern. Anders als die Götter, wollte Lugrain nicht, dass Bellzazar diese Reise antrat. Er sagte, sie würden einen Weg finden, ihn davon zu befreien, jedoch durften sie nicht daran denken, nicht solange die Götter zuhören konnten. Nur wenn Carrfee, auf Lugrains Drängen hin, Magie anwandte, um die Hütte abzuschirmen, konnten sie darüber sprechen. Immer wieder bat Lugrain, dass Bellzazar beim Stamm blieb und sich nicht selbst opferte. Und da Bellzazar Furcht vor seiner Aufgabe hatte, der er ohnehin nicht gewachsen war, hatte er beschlossen, an Lugrains Seite zu verweilen. Denn hier erhielt er, wofür er bestraft worden war; er wurde geliebt, von Lugrain und Surrath, und sie sorgten sich um ihn, mehr als um alle anderen. Er gehörte endlich zu jemanden. Und so gern er Lugrains Liebe für sich allein beanspruchen wollte, duldete er Surrath, weil auch Surrath ihn liebte. Sie waren wie Brüder, sie alle drei.

Aber was Lugrain und Surrath teilten, schloss Bellzazar nun aus. Er hatte nicht verstanden, worum es bei Fleischeslust ging, höchstens um Spaß, jetzt sprach Lugrain jedoch von tiefer Verbindung und inniger Liebe.

Sollte das bedeuten, Lugrain und Surrath teilten eine Liebe, die Bellzazar ausschloss?

Das schmerzte, genauso wie es geschmerzt hatte, dass die Schöpfer alle gleichermaßen liebten und er nichts Besonderes für sie darstellte.

Was war falsch an ihm, dass er immer nur zweitrangig oder einer unter vielen war?

Als spürte er, dass Bellzazar melancholisch wurde, kam Lugrain auf ihn zu. »Zazar …« Er nahm ihn in den Arm und hielt in fest.

Lugrains Körper war warm und vertrieb die Kälte, Bellzazar zögerte nicht, die Hände auf Lugrains Rücken zu legen und die Wange an seine feste Brust zu schmiegen.

»Hier in unserer Welt ist vieles anders«, flüsterte Lugrain ihm ins Ohr, beruhigend streichelte seine Hand Bellzazars Rücken. »Wir essen, wir trinken, wie bekommen Kinder, wir kämpfen und wir töten, um zu überleben. Und wir vereinigen uns körperlich mit jenen, die wir lieben, um die Sterblichkeit schöner zu gestalten, bis wir sterben.«

Sterblichkeit war mit Abstand das Schönste in dieser Welt für Bellzazar, denn erst mit ihr erwacht eine Liebe, die unbeeinflusst blieb. Wer morgen schon sterben konnte, liebt heute umso tiefer.

»Wir lieben mit Körper und Geist«, schloss Lugrain ab und löste die Umarmung. Er nahm Bellzazar an den Schultern und lächelte ihm ins Gesicht. »Vielleicht kommt es dir jetzt noch seltsam vor, aber ich verspreche dir, eines Tages wirst du es verstehen.«

Das einzige, das Bellzazar verstand, war, dass Lugrain ihn nicht wie Surrath liebte. Was zwischen diesen beiden war, ging tiefer. Tiefer, als Bellzazar erahnen könnte. Tiefer als das, was die Götter für die Sterblichen vorsahen. Es handelte sich um eine ureigene Macht, auf die niemand Einfluss hatte.

Stirnrunzelnd fragte Bellzazar: »Sind wir Brüder, Lugrain?«

Lugrain lächelte warm, aber etwas Trauriges stand in seinem Blick, das sich Bellzazar nicht erklären konnte. »Wir haben vielleicht verschiedene Eltern, aber ja, wenn du so fühlst, dann sind du und ich Brüder.«

»Und Surrath?«

»Er ist auch dein Bruder, wenn du das so empfindest. Aber für mich ist er … mein Gefährte.«

Damit konnte sich Bellzazar vielleicht zufriedengeben. Das änderte aber nichts daran, dass er weiterhin mit Brathen konkurrierte, und dieser wollte seinen Bruder nicht teilen, jedenfalls nicht mit Bellzazar.

»Wieso verbindest du dich dann nicht so mit ihm wie du mit Carrfee verbunden bist?«

Traurigkeit überschattete Lugrains Gesicht. »Weil Carrfee tobte wie eine Katze auf dem Feuer, als ich es einmal tun wollte. Sie drohte damit, den Stamm mit unseren Kindern zu verlassen.«

Dabei war nur das Ungeborene und die Drillinge wirklich Lugrains Nachkommen, die älteren Kinder waren von seinem Vater gezeugt worden.

Bellzazar spürte Lugrains Traurigkeit, weil er ein Leben lebte, das er für sich selbst nicht geplant hatte. Er hätte ihm gern geholfen, wusste jedoch nicht, wie.

Ein Aufbrüllen ließ sie herumwirbeln.

Durch den Wald kam eine Gestalt auf sie zu, in schwarze Felle gehüllt, stolperte der Junge über jede Baumwurzel, er schien erschöpft und am Ende seiner Kräfte.

Lugrain ließ sofort von Bellzazar ab und ging auf den Jungen zu, der stöhnend zusammensackte, sobald Lugrain nahe genug war, um ihn aufzufangen.

»Ein Mensch«, rief Lugrain. »Er ist verletzt! Zazar hol schnell Hilfe!«

Bellzazar stand da wie erstarrt. Er hatte gesehen, wie Tiere getötet und ausgenommen wurden, um das Leben des Stammes zu sichern. Blut sollte ihm nicht fremd sein, jedoch wurde ihm ganz anders zumute, als er das helle Rot an Lugrains Finger erblickte.

»Sie … sie kamen um uns zu holen«, keuchte der Junge mit kratziger Stimme, die für seine gerade mal elf überstandenen Winter zu alt klang. »Im Wald! Sie sind im Wald!«

Lugrain hob mit düsterem Blick den Kopf, seine Hand war auf die Bauchwunde des Jungen gedrückt, er suchte die Umgebung ab. Dann hörten sie es alle: donnernde Hufe.

Durch die Bäume sah Bellzazar viele Reiter, in seltsame Kleidung gehüllt, die das graue Licht dieses Wintertages zurückwarfen.

»Elkanasai«, knurrte Lugrain hasserfüllt. Er wandte sich an Bellzazar. »Hilf mir, Zazar. Bringen wir den Menschenjungen zum Stamm.«

Für Lugrains Volk waren diese Elkanasai keine Gefahr, Luzianer wurden von ihnen in Ruhe gelassen, jedoch – das wusste selbst Bellzazar – machten Elkanasai Jagd auf Menschen.

Gemeinsam gelang es ihnen, den Jungen zum Stamm zu bringen. Carrfee benutzte Magie um ihn zu heilen und er erzählte mit schwacher und brüchiger Stimme, was vorgefallen war. Er und andere Jungen waren im Wald gewesen, wie jeden Morgen, um rumzualbern und täglichen Pflichten nachzugehen, als die Elkanasai auftauchten und sie wie junge Hunde einfingen. Der Junge hatte sich gewehrt und wurde dafür fast abgestochen, wenn er nicht hätte fliehen können.

Carrfee tat ihr Bestes, um ihn zu retten, aber er starb kurz nachdem er berichtet hattet.

Daraufhin lag Stille über dem Stamm, außer in der Hütte der Mutter, wo Lugrain, Carrfee und Brathen lautstark darüber stritten, was sie nun tun sollten.

Brathen war dafür, den Jungen zu vergraben und den Menschen alles zu verschweigen, er fürchtete, sie könnten annehmen, der Stamm hätte den Jungen getötet, denn das Verhältnis zwischen Luzianer und Menschen war stets angespannt.

Carrfee war dagegen, sie drängte darauf, den Jungen zurückzugeben, damit er nach Brauch der Menschen angemessen bestattet wurde.

Lugrain war seltsam still und saß mit versunkenem Blick neben Bellzazar. Keiner konnte erraten, was ihm durch den Kopf ging.

Doch alles verlor an Bedeutung, selbst der verstorbene Mensch, als die Erde erbebte und der Drache vor dem Lager landete.

Im Land der Schatten

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