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Der Weg durch die Wildnis dauerte einen Tagesmarsch. Sie mussten die Pferde nach der Hälfte an den Zügeln führen, so schmal waren die Wege durch das Moor. Außer Desiderius, er führte kein Pferd, er hatte seinen Hengst nicht einmal eingefangen. Das Tier trottete wie ein gehorsamer Hund von selbst der Gruppe hinterher. Warum Desiderius sein Pferd mied, obwohl er stets liebevoll mit ihm umgegangen war, erriet keiner unter ihnen. Auf jene Frage hin, hatte Desiderius nur geantwortet, er und sein Rappe bräuchten eine Auszeit um einander wirklich kennen zu lernen. Was auch immer das heißen mochte, keiner fragte genauer nach.

Es stank. Insekten versuchten, sie bei lebendigem Leibe aufzufressen, ihre rissigen Stiefel ließen Nässe durch, ihre Füße wurden wund. Sie hielten gegen Mittag nicht an, um etwas zu essen. Es gab hier nichts und die Affen hatten ihre Vorräte zu sehr geschrumpft, außerdem war Bellzazar seit ihrem Aufbruch in Eile, er trieb sie nervös an, schneller zu gehen.

»Wieso geht er nicht allein? Ohne uns wäre er schneller! Wozu braucht er uns, wir sind ihm nur ein Klotz am Bein«, beklagte sich Allahad unentwegt, wenn er glaubte, Bellzazar hörte ihn nicht. Es wäre ihm auch egal gewesen, wenn der Dämon seinen Missmut mitangehört hätte.

»Ich finde es aufregend«, hatte Luro dazu gesagt, er war hinter Allahad hergegangen. »Ein neues Abenteuer. Die Seereise war lange genug, und langweilig, bis auf Stürme, gegen die wir nichts ausrichten konnten. Ich bin gespannt, was uns erwartet.«

»Du bist dumm, wenn du das Unbekannte nicht ein Stückweit fürchtest«, hatte Allahad beabsichtigt barsch zurückgegeben.

Luro ließ sich wie üblich nicht zu einem Streit hinreißen, in seiner ganz eigenen gelassenen Art, zuckte er mit den Schultern. »Dumm? Vielleicht. Aber ich sagte nicht, dass ich mich nicht fürchte. Trotz Sorge freue ich mich auf Abwechslung.«

Dass Luro niemand war, der das Beständige mochte, und sich schnell langweilte, konnte im Grunde keine Überraschung mehr sein. War es auch nicht, trotzdem bekam Allahad davon wieder Kopfschmerzen, wenn er sich vorstellte, dass es Luro mit Männern wohlmöglich nicht anders erging.

Umso erstaunlicher war doch, wie lange er bei Nebuhr geblieben war. Es war wohl wahre Liebe gewesen, die die beiden miteinander verbunden hatte. Und Nebuhr hatte offenbar kein sehr großes Problem damit gehabt, das Luro Desiderius von allen Männern immer am meisten wollte. Jedenfalls war das Problem nie so groß gewesen, dass er Luro deshalb verlassen wollte.

Untote stiegen aus dem Moor. Stinkende, verweste Gestalten, aufgeschreckt von Bewegungen auf den Wegen. Von der Witterung zerfressene Kleider hingen an ihren knochigen Körpern, rostige Schwerter, modrige Bögen in ihren Händen. Gestrandete und Abenteurer, die auf dieser Insel in ihr Unglück gelaufen waren. Ja, hier herrschten finstere Mächte, die den Toten keine Ruhe gönnten.

Es waren zum Glück nicht viele und weit entfernt, das Moor machte sie noch langsamer, als sie ohnehin schon waren.

»Ignoriert sie«, hatte Desiderius ihnen aufgetragen. »Sie stellen im Moment keine Gefahr dar.« Sein Verhalten war untypisch für ihn, er scheute selten Kämpfe. Andererseits wusste er, wann ein Kampf sinnvoll war und wann nicht.

Keiner einen Einwand geäußert, die Untoten blieben am Leben, mehr oder weniger.

In der Mitte des weitläufigen Moors befand sich ein Felsen, um ihn herum stiegen Blasen im Wasser auf, es blubberte hier und dort. Ein Zeichen für Luft unterhalb der Wasseroberfläche, vermutlich ging der Fels tiefer nach unten und war hohl.

Bellzazar steuerte darauf zu, doch nun wurde er langsamer, als fürchtete er sich plötzlich doch vor dem, was ihn erwartete.

Am Felsen angekommen, erkannte Allahad eine Geheimtür. Er konnte die Rillen im grauen Gestein erkennen, Schlingpflanzen wuchsen daraus.

Während sie ihre Pferde absattelten und ihnen die Halfter abnahmen, tastete Bellzazar den Geheimzugang ab, entfernte Pflanzen, bis jede Rille frei lag.

Es war keine Tür, jedenfalls nicht so eine Tür, wie sie sie kannten. Der Geheimzugang ähnelte in seiner Form einem Höhleneingang, der jedoch fest mit einem Felsen zugeschoben worden war, der genau in das Loch passte, wie extra zugehauen.

Allahad ließ seinen Schecken frei grasen. Das Tier hatte bereits am Morgen Treue bewiesen als er zurückgekommen war, also durfte er auch jetzt freilaufen, zumal Allahad das unangenehme Gefühl hatte, nicht mehr lebend wiederzukommen.

»Ich brauche eine Weile«, gestand Bellzazar. »Frischt euch auf, trinkt und esst etwas, bevor es weitergeht.«

»Ich machen Feuer und wir schlafen?«, fragte Mitja mit ihrem seltsamen Akzent.

Allahad sah zu ihr hinüber. Mitja hatte sich Karrah umgebunden, fragend starrte sie in die Runde. Sie war schön mit ihrer schlanken Gestalt, dem kurzen weißen Haar und den spitzen Ohren. Er empfand etwas Neid, weil sie Zasch gehörte und unzugänglich für seinen Körper war. Neun Monate auf See und sie war die einzige Frau gewesen, es waren harte Monate für Allahad, und mehr davon standen ihm bevor.

Desiderius war es, der den Kopf schüttelte. »Nein, wir gehen weiter. Ob wir nun die Nacht aussitzen oder sofort hineingehen ist egal, es wird ohnehin dunkel sein.«

»Lass sie ein Lager aufschlagen«, bat Bellzazar. »Wenn die Beiden hierbleiben und den Eingang für uns sauber halten, kann uns kein Untoter in den Rücken fallen.«

Desiderius schüttelte bereits den Kopf, als Bellzazar noch anfügte: »Außerdem ist eine unterirdische Höhle gewiss kein Ort für ein Kind. Lass Karrah bei ihnen, an der Oberfläche.«

Dem konnte keiner wiedersprechen, also beschlossen der Krieger und der Prinz, Bellzazars Rat anzunehmen und Zasch zusammen mit Mitja und Karrah an der Oberfläche zu lassen.

Der Barbar schien deshalb sogar erleichtert. Seit er Mitja hatte, war er zu einem vorsichtigen Beschützer geworden. Zu Niegals Lebzeiten wären die beiden Barbaren Desiderius sofort gefolgt, selbst wenn er in die Unterwelt gegangen wäre, ebenso wie Luro und Allahad es taten. Doch seit Zasch sich verliebt hatte, war er umsichtiger, er dachte an sein Leben, weil er etwas hatte, wofür es sich zu leben lohnte.

Gleiche Veränderungen waren Desiderius anzumerken, wenn auch etwas weniger offensichtlich. Er scheute keine Abenteuer, sonst wären sie nicht hier, jedoch achtete er mehr auf sich selbst, vermied Kämpfe, die nicht unbedingt notwendig waren.

Vielleicht lag es an der Verliebtheit, vielleicht sorgten die zärtlichen Gefühle für eine andere Person dafür, dass ein Mann ruhiger wurde, oder – und das glaubte Allahad eher – die Konfrontation mit dem Tod hatte sie alle verändert.

Die Hexe Ruhna, Nebuhr, Niegal, all ihre Familien, der König: ihre Seelen hingen über ihrer Gemeinschaft. Nie würden sie vergessen, was ihnen genommen wurde, auch wenn der Schmerz mit der Zeit zu ertragen war.

Während der Dämon mit tastenden Händen irgendetwas im Fels suchte und grübelnd vor sich hinmurmelte, während Desiderius sich entfernte und zögerlich auf seinen Rappen zuging, während Mitja und Zasch ein Lager auf einer halbwegs trockenen Stelle errichteten, setzte sich Allahad an den Felsen und lehnte den Rücken daran. Die Beine angezogen, die Arme über die Knie gelegt, erlaubte er sich eine Auszeit und trank von seinem Wasserschlauch.

Er hatte wenig Lust, sich unterhalb des Erdbodens zu begeben. Das letzte Mal als er die Sonne aufgab, um durch enge Gänge zu marschieren, war für ihn übel geendet.

Der Dämon der Angst hatte alles zerstört, was er sich aufgebaut hatte: einen innigen Freundeskreis. Und Allahad brauchte diese Freunde, jedoch ohne, dass sie um ihn herumtanzten und versuchten, ihn mit Ratschlägen zu trösten, weil sie dachten, er litt. Dabei war es für ihn nie ein Problem gewesen, heimlichen Schwärmereien nachzuhängen. Er glaubte noch immer, dass es jedem Mann so erging. Davon abgesehen, wessen Geschlecht man bevorzugen mochte, schwärmte doch jeder für irgendwen, oder?

Das mit Luro hatte Allahad nie so ernst genommen, trotz der Angst, der junge Jäger konnte es je herausfinden. Er hatte nicht gewollt, dass Luro davon erfuhr, dass er heimlich an ihn dachte, manchmal sogar sehr zärtlich an ihn dachte, weil er gewusst hatte, dass es nichts ändern würde. Sie waren Freunde, unabhängig von dem, was seine Fantasie manchmal heraufbeschwor.

Natürlich hing seiner Schwärmerei für den drahtigen Mann auch eine intimere Note an, etwas Sexuelles, aber nie so, dass er sich deshalb ernsthaft Sorgen gemacht hätte. Erst als alle davon wussten, war ihm klargeworden, was sie nun von ihm dachten. Dass er sich heimlich unter der Decke selbst Lust verschaffte und dabei von Luro fantasierte. Dabei waren seine Fantasien viel unschuldiger gewesen. Die Vorstellung, in Luros Armen einzuschlafen und wieder aufzuwachen, zum Beispiel. Oder ihm die dunklen Haare aus der Stirn zu streichen, seine hohen Wangenknochen zu streicheln, den Schwung seines Mundes nachzufahren, vielleicht auch ihn zu küssen.

Und als alles ans Licht gekommen war, war letzteres zu bitteren Wahrheit geworden. Geschmeckt hatte es Allahad, was es nicht besser machte. Aus unschuldigen Schwärmereien über etwas mehr Zuneigung als Freundschaft ihm bot, war plötzlich Intimität geworden.

Irgendwie fühlte er sich schmutzig, weil Lust seine süßen Fantasien befleckte.

Er wollte doch nur abends am Lagerfeuer seinen Kopf auf Luros Schenkel legen, so wie Mitja es bei Zasch machte. Oder nach einem Sturm auf See, oder nach einem Kampf, Luro fest in den Arm nehmen, ihn halten und gehalten werden, sich gemeinsam am Leben erfreuen, ohne gleich die Hosen runter zu lassen.

Ob es angst vor dem Unbekanntem war, die aus ihm sprach, konnte er nicht sagen, er wusste nur, dass sich ein unsichtbares Eisenband um seine Brust legte, wenn er auf diese Weise an Luro dachte. Vielleicht war das aber auch nur ein Zeichen dafür, das ihn der Gedanke abstieß.

Nicht, dass er je etwas dagegen gehabt hätte, er ekelte sich nicht vor Luro, Desiderius oder Prinz Wexmell, nein, was sie miteinander machten, war ihm einerlei. Aber das bedeutete nicht, dass er sich dem hingeben konnte, ohne sich selbst abscheulich zu finden. Nicht, weil er im Inneren doch ignorant gewesen wäre, sondern weil es ihm vorkam, als beflecke er die Erinnerung an seine Frau und Söhne. Es kam ihm vor, als wäre die Liebe zu ihnen eine Lüge gewesen, wenn er sich nun mit Männern einließ.

Und so war es nicht, also wollte er es auch nicht fühlen. Es war nie eine Lüge gewesen und er würde die drei immer vermissen, er hatte sie mehr geliebt als alles andere.

Allahad seufzte unzufrieden und rieb sich die schmerzende Stirn. Seit Luro von den zärtlichen Gefühlen wusste, litt er unter stetigen Kopfschmerzen, die nie vergingen, nur manchmal stärker und manchmal schwächer wurden.

Ein Schatten legte sich über Allahad und er sah auf.

Prinz Wexmell lächelte auf ihn herab und deutete mit einem Finger neben Allahad. »Was dagegen, wenn ich mich setze?«

Allahad rückte ein Stück, um ihm damit eine Antwort zukommen zu lassen.

Fröhlich darüber, nicht abgewiesen worden zu sein, setzte sich der junge Prinz. Er war muskulöser als früher, stramme Muskeln zeichneten sich unter seiner Lederrüstung ab, die nur behelfsmäßig an der Seite auf Höhe der Rippen gestopft worden war. Dort hatte der Sohn des Verräters sein Schwert durchgestoßen und Prinz Wexmell tödlich verwundet. Allahad erinnerte sich noch gut an Desiderius grausigen Anblick, als der Prinz in seinen Amen gestorben war, mitten auf dem Schlachtfeld, umringt von Feind, Freund und Leichen.

Es schauderte ihn und er drehte sich fort. Niemals wieder wollte er Leid verspüren oder mit ansehen, wie seine Freunde litten. Wenn er die Gesellschaft seiner Freunde nicht als Halt benötigte, um der Trauer über seinen eigenen Verlust zu entkommen, würde er gehen. Denn wenn man einsam und alleine war, gab es zumindest auch niemand, den man verlieren konnte.

Kein Schmerz war je so groß wie jener, einen geliebten Menschen zu verlieren. Es raubte einem nicht nur für den Augenblick der Erkenntnis den Atem. Um genau zu sein, begriff man im ersten Moment überhaupt nicht, was es bedeutete. Erst nach und nach wird dem Hinterbliebenen bewusst, dass das, was ihm genommen wurde, nie wieder zurückkommen würde. Nie wieder. Der Tod war endgültig. Und stirbt ein Freund, war es der Abschied für immer, ob man dazu bereit war oder nicht. Und dann reihen sich Jahre aneinander, in denen der Schmerz immer größer wurde, bis endlich der Moment kam, in dem man sich lächelnd aber mit Wehmut zurückerinnert. Dort war Allahad bereits angekommen, aber der Schmerz würde nie gänzlich vergehen. Irgendwann war es jedoch leichter, sich mit Freude zu erinnern, statt in tiefer Trauer zu versinken.

»Geht es Euch gut?« Prinz Wexmells Stimme war ein Lufthauch. Mitgefühl schwang in ihr mit, das Allahad mit geschlossenen Augen willkommen hieß, ohne es je zuzugeben. »Ich sorge mich um Euch.«

Allahad schmunzelte mit geschlossenen Augen. »Solange es immer einen Freund gibt, der sich sorgt, wird es mir gut gehen.«

Als er Prinz Wexmell daraufhin ansah, leuchteten dessen eisblaue Augen und ein strahlendes Lächeln stand ihm im Gesicht. »Auch Ihr seid mir ein Freund, Allahad.«

Allahad streckte den Arm aus und drückte kurz des Prinzen Schulter. Wexmell war zwar ein Freund, doch er würde ihn immer als seinen Prinzen bezeichnen. Denn er war der Mann, dem Allahad folgte, dem er Treue geschworen hatte, den er mit dem Leben beschützte, auch unendlich weit von Nohva entfernt.

»Darf ich Euch als Freund eine persönliche Frage stellen?«, hakte der Prinz vorsichtig nach.

Allahad wusste bereits, worum es ging. Und bevor er diese Fragen noch hunderte Male abweisen musste, beschloss er, es sofort hinter sich zu bringen; er nickte wiederwillig.

»Liebt Ihr ihn denn nicht?«, fragte der Prinz gerade heraus.

Allahad lächelte zynisch, hatte er doch gewusst, worum es ging. Mit nach vorn gerichteten Blick, der über die Moorebene glitt, antwortete er: »Luro ist mein Freund, auf diese Weise liebe ich ihn. Vielleicht auch mehr, aber das heißt nicht, dass es genug wäre um … so zu sein wie Ihr und Derius.«

Nachdenklich nickte der Prinz. »Eine zärtliche Einstellung.«

»Zärtlich?«

»Mhm.« Schüchtern lächelte der Prinz. »Ihr habt kein Problem, Liebe zu gestehen. Desiderius ist da anders, er sagt es nicht.«

»Es ist offensichtlich, dass er Euch liebt«, warf Allahad ein.

Sofort nickte Prinz Wexmell. »Gewiss. Er zeigt es mit Taten, hat es aber nie gesagt.« Nun sah er Allahad auffordernd an. »Bei Euch verhält es sich genau anders herum: Ihr sagt zwar, dass Ihr Luro liebt, Ihr zeigt es aber nicht.«

Hm. Stimmte wohl.

»Aber der eigentliche Grund für meine sehr persönliche Frage war, dass ich wissen wollte, ob der Dämon der Angst falsch gelegen hat«, erklärte der Prinz mit einem Mal ernst. »Es wäre doch beruhigend gewesen, wenn nicht nur wir Sterblichen Fehler begehen, sondern wenn sich auch die mächtigen Kreaturen der Unterwelt irren können.«

Allahad musste einfach wegen des Prinzen lächeln. Erleichterung überkam ihn, weil der Prinz ihn nicht mit unzähligen Worten versuchte, zu überreden, dem armen Luro doch etwas Nähe zu schenken. Allahad wollte einfach nicht und der Prinz akzeptierte das mehr als alle anderen. Und das obwohl er selbst nie akzeptieren wollte, dass Desiderius ihn abwies. Seine Hartnäckigkeit hatte sich für ihn und Desiderius gleichermaßen gelohnt.

Erneut legte Allahad ihm eine Hand auf die Schulter und sagte aufmunternd: »Wisst Ihr, die Dämonen sind doch im Grunde nur aus Neid so grausam zu uns Sterblichen, weil wir etwas haben, das sie nicht verstehen können: Emotionen. Und keine Angst, mein Prinz, auch sie sind nicht fehlerlos.« Sein Blick glitt unmerklich zu Bellzazar, der an der Geheimtür stand. »Wir müssen nur herausfinden, wo ihre Schwachstellen liegen.«

***

Nachdem er – nach der Offenbarung, dass sein Hengst magisch war – sich Wanderer versuchsweise genähert und seine Ohren gekrault hatte – um sich zu überzeugen, dass er trotzdem nur ein schwarzes Pferd war, uralt, aber ansonsten recht gewöhnlich – trat Desiderius neben seinen Bruder und fragte ganz direkt: »Wie öffnest du die Tür? Und wo führt sie hin?«

»In eine Höhle.« Bellzazar klang versunken. »Ich suche nach einem Sigel, stelle jedoch fest, dass nur etwas Göttliches es finden kann.« Auffordernd sah Bellzazar plötzlich seinen Bruder an, als käme ihm erst jetzt eine einleuchtende Idee. »Versuch du es.«

»In mir wohnt zwar ein Drache und unsere Mutter ist vielleicht eine Göttin, jedoch lehnte ich den Rang als göttliches Wesen ab, als der Schöpfer mich danach fragte«, warf Desiderius ein.

»Trotzdem steckt zum Teil auch etwas Göttliches in dir, also versuch es.« Nach kurzem Zögern hing er ein halb ernstgemeintes »Bitte« hinten ran.

Ausatmend trat Desiderius vor den Geheimzugang. Er streifte seine Handschuhe ab und begann, den kühlen Felsen abzutasten.

»Du wirst das Siegel spüren«, versprach Bellzazar mit gehauchter Stimme. »Schließ die Augen, lass dich von der Magie in dir leiten. Suche mit deinem Geist, nicht mit den Händen.«

Desiderius versuchte, alles auszublenden. Den kühlen Wind, die Feuchtigkeit aus dem Moor um sie herum, das Moor selbst mit seinem grünlichen Nebeldunst, die stöhnenden Untoten und ihren Gestank, das leise Gemurmel seiner Gefährten, Bellzazars Präsenz in seinem Rücken, Wexmells sehnsüchtige Blicke, die ab und an zu ihm glitten, das Schnauben der Pferde, seine Stiefel, die im aufgeweichtem Boden immer mehr versanken, sogar seinen eigenen schweren Atem und sein schlagendes Herz in der Brust …

Dann konnte er plötzlich etwas wahrnehmen. Es war nicht wie das Gefühl, das er immer verspürte, kurz bevor sein Bruder in seiner Nähe auftauchte. Es war ein unscheinbareres Gefühl, nur der Hauch eines Gefühls. Leicht, unschuldig, wie eine Frühlingspriese oder der Duft einer zarten Rose, kurz bevor sie in voller Blüte stand. Ein unbekannter, siebter Sinn führte ihn, bis er etwa in der Mitte der Geheimtür ein Vibrieren spürte. Eine Unebenheit im Fels, die erst zu erkennen war, als er sie berührte.

Desiderius öffnete die Augen und atmete auf. Seltsam, er hatte überhaupt nicht bemerkt, dass er die Luft angehalten hatte. Zwei Finger gruben sich in die Einkerbungen und fegten loses Gestein heraus. Ein Kreis war in die Tür eingemeißelt, er zeigte das gleiche Sternen Muster wie auch das Amulett, das er trug. Jenes Amulett, das der Schlüssel zur Gefängniswelt seiner Mutter ist.

Er drehte sich zu Bellzazar um. Sein Bruder schien nicht überzeugt zu sein, ob der die Tür wirklich öffnen wollte.

»Zazar, wenn es etwas gibt, das du mir sagen willst, wäre jetzt ein guter Zeitpunkt«, sagte Desiderius zu ihm.

Bellzazar schob ihn Beiseite und trat endschlossen vor das Siegel. »Ich habe nur Angst, dass es nicht funktioniert. Was unterhalb des Moors auf uns wartet, brauchen wir nicht zu fürchten, ich verspreche es dir.«

Trotzdem verspürte Desiderius große Zweifel. Vielleicht sollten sie umkehren. So gerne er seinem Bruder auch helfen mochte, er wollte das Leben seiner Freunde nicht in Gefahr bringen. Nicht schon wieder. Er hatte genug angestellt.

Laut schluckend fuhr Bellzazar mit ausgestreckten Fingerspitzen über das Siegel, es leuchtete unter der Berührung mystisch blau auf.

Unbehaglich trat Desiderius von einem auf den anderen Fuß. »Das hat es vorhin noch nicht gemacht. Bei mir, meine ich.«

»Die Tür ist mit Magie verschlossen, mit göttlicher Magie versiegelt. Und es lässt sich nur von einem Wesen öffnen«, erklärte Bellzazar. Er zog einen Dolch hervor und legte seine Hand um die silberne Klinge. Er zog den Dolch durch seine Hand, grunzte wegen des Schmerzes auf, Blut floss durch seine Finger und tropfte auf den Boden.

Desiderius wusste nicht, ob er zurücktreten oder ihn aufhalten sollte, infolgedessen blieb er einfach stehen und umschlang sich selbst mit den Armen.

Ihm war gewiss nicht wohl dabei, untätig zuzulassen, was auch immer gerade vor seinen Augen geschah. Aber etwas schlich sich in ihn, dass ihn veranlasste, alles geschehen zu lassen: Neugierde.

Sie hatten einen Gott besiegt, er und sein Bruder. Also, was auch immer hier lauerte, war auch irgendwie zu besiegen.

Bellzazar rieb seine Finger aneinander, verteilte das Blut, bis seine Hand rot gefärbt war, und sagte wie zu sich selbst: »Eine Tür, geschaffen um mich zu meinem Schicksal zu führen. Gewollt so versiegelt, dass ich sie erst öffnen kann, wenn ich mich für das Wohl der Götter selbst geopfert und meinen Vater für sie vernichtet habe – oder um mich für immer hiervon fernzuhalten.« Er legte die blutige Hand auf das Siegel und erklärte mit bösartigem Schmunzeln an Desiderius gewandt: »Eine Tür, die nur ein Dämon öffnen kann.«

Desiderius konnte ihn nur anstarren, zu sehr war sein Hirn damit beschäftigt, zu begreifen, dass sie mal wieder mit hohen Mächten spielten. Und dann, unter seinen ungläubigen Augen, begann der Fels zu vibrieren. Die Geheimtür schob sich zurück und glitt zur Seite, Gesteinsstaub und kleine Steine flogen durch die Luft, das Geräusch ließ seine Kameraden aufblicken und zu ihnen kommen.

Mit einem Schaben verschwand die Tür und legte einen Höhlengang frei, der steil nach unten führte.

Und von da an konnte Desiderius wirklich nicht mehr leugnen, dass etwas Dämonisches in seinem Bruder innewohnte, immerhin öffnete er gerade eine göttliche versiegelte Tür, die nur einem Dämon Zugang gewährte.

Nur am Rande rief er sich in Erinnerung, dass Bellzazar das Siegel jedoch nie ohne ihn – ohne etwas Göttliches – gefunden hätte. Da stellte sich ihm die Frage, ob das, was Bellzazar suchte, von den Göttern ganz gezielt so verwahrt wurde, dass Bellzazar es ohne Hilfe nicht erreichen konnte.

Ob er in dieser Sache weiter hinter seinem Bruder stand oder zu den Göttern, hatte er noch nicht entschieden. Zu aller erst wollte er wissen, was genau Bellzazar so unbedingt in seinen Besitz bringen wollte.

Im Land der Schatten

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