Читать книгу Im Land der Schatten - Billy Remie - Страница 7
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ОглавлениеDie Sterblichen flüsterten etwas von einem Halbgott-Halbdämon, der seit Anbeginn der Zeit existiert ... Bellzazar zupfte einen Grashalm aus dem Boden und benutzte ihn um die Reste der Echse aus den Zähnen zu entfernen, während er daran dachte, wie falsch die Legenden um seine Person doch waren. Aber wer konnte es den Sterblichen verübeln, immerhin lag seine Ankunft in diese Welt bereist mehr als zweihunderttausend Jahre zurück. Und was von jenen, die er damals Freunde nannte, übrig war, war im Grunde nur noch Staub. Nicht, dass er die Gelegenheit gehabt hätte, nachzusehen.
Trotzdem waren die Gerüchte über ihn nie ganz falsch. Es gab in jeder Legende einen Anteil Wahrheit. In gewisser Weise lebte er seit Anbeginn der Zeit, immerhin hatte sich seine göttliche Mutter von diesem Dämon, seinem Erzeuger, verführen lassen und ihn in ihrem Leib empfangen, als die Götter diese Welt, in der er nun lebte, noch gar nicht geschaffen hatten.
Natürlich hatte sie zuvor schon existiert, aber das Leben in ihr, die Möglichkeit, dass sich hier Leben entwickeln und verbreiten konnte, haben die Götter geschaffen. Sauerstoff, Wasser, Vegetation, all das erschufen sie, um das Grundgerüst für Leben möglich zu machen.
Jetzt waren die, die das geschaffen hatten, die Götter der Völker in dieser Welt.
Doch er ... - Er war kein Gott, war es auch nie wirklich gewesen.
Götter bekamen keine Kinder untereinander. Fleischeslust war den Sterblichen vorbehalten. Und ihm. Götter ernannten Halbgötter oder andere magische Wesen zu ihren Brüdern und Schwestern. Damals, nach seiner Geburt, war er einer der Glücklichen gewesen, aber nicht dank der vielen Götter, sondern wegen der Schöpfer, den höchsten aller magischen Wesen.
Im Reich der Götter alterte niemand, bis auf er, was bereits ein Anhaltspunkt auf seine Andersartigkeit gewesen war. Und ›anders sein‹ war schlecht für viele seiner Geschwister. Er hatte nie wirklich dazugehört, und doch so lange Zeit darum gefleht, ohne Zweifel in ihre Reihen aufgenommen zu werden. Er war ein junger Bursche gewesen, als er Lugrain begegnet war, doch hatte er nicht nur sechzehn Jahre im Reich der Götter verbracht, sondern das Hundertfache davon. Kaum war er in diese Welt verbannt worden, war auch sein Köper schneller gewachsen, bis er einfach in den besten Jahren aufhörte, zu altern. Wie so viele Körper, die von göttlichen Seelen bewohnt wurden.
Ewige Jugend und Unsterblichkeit war sein Fluch. Doch Anfangs, als er seine ersten wahren Freunde kennengelernt hatte, war es ihm wie ein Segen vorgekommen. Ein Segen, den er sich auch für seine Freunde wünschte.
Nachdem der erste von ihnen starb, war ihm erst deutlich bewusstgeworden, was die Götter ihm angetan hatten. Egal wie viele er Freunde nannte, irgendwann gingen sie alle in eine Welt, in die er ihnen nicht folgen konnte – nicht durfte.
Manchmal, wenn der Schöpfer ihm gewogen war, durften sie wiederkehren. Jedoch in anderen Körpern und ohne Gedächtnis, so wie die kleine Karrah. Immer an ihn gebunden, ohne freien Willen, ohne zu wissen, warum. Welch grausames Schicksal die Götter dieser Seele auferlegt hatten. Er würde dieses Band zerstören, unwiederbringlich. Er wusste, dass es möglich war. Er hatte es selbst geschafft, dem zu entkommen. Bellzazar hatte eine Liebe entdeckt, die tiefer ging, endlos war, unbeschreiblich, unzähmbar. Er wusste, dass diese Liebe, die von den Göttern geplant wurde, nicht wirklich echt war.
Sein Blick glitt durch den Wald zu den beiden Liebenden unter dem Mammutbaum. Er schmunzelte und korrigierte sich: »Nun ja, manchmal ist diese Liebe doch echt.«
Aber wie viele hatten dieses Glück? Nicht viele. Wenn er schon nicht alle von den Einflüssen der Götter befreien konnte, zumal viele Lebensformen das nicht wollten, so konnte er doch endlich dafür sorgen, dass die Seele befreit war, die all die Jahrtausende über unfreiwillig an ihn gebunden war.
Was das in der Weltordnung auslösen würde, wusste er nicht, aber er würde es trotzdem tun.
Er selbst hatte nie das Wesen angerührt, das sie für ihn auserkoren hatten, weil er sich nicht an ihren Willen binden wollte. Er sollte ein Unsterblicher bleiben, gebunden an eine Welt der Sterblichen, weil die Götter sich vor ihm fürchteten. Nicht vor ihm als Person, sondern vor dem, was er symbolisierte: den Fehler einer angeblich unfehlbaren Gottheit; seiner Mutter.
Er hatte immer ein Recht darauf gehabt, in den Stand eines Gottes erhoben zu werden.
Das hatten sie ihm verweigert. Jetzt ging er eigene Wege.
»Denk nicht so viel darüber nach«, hörte er die Stimme eines alten Freundes in seinem Kopf. Eine Warnung, so lange sie auch her sein mochte, die noch immer galt. »Die Götter beobachten dich, dich und deine Gedanken, ebenso die meinen!«, hörte er noch heute Lugrain warnen. »Lass sie niemals wissen, welchen Weg du verfolgst, sonst sieht es düster für uns aus.«
Er hatte ja so recht gehabt ...
Seufzend lehnte sich Bellzazar zurück und streckte die Beine aus, die alten Erinnerungen vertreibend. Er beobachtete, so wie jedes Mal, das Spiel der beiden Liebenden, und erfreute sich an dem Anblick, der von wahren Gefühlen zeugte.
Er selbst fand viel Erfüllung und Freude zwischen den Schenkeln von Frauen – reichlich Frauen – jedoch nie aus Liebe. Nie.
Die einzig wenigen Vereinigungen, die er aus Liebe begangen hatten, lagen bereits so unendlich weit in der Vergangenheit, dass sie ihm wie die Erinnerungen eines anderen vorkamen, zu denen er kaum noch Bezug nahm. Vergessen würde er sie trotzdem nicht.
Was viele nicht ahnten, und was er niemals zugeben würde, war seine Faszination für Liebende jeglicher Art. Er hatte in seinem ganzen Dasein schon so ziemlich Jede Form der Gefühle kennengelernt. Liebe, Leidenschaft und Freundschaft, erfuhr er am eigenem Leid, aber bei anderen Wesen sah er auch Mutterliebe, Vaterliebe, Liebe zum eigenem Volk, Liebe zu einem Stück Land. Liebe war so individuell und Facettenreich, dass es Unsinn schien, dass es eine einzige Göttin dafür gab.
Besagte Göttin, seine Mutter, war in einer Gefängniswelt gefangen, was vielleicht auch ganz gut so war, denn nun hatten es die Götter umso schwerer, Gefühle zu manipulieren, um sie auszunutzen, um dann die Geschicke der sterblichen Welt zu lenken.
Früher hatte Bellzazar seine Geschwister noch gemocht und hatte Ausreden für ihr Tun gefunden. Nun, nach all der Zeit des Wartens, war es ihm schlicht und ergreifend zu blöd, noch auf etwas zu hoffen. Vielleicht lagen seine Sinneswandlung und der Drang nach Handeln auch daran, dass er mittlerweile zu einem Dämon geworden war.
Wie dem auch sei. Sein neues Dasein eröffnete ihm zuvor verschlossene Wege, vor denen er nicht zurückschreckte. Und es war schön, auch auf dieser Reise Freunde und Familie um sich zu wissen. Auch wenn ihm seine Gefährten misstrauten, konnte er doch auf die Unterstützung seines Bruders und auf die Zustimmung des Prinzen setzen. Das würde er ihnen nie vergessen. Er schwor sich, für sie zu sorgen, so gut er konnte. Selbst wenn sie das, was er vorhatte, niemals gutheißen würden. Weshalb er hinauszögerte, es ihnen zu erklären.
Unweit von ihm entfernt hörte er den Schurken durch die Gegend schleichen. Bellzazar musste schmunzeln, als er das Echo von Schritten vernahm, die den Schurken verfolgten.
Ja, Liebe war ganz individuell, das hatte Desiderius – Bellzazar hatte gelauscht – ganz richtig erkannt. Aber das war für die beteiligten Personen nicht immer ein Segen.
Er selbst wusste das nur zu gut.
***
Luro hatte die kleine Karrah bei Zasch und Mitja gelassen, als er zusammen mit seiner Nachtschattenkatze Marrah aufbrach um Allahad zu verfolgen. Er war es leid, dass der Schurke ihm aus dem Weg ging.
Der Sonnenuntergang brach über ihn herein, die Luft wurde zunehmend kühler, ein klarer Beweis, dass sie weit ab der Heimat und tief in die kalten Regionen Bleyquinnts gereist waren. Carapuhr war nicht mehr weit entfernt.
Luro vermisste Nohva, vermisste die Wärme der Frühlings- und Sommermonate, vermisste die Sandwüste im Westen, vermisste die kleine Hütte am einsamen Strand, vermisste ... Nebuhr.
Der Tod seines einstigen Gefährten machte ihm noch immer die Brust eng, doch zumindest fing er bei dem Gedanken des Verstorbenen nicht mehr ständig an zu weinen.
Er war, soweit es überhaupt möglich schien, über diesen Tod hinweg, aber es hatte lange gedauert, bis er sich mit der Schuld abgefunden hatte, dass er vor Nebuhrs Tod kein liebender Partner gewesen war. Im Gegenteil, er war sogar ziemlich gemein zu Nebuhr gewesen.
Wegen der Trauer hatte Luro sich nicht beklagt, dass Allahad Abstand hielt, er selbst musste erst einmal diejenigen verabschieden, die er verloren hatte, obwohl er sich trotzdem nach menschlicher Nähe sehnte. – Wobei nicht wirklich die Rede von menschlicher Nähe sein konnte, immerhin war Allahad mehr Luzianer statt Mensch. Aber das war Haarspalterei.
Wärme. Nähe. Vertrautheit. Halt und Trost. Ja, genau das hätte er bitter nötig gehabt in den Monaten auf See, als die Koje erschreckend einsam und kalt wurde. Doch der Schurke hatte sich rargemacht.
Vielleicht aus Taktgefühl, vielleicht aus Fürsorge, um Luro in aller Ruhe erst einmal alles betrauern zulassen, was er verloren hatte: Heimat, Geliebter, Freunde. Vielleicht brauchte Allahad selbst Zeit, alles zu verarbeiten, und wollte das lieber alleine tun.
Aber, verdammt noch mal, irgendwann war die Zeit der Trauer auch einmal vorüber.
Selbst ihr Prinz stand morgens mit einem Lächeln auf, selbst Desiderius, ihr stolzer und stets zynischer Freund, war glücklich, trotz, dass sie alle die Heimat verlassen und Freunde, sogar ganze Familien, verloren hatten.
Warum konnte Allahad nicht auch endlich bereit für etwas Neues sein? Luro war bereit, mehr als bereit, er sehnte sich danach, nach vorn zu blicken und einen neuen Anfang zu machen.
Aber nicht allein, dafür trachtete sein einsames Herz viel zu sehr nach Liebe, die meist nicht erwidert wurde. Nur Nebuhr hatte ihn vergöttert, ihn auf Händen getragen. Oh, wie er es vermisste, sich so geborgen zu fühlen; er vermisste es, geliebt zu werden.
In Luros Leben hatte es erstaunlich viele Männer gegeben, dahingehend konnte er sich nicht beklagen. Sein Schandmaul hatte ihm oft dabei geholfen, selbst Männer zu verführen, die felsenfest von sich behaupteten, nur Frauen zu besteigen. Aber geliebt wurde er nur von einem; Nebuhr, der unwiederbringlich tot war.
Tief einatmend verscheuchte er die Tränen des Bedauerns und hielt sich dabei an einem Baumstammfest. Die Rinde darunter war rau und trocken an seinen schlanken Fingern. Einen Augenblicklang stellte er sich vor, den Stamm zu umarmen, die Wange an die Rinde zu schmiegen und sich vorzustellen, es handelte sich dabei um Allahads Harnisch, dessen dunkles Leder bereits so veraltet und rissig war, dass es sich ähnlich anfühlte.
Doch so verzweifelt war er dann doch noch nicht.
Ein Winseln seitens Marrah ließ Luro die Augen öffnen. Sie saß neben ihm und legte mit gespitzten Ohren ihren Kopf schief, als wollte sie fragen, was für seltsame Dinge ihr Herrschen dort schon wieder trieb.
Er lächelte ihr zu und sagte leise: »Du musst uns Menschen wirklich für verrückt halten, oder?«
Sie sprang auf und drehte sich aufgeregt um sich selbst, dabei kam ein gurrender Laut aus ihrer Kehle, der sich fast wie Zustimmung anhörte.
»Ja, das mein ich auch«, gab er zurück. Er strich ihr über den Kopf, dabei schloss sie genüsslich die Augen.
»Na los«, beschloss er. »Weiter.«
Sie ließ sich nicht zweimal bitten, sie trabte zwei Schritte voran und Luro folgte ihr ebenso lautlos.
Als Jäger hatte man eine ganz spezielle Beziehung zu Tieren. Luro jagte sie nicht nur, er respektierte sie. Er nahm stets nur das, was ihm zustand, was sein Körper verlangte. Darüber hinaus war er mit der Natur sehr stark verbunden, er und die Tiere, die er zähmte, hatten eine starke Bindung zueinander, die manche Menschen magisch nannten. Es war nicht einfach zu beschreiben, Marrah war seine Freundin, nicht sein Haustier, sie hatte immer ihren eigenen Willen und war nicht gezwungen, ihm treu zu sein. Dass sie es freiwillig vorzog, immer in der Nähe zu sein, zeugte von der tiefen Freundschaft zwischen Tier und Mensch.
Während er hinter ihr herging und Allahads kaum lesbaren Spuren auf dem Waldboden folgte, führte sie ihn hauptsächlich mit ihren Sinnen an. Sie horchte und schnüffelte, dann bog sie ab, mal den Hang hinauf, mal hinunter, zu einem schmalen Pfad, angelegt von Herdentieren, vermutlich eine Gruppe junger Rehe. Er bemerkte dabei immer wieder ihren leicht humpelnden Gang, den sie seit der Pfeilverletzung in ihrem Hinterlauf besaß.
Armes Ding, er fühlte große Schuld deshalb, weil er sie nicht davor bewahrt hatte. Jedoch hätte sie Luro niemals alleine in die Minen Nohvas gehen lassen, dafür war ihr Beschützerinstinkt viel zu groß. Sie kümmerte sich fast mütterlich um ihn, war da, wenn er traurig war, tröstete ihn mit ihrer Anwesenheit, beschützte ihn wie ein Junges.
Dank Marrah holten sie den Schurken schnell ein, der sich lautlos und unsichtbar durch die Bäume zu bewegen wusste.
Allahad kauerte auf dem Boden, einen Pilz begutachtend.
Absichtlich ließ Luro einen kleinen Ast unter seinen Stiefel zerbrechen, um damit auf sich aufmerksam zu machen.
Blitzschnell bewegte sich Allahad, ließ den Pilz fallen und zog einen Dolch, dessen Klinge beim Rausholen ein metallisches Schaben verursachte, das die abendliche Stille um sie herum Durchschnitt. Ein Schwarm Vögel stob aus den Baumkronen und flog davon.
Luro zog nur eine dunkle Augenbraue hoch, er rührte sich sonst nicht. Marrah legte erneut den Kopf schief und sah verwirrt zu Allahad auf.
Die braunen Augen des Schurken glitten von Luro zu der Nachtschattenkatze. Er sackte in die Knie, ob aus Erleichterung, weil sie keine Feinde waren, oder aus Frustration, weil sie ihm gefolgt waren, konnte Luro nicht deuten.
Seufzend rammte Allahad den silbernen Dolch zurück in die Lederhülle, die quer über seinem Brustharnisch gespannt war. »Ich sagte doch, ich gehe allein.«
Da er nichts mit seinen Händen anzufangen wusste, verschränkte Luro die Arme vor der Brust, das Leder seiner eigenen Rüstung knirschte dabei. »Ich wollte dir keine Gesellschaft leisten, ich wollte mit dir reden.«
Sofort verdüsterten sich Allahads Züge, von den schmäleren dunkelbraunen Augen über die hohlen Wangen bis hin zu seinem spitzen und langen Kinn, das er durch einen Ziegenbart betonte. Er wandte sich ab, wich Luros Blick aus.
»Ich wüsste nicht, worüber«, hauchte er dann, als käme ihm die Lüge schwer über die Lippen.
Luro biss sich in die Unterlippe, bevor sein Mund seine ganze Frustration herausbrüllte.
»Schau mal.« Allahad ging in die Hocke. »Du wolltest doch etwas Anderes als Fleisch. Ich glaube, diese Pilze sind ungefährlich.«
Luro wollte jetzt nicht über Pilze sprechen. »Du glaubst?«, hakte er dennoch verwundert nach, vielleicht klang er etwas zu ärgerlich.
Allahad nickte nur, wich geflissentlich Luros Blicken aus. Er hob den Pilz zu seiner Nasenspitze, roch an der braunen Kappe, die feucht glänzte.
Die Sonne strahlte durch die Blätter und verwandelte mit ihrem Licht den Wald in ein orangerotes Inferno. Luro trat von einem Fuß auf den anderen. Alles um sie herum schien wie der Fantasie entsprungen, viel zu schön, um wahr zu sein. Der überwucherte Wald, verwildert, ohne jegliche Zivilisation, ohne je von Menschen oder anderen zweibeinigen Völkern gestört worden zu sein. Die untergehende Sonne, die alles in ein romantisches Licht tauchte. Und sie beide waren hier alleine, ungestört, nur Luro und Allahad, ohne neugierige Blicke, die sich fragten, was zwischen ihnen war oder nicht war.
Wieso, bei den Göttern, lagen sie sich noch nicht nackt in den Armen?
»Allahad, wir sollten miteinander reden«, betonte Luro eindringlich.
Allahad ignorierte das Gesagte, er biss ein Stück von der Pilzkappe ab und kaute mit kritischem Blick lange darauf herum.
Luro wartete ab, sein Fuß tippte ungeduldig auf den klammen Waldboden.
Marrah schien sich dumm vorzukommen, oder sie hatte es einfach satt, ihnen bei ihrem peinlichen Balzgehabe zuzusehen, denn sie verschwand im Wald, Luro hörte, wie sie im Unterholz nach Mäusen jagte.
Schließlich spuckte Allahad das Gekaute aus, spuckte Speichel nach. »Pah! Nicht giftig, aber ungenießbar. Tut mir leid.« Er erhob sich und fuhr sich dabei mit dem Unterarm über die feucht glänzenden Lippen, dabei fiel sein schwarzer Wollumhang über die Schulter nach hinten und gab seinen schlanken Körperbau preis.
»Hm, was denn?«, fragte Luro provozierend. »Dass der Pilz ungenießbar ist oder dass du mich seit Monaten wie Luft behandelst?«
Allahad fuhr verwundert zu ihm herum, er blinzelte. »Wie bitte, ich behandle dich wie Luft? Ich rede doch mit dir!«
Luros Schultern sackten herab. »Nein, eben nicht. Du gehst mir aus dem Weg. Ich könnte ebenso gut unsichtbar für dich sein.«
»Unsinn.« Allahad warf ihm einen Blick zu, der deutlich machte, dass er Luros Vorwurf für albern hielt. »Geh zum Lager zurück, Luro, es wird bald dunkel, geh schlafen.«
Allahad wandte sich ab, zog dabei den Umhang wieder über die Schultern und wollte einfach gehen.
»Ich bin nicht dein Schoßhund, den du rumschicken kannst, wie es dir passt!«, rief Luro ihm nach.
Zwei Schritte entfernt blieb Allahad für einen Augenblick mit dem Rücken zu Luro stehen, ehe er sich erbarmte, ihn endlich wieder anzusehen.
Die Arme ausbreitend warf Luro ihm weiterhin vor: »Du berührst mich nicht einmal mehr.«
Allahad presste die Lippen aufeinander, dann kam er mit zwei langen Schritten zurück und legte ungehalten eine Hand in Luros Nacken. Der Lederhandschuh um seine Finger fühlte sich kühl und rissig an.
»Siehst du, ich fass dich an«, betonte Allahad und beugte sich dabei so nahe zu Luro herunter, dass sie gegenseitig ihren warmen Atem spüren konnte; ein herrlicher Kontrast zur kühler werdenden Abendluft.
Halb benebelt von der Nähe, funkelten Luros kristallblaue Augen. Doch gerade als er die Hand um Allahads Unterarm legte und ihm das Gesicht entgegenstreckte, wandte dieser sich abrupt ab und drehte sich um. Schon wieder wollte er gehen!
Luro packte seine Schulter und drehte ihn halb zu sich um. »Du weißt, dass ich das so nicht gemeint habe.«
»Und wie hast du es gemeint?«, fragte Allahad überraschend barsch.
Luro zuckte angesichts dieser offenen Feindseligkeit zurück, fing sich jedoch schnell wieder, weil er genug davon hatte, hingehalten zu werden. Er blieb, wo er war, und nagelte den Schurken mit einem herausfordernden Blick fest.
»Du weißt genau, wo von ich spreche«, bat er jedoch etwas einfühlsamer. Er streckte mit klopfendem Herzen eine Hand nach vorne und berührte Allahads an der Seite herabbaumelnde Finger. Die Berührung war leicht, durch die Handschuhe vielleicht kaum zu spüren, aber unmissverständlich machte sie deutlich, was Luro erwartete. Nähe. Körperliche Nähe.
»Ich habe ...«, Luro senkte die Stimme zu einem schüchternen Flüstern, » ... neun Monate auf See darauf gewartet, dass du zu mir in die Koje kommst. Vergeblich. – Wenn du dir sorgen machst, ich sei noch nicht so weit ... kann ich dich beruhigen.«
Allahad wich erneut seinem Blick aus, schüttelte wirsch den Kopf. »Pass auf, wir sollten da etwas klären.«
»Unbedingt.« Jetzt war er aber gespannt.
Allahad sah ihn entschuldigend aber entschlossen an. »Nur, weil ein grausiger Dämon ein paar Geheimnisse offenbart hat, bedeutet das nicht, dass sich irgendetwas ändert.«
Luro verstand die Welt nicht mehr. Insgeheim musste er sich jedoch einen Idioten nennen, weil er geglaubt hatte, ein einziges Mal würde es anders laufen. Das erniedrigende Gefühl der Zurückweisung kitzelte ihn im Nacken, dabei sollte er mittlerweile daran gewöhnt sein. Nicht nur Desiderius hatte seine Avancen abgewehrt, und sich lieber dem schönen Prinzen hingegeben, auch alle anderen Männer, in die sich Luro je verliebt hatte, wiesen ihn ab. Es war der Humor der Götter, ausgerechnet ihn, der sich so nach Liebe verzehrte, einsam dahinvegetieren zu lassen.
Deshalb kämpfte er nun um mehr als Freundschaft: »Aber ... wir haben uns geküsst!«
Allahad war dieser Protest, der nichts als die Wahrheit veräußerte, unangenehm, denn er senkte sogleich den Blick und wurde rot.
Luro machte noch einen Schritt auf ihn zu, fasste ihn flehend an der Schulter. »Ich weiß, da ist mehr, nicht nur wegen des Dämons. Du selbst gabst es zu, hast mich empfangen, als ich in dein Zelt kam. Du hast mich umschlungen ... mich geküsst! Sag mir jetzt nicht, das wäre nur Freundschaft gewesen, es wäre eine Beleidigung an meinen Verstand.«
Mit einem Rucken seiner Schulter entzog sich Allahad der Berührung, er machte einen Schritt zur Seite, um Abstand zu gewinnen.
Eine eiserne Maske als Gesicht, sagte Allahad dazu nur: »Jeder braucht vor der Schlacht jemanden, Luro.«
Das verletzte ihn fast mehr als die Zurückweisung. Ausgenutzt, kam es ihm in den Sinn. Ja, sein Freund hatte ihn selbstsüchtig ausgenutzt.
»Es tut mir leid.« Allahad hob eine Hand und strich Luro über die Wange, doch der Körperkontakt war nur flüchtig, und hatte eher etwas mit einem netten Onkel gemein, der seinen Neffen tröstete. »Tut mir leid, ich wollte dir nicht wehtun. Nie.«
Luro warf den Kopf zur Seite, blickte in den Wald hinein, er kämpfte mit Tränen der Scham. Er kam sich ja so dumm vor. Kopfschüttelnd schloss er die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust, als er zu sich selbst murmelte: »Ich bin es so leid, von allen Männern zurückgewiesen zu werden.«
Statt es dabei zu belassen, konterte Allahad: »Du musst ja auch nicht jedem Kerl hinterher hecheln, der auch nur ansatzweise nett zu dir ist.«
Fassungslos fuhr Luro zu ihm herum, aber Allahad war schon dabei, sich zu entfernen.
Dieses Mal hielt Luro ihn nicht auf, selbst wenn er gewollt hätte, wäre er nicht dazu in der Lage gewesen, weil er zu schockiert der Worte wegen war.
Nicht nur, dass Allahad impliziert hatte, Luro wäre nur ein netter Trost vor einer angsteinflößenden Schlacht gewesen, nein, dann musste er ihn auch noch als jemanden bezeichnen, der sich an jeden Mann ranschmeißt, der ihm über den Weg lief.
Das Schlimme daran war, das Allahad irgendwie die Wahrheit gesagt hatte. Rückblickend betrachtet war es Luros größte Schwäche, zu schnell und zu tief zu lieben. Aber daran konnte er nichts ändern, sein Herz sehnte sich dafür viel zu sehr nach jemanden, dem er sich zugehörig fühlte.
Ein leises Lachen grollte durch den Wald, düster und dunkel, erheitert und vielleicht etwas schadenfroh.
Genervt drehte sich Luro um: »Ihr labt Euch gern am Unglück anderer? «
»Ihr erinnert mich an mich selbst.« Der Dämon stieß sich von dem Baumstamm ab, an dem er zuvor lässig gelehnt hatte. »Zu einem gewissen Teil zumindest.«
»Lasst mich in Frieden, Bellzazar«, bat Luro weniger barsch als er beabsichtig hatte, er klang nur müde; aber nicht von dem langen Tagesritt.
»Wenn Ihr das wünscht, werde ich das natürlich tun«, erwiderte Bellzazar, doch er blieb vor Luro stehen, statt an ihm vorüber zu gehen.
Genervt sah Luro zu ihm auf, er hoffte, das genügte, um Bellzazar zu verdeutlich, dass er allein sein wollte.
Obwohl, eigentlich stimmte das nicht. Luro war nie gern allein, vor allem dann nicht, wenn er sich schlecht fühlte, doch zog er die Gesellschaft von Lebewesen der von Dämonen vor.
»Ich habe auch mal so sehr nach Liebe gesucht«, gestand Bellzazar. Grübelnd betrachtete er Luros Gesicht, als erinnerte er sich wehmütig an sich selbst. Doch dann lächelte er aufmunternd und fügte hinzu: »Ich fand sie in Freundschaft.«
»Freundschaft und Liebe sind nicht dasselbe«, stand für Luro fest. Er wollte von Allahad keine Freundschaft, er wollte mehr; mehr für ihn sein als ein platonischer Freund.
Schmunzeln konterte Bellzazar: »Und das von einem Mann, der sich immer in seine Freunde verliebt.«
Luro warf ihm einen giftigen Blick zu, der seine Wirkung verfehlte.
Amüsiert schmunzelte der Dämon: »Lieben wir denn unsere Freunde nicht? Und sind unsere Geliebten nicht auch immer eine Art Freunde?«
Luro zuckte gleichgültig mit seinen knochigen Schultern. »Fragen, deren Antworten Euch ein Philosoph geben könnte – was ich nicht bin.«
Streng sagte Bellzazar: »Fragen, die keine Antwort benötigen, weil sie rhetorischer Natur waren.«
Luro musterte für einen Wimpernschlag lang die scharfkantigen Gesichtszüge des Dämons, dann senkte er den Blick, weil dieser Worte gewählt hatte, die Luro kaum verstand. Er fühlte sich nun auf eine Art dumm, die ihn noch mehr niederschmetterte.
War er nicht nur naiv, sondern auch noch einfältig?
»Ihr strengt Euch zu sehr an«, gutmütiger Spott schwang in Bellzazars Stimme mit. »Ihr seid zu willig, zu zugänglich; zu leicht zu haben. Männer wie Euer Freund haben vor allem an Dingen Interesse, die sie jagen können, oder die ihnen verboten werden.«
»Was wisst Ihr schon über Allahad?«, warf Luro ein – jedoch hob er neugierig geworden den Blick zu Bellzazar.
Nicht jeder aus ihrer Gruppe traute dem Dämon ohne Zweifel über den Weg, selbst Desiderius blieb stets skeptisch über dessen Motive, jedoch konnte keiner bestreiten, dass Bellzazar mehr Lebenserfahrung hatte als sie alle zusammen. Wer wusste mehr über das Leben dieser Welt Bescheid als jemand, der sie von Beginn an kennt?
»Ihr wollt keinen Rat. Gut.« Bellzazar hob seinen Arm an, erst da bemerkte Luro die braune Kugel in seiner Hand. Sie war etwa so groß wie sein Kopf und übersäht mit störrisch langen Fasern, ähnlich wie Stroh, nur dunkel.
»Wenn Ihr nicht darüber sprechen wollt, ist mir das einerlei, aber vielleicht habt Ihr ja Lust auf etwas Gesellschaft?«, fragte Bellzazar – für seine Verhältnisse ungewöhnlich – freundlich.
Luro beobachtete ihn mit argwöhnischen Augen ohne etwas zu erwidern. Er war skeptisch gegenüber dem Wesen, das ihn eigentlich größtenteils ignorierte. Was sollte er davon halten, dass der Dämon wie aus dem Nichts seine Nähe suchte?
Bellzazar zog sein Schwert aus der Scheide, er hielt den Arm mit der braunen Kugel weit ausgestreckt, dann schlug er mit der Klinge zu und teilte die Kugel in zwei gleichgroße Hälften. Weiße Flüssigkeit spritzte hervor, dumpf kam eine Hälfte auf dem Boden auf.
»Seht Ihr, ich habe sogar etwas für Euch«, schmunzelte der Dämon. Er steckte zunächst das Schwert ein und hob die andere Kugelhälfte vom Boden auf, ehe er wieder vor Luro trat und unter dessen verwirrtem aber neugierigem Blick die weiße Substanz aufteilte und zu gleichenteilen in die andere Hälfte der Kugel goss.
»Es ist zwar keine Kuhmilch«, bedauerte Bellzazar, lächelte Luro jedoch ins Gesicht und hielt ihm eine gefüllte Hälfte entgegen, »aber glaubt mir, es ist köstlich.«
Unsicher betrachtete Luro die seltsame Frucht. Äußerlich hätte er sie für eine übergroße Mistkugel gehalten, innerlich war sie schneeweiß und gefüllt mit wenigen Schlückchen dieser seltsamen Milch, die stark wässrig wirkte.
Unwillkürlich hob er eine Hand und kratzte sich an seiner dünnen Kehle. Die Neugierde kitzelte ihn, aber das Misstrauen ließ ihn zögern.
Bellzazar schnaubte. Er legte seine Hälfte an die Lippen und nahm einen Schluck, leckte dann die unbekannte Milch von seinen dünnen Lippen. Danach sagte er gelassen: »Warum sollte ich Euch vergiften wollen? Wäre Euer Tod mein Wunsch, hätte ich genug Gelegenheiten gehabt, Euch zu töten.«
Trotzdem rührte Luro das fremdartige Ding nicht an.
Kopfschüttelnd wandte sich der Dämon ab. Mit den beiden Hälften der Kugel schlenderte er zu einer Ansammlung von Felsen, die von Schlingpflanzen überwuchert waren, und setzte sich.
»Wisst Ihr«, seufzte er dann und blickte Luro an, »Euren Schurken kann ich vielleicht verstehen. Er liebte immer nur Frauen. Auch wenn er nichts dagegen hat, wenn seine engsten Freunde Männer bevorzugen, heißt das nicht, dass es ihn nicht verwirrt, oder sogar abschreckt, die gleichen Vorlieben für sich zu entdecken.«
Sauer knurrte Luro: »Es ist keine Vorliebe!« Er hasste es, wenn jemand sein Leben als eine unbedeutende Vorliebe bezeichnete, so als seien seine Gefühle für Männer nicht mehr, wie die Frage, ob er lieber Huhn oder Schwein aß.
Bellzazar fragte abschätzig: »Warum benehmt Ihr Euch wie eine Prinzessin, die nach ihrem strahlenden Ritter sucht?«
Angesichts der offenen Beleidigung, schnitt Luro ihn mit einem Blick.
Unbeeindruckt fuhr Bellzazar fort: »Ihr seid doch ein Mann! Ein Mann aus Fleisch und Blut, und ein ganz hübscher obendrein. Warum also lauft Ihr jenen hinterher, die Euch nicht wollen? Ihr könntet an jeder Straßenecke Euren Spaß haben.«
Spaß zu jeder Zeit an jeder Ecke mit so vielen unterschiedlichen Kerlen, wie nur irgendwie möglich, war ja ganz schön, es war jedoch nicht die Lebensweise, die Luro für sich selbst vorsah.
»Und was ist mit … Liebe?«, fragte er und scharrte mit dem Fuß über den Boden. Unter feuchtem Moos und Schlingpflanzen war hellgrauer Fels zu sehen.
Bellzazar schmunzelte: »Manchmal zieht man der Liebe die Freude vor. Das ist angenehmer und senkt das Risiko, enttäusch zu werden.« Damit nickte er in die Richtung, in die Allahad entschwunden war, um seine Worte zu bekräftigen.
Luro starrte in das Loch, das Allahads Körper in einer Wand aus Gestrüpp hinterlassen hatte. Enttäuscht? Ja, das war er. Deshalb verbittert sein und sich dadurch verändern lassen? Nein, das lag nicht in seiner Natur. Er war nicht wie Desiderius, der nach einer Enttäuschung sieben Jahre und ein stürmisches Auf und Ab mit einem Prinzen benötigt hatte, um sich wieder zu verlieben.
»Wir haben uns geküsst«, flüsterte er in den Abendwind, »da war mehr.«
Viel mehr als Freundschaft und hinter dem Kuss hatte viel mehr gesteckt als das, was Allahad sich selbst vorzulügen versuchte. Das wussten sie doch alle.
Tief unzufrieden seufzend, warnte der Dämon: »Männer wie der Schurke sind Grund für viele gebrochene Männerherzen. Ich kenne diese Art von grausamen Burschen, die ein wenig experimentieren, ein wenig Abenteuer in anderen Betten suchen, und dann schließlich doch – aus Furcht, oder was auch immer – das Weite suchen. Seid nicht dumm, lasst Euch nicht das Herz brechen. Selbst wenn es mehr gewesen sein sollte, selbst wenn er Gefühle hat, ist der Schurke einer dieser Feiglinge, die sich lieber selbst belügen, als sich einem Leben zu stellen, das ihnen Angst macht.«
Nichts von dem, was Bellzazar sagte, ergab für Luro einen Sinn. Vielleicht waren die Worte zu sehr umschreibend für den jungen Jäger.
Als wüsste er, was Luro durch den Kopf ging, fügte Bellzazar hinzu: »Das Leben, das den Schurken erwarten würde, wenn er wie Ihr und Desiderius Männer bevorzugt, macht ihm Angst.«
Luro hätte sein Leben nie als etwas betrachtet, das angsteinflößend wäre. Aber das mochte daran liegen, dass er von Beginn an nie darüber nachgedacht hatte. Er war als Sklave mit einem Händler unterwegs gewesen, der nachts das Lager mit ihm teilen wollte. Natürlich hatten sie stets vorsichtig sein müssen, aber er wäre nie auf die Idee gekommen, Angst zu haben, das auszuleben, was er war. Vorsicht, ja. Verstecken, unbedingt. Aber niemals vor sich selbst leugnen, niemals ein schlechtes Gefühl deshalb haben! Nein, dafür war ihm sein Leben einfach zu kurz.
Bellzazar schüttelte den Kopf über ihn, als machte ihn allein Luros Anblick traurig. Tief durchatmend lenkte er plötzlich ein: »Aber, wenn es Euch so wichtig ist, kann ich Euch einen Rat geben, der vielleicht hilft.«
Neugierig schielte Luro zu ihm.
Bellzazar erklärte vielsagend: »Wenn Euch daran liegt, dass ein Mann etwas von Euch will, dann überzeugt ihn davon, dass ein anderer es noch mehr möchte.«
Verwirrt runzelte Luro die Stirn, jedoch war die simple Aussage der Worte nun auch für ihn verständlich. Es klang so primitiv, dass er fast glaubte, dass der Dämon recht haben könnte. Jedoch bezweifelte er stark, dass der kluge Allahad auf solche Tricks hereinfallen würde. Er ließ sich nicht mit so etwas manipulieren.
»Kommt her und setzt Euch«, bat Bellzazar. Es klang nicht nach einem Befehl, sondern eher nach einer schüchternen Bitte, was überhaupt nicht zu ihm passte.
Luro runzelte die Stirn. »Wozu?«
»Der Schurke sucht die Einsamkeit, der Barbar und sein Weib spielen mit dem Hexenkind Familie und unser Prinz und Desiderius treiben es mal wieder wie junge Kaninchen im Frühling – würde mich nicht wundern, wenn sie bald einen Wurf Prinzenbastarde bekommen.«
Luro lachte wegen des Scherzes.
»Vielleicht sollten wir Wetten abschließen, wer von beiden zuerst wirft.«
Da Luro Desiderius kannte, auch sehr intim kannte, würde er auf den Prinzen wetten. Aber es war wohl ihr aller Glück, das zwei Männer sich nicht fortpflanzen konnten.
Er selbst mochte Kinder, keine Frage, vor allem die süße Karrah, jedoch hätte er niemals den Wunsch, ein eigens zu zeugen, selbst wenn es machbar gewesen wäre.
Schmunzelnd zuckte Bellzazar mit den Achseln. »Bleiben nur noch wir. Und ich weiß zwar nicht wie Ihr es seht, aber ich habe gerne Gesellschaft. Hm?« Er streckte den Arm aus und bot Luro erneut diese fremde Frucht an.
»Aber wieso meine Gesellschaft?«, wollte Luro wissen.
»Nun ja«, Bellzazar zuckte erneut mit den Schultern, »jeder braucht doch einen Freund, oder?«
Luro zögerte noch einen Moment. Da er sich aber nach der Zurückweisung tatsächlich nach Gesellschaft sehnte und Bellzazar sie so großzügig anbot, gab er sich einen Ruck.
Er nahm die Halbkugel in beide Hände und setzte sich neben dem Dämon auf den kalten Felsen. Bellzazar forderte ihn auf, von dieser seltsamen Milch zu kosten.
Sie war köstlich. So etwas hatte er noch nie geschmeckt. Süß, irgendwie nussig und … Nein, er konnte es nicht in Worte fassen. Der Geschmack war einfach ein Stück Paradies.
»Und? Besser als Törtchen?«, schmunzelte Bellzazar.
Luro nickte eifrig, um zu antworten war er zu sehr damit beschäftigt, sich die Lippen abzulecken.
»Seht Ihr, es sind die kleinen Freuden, die uns glücklich machen, nicht die großen Liebschaften, wie die Götter uns glauben machen wollen.«
Mit einem Dolch zeigte Bellzazar, wie Luro das Weiße in der Kugel abschaben und essen konnte. Es hatte eine seltsame Konsistenz, die irgendwie seinen Mund trocken werden ließ, sie schmeckte jedoch trotzdem gut. Aber kein Geschmack war je so köstlich wie Allahads Lippen, auf die Luro wohl verzichten musste. Leider.
***
Spät in jener Nacht, als die Flammen im Feuer erloschen und nur noch feurige Glut Wärme spendete, erwachte Desiderius aus einem unruhigen Schlaf.
Ein Geräusch im Gestrüpp ließ ihn hochfahren. Schatten huschten um das Lager herum, helles Hecheln drang an seine Ohren.
»Schleichwölfe.«
Desiderius blickte zu der Stimme auf.
»Auch Schattenwölfe genannt.« Bellzazar lehnte an einem nahen Baum, sein düsterer Blick war in den finsteren Wald gerichtet. »Sie umkreisen uns schon seit einer Weile.«
Sich aus den Decken befreiend, stand Desiderius von seinem Lagerplatz auf, darauf bedacht, Wexmell nicht zu wecken, der neben ihm schlief.
»Welche Art Kreaturen sind das?«, fragte er halblaut, um die anderen nicht aufzuwecken.
Bellzazar schielte mit einem schiefen Schmunzeln zu ihm. »Eine äußerst reizbare Art von wilden Wölfen.«
Desiderius wollte sich bücken, um nach seinem Langschwert zu greifen.
»Schon gut«, hielt Bellzazar ihn auf. »Sie sind nicht euretwegen hier. Sie spüren die Präsenz eines Dämons, das macht sie nervös.«
Desiderius hob dennoch seine Klinge auf. Nur um sicher zu gehen, schnallte er sich den Gürtel um die Hüfte.
Er trat hinter seinen Bruder. »Werden sie dich nicht angreifen?«
Bellzazar schüttelte gelassen den Kopf, er schätzte die Lage nicht als gefährlich ein.
Trotzdem machten die Viechern Desiderius ganz nervös. Sein letzter Kampf war Monate her, und gegen ein Rudel aggressiver Wölfe zu kämpfen, wenn man fürchtete, eingerostet zu sein, war unklug.
Mit dem Gewicht seiner Klinge, die an seiner Hüfte baumelte, war er schon wieder etwas beruhigter, dennoch rieb er sich den Schlaf aus den Augen, denn er würde wachbleiben.
»Es ist doch höchst seltsam, sie hier vorzufinden«, sagte Bellzazar mit Blick in die Baumkronen, deren Blätter im Mantel der Nacht schwarze Schatten waren. »Jemand muss hier gewesen sein, auf der Insel. Nur über den Schiffsweg hätten die Wölfe hier her gelangen können, und Wölfe sind nicht gerade dafür bekannt, weit zu schwimmen oder Segelschiffe zu steuern. Nein, jemand war hier gewesen, jemand, der auf zwei Beinen ging.«
Was es überhaupt mit dieser Insel auf sich hatte, wusste Desiderius noch immer nicht. Aber alle Fragen darüber wehrte Bellzazar ab. Er bat um Vertrauen, und Desiderius schuldete ihm viel – Wexmells Leben war der wichtigste von vielerlei Gründen – deshalb schenkte Desiderius Bellzazar widerwillig das blinde Vertrauen, das dieser verlangte.
»Wieso ist das ungewöhnlich?«, wollte Desiderius wissen.
»Schattenwölfe gibt es nur in Carapuhr, wir sind aber auf einer Insel, die eindeutig nicht zum Land des Schnees gehört.«
»Ich meinte ja auch, warum es ungewöhnlich ist, dass jemand hier war«, korrigierte Desiderius. Er interessierte sich brennend für die Antwort darauf.
Eine ganze Weile schien es so, als wollte Bellzazar nicht darauf antworten. Weiterhin wurden sie von Wölfen umschlossen, doch der Kreis des Rudels wurde immer größer, sie schienen sich zurückziehen zu wollen. Vielleicht wegen des Erwachens des Drachens, gegen den sie nichts ausrichten könnten, wenn er entfesselt werden würde.
Schließlich gestand Bellzazar: »Die Insel besitzt eine nicht sichtbare Barriere, Magiebarriere. Wer nicht selbst ein hochbegabter Magieanwender ist, kann sie nicht betreten.«
Also mussten sie befürchten, dass jemand mächtiges vor ihnen hier gewesen war. Ob sie das beunruhigen sollte, wusste Desiderius nicht. Es wäre einfacher, wenn er wüsste, wonach sein Bruder suchte.
Der Wald, so wunderschön am Abend und am Tage, hatte in der Nacht, wie Desiderius gerade feststellen musste, eine äußerst unheimliche Atmosphäre. Es war nicht gänzlich dunkel, ein hellgrüner Schimmer schien vom Moor aus durch die Bäume, Nebelschwaden, wo warmes Wasser auf kalte Nachtluft traf, schwebte um sie herum. Lichtgestalten gingen ruhelos umher, Klagelaute und Wimmern waren zu hören.
Welch Glück, das Desiderius als Luzianer kaum Grusel an finsteren Orten empfand. Was ihn jedoch beunruhigte, war die Vorstellung, jemand mit mächtiger Magie könnte hier gewesen sein und möglicherweise etwas heraufbeschworen haben. Einen Dämon, zum Beispiel.
Im Gegensatz zu allen anderen, war es Desiderius zuwider, seinen Bruder als Dämon zu bezeichnen, weil Bellzazar in seinen Augen nie ein Wesen aus der Unterwelt sein konnte.
Vielleicht war sein Körper nach der Aufnahme der Seele des Dämonenfürsten jetzt mehr dämonisch statt göttlich, jedoch war Bellzazar vor allem eines: sein Bruder. Brüder, die gemeinsam einen abtrünnigen Gott getötet und den Tod überlistet hatten, als sie Wexmell zurückholten. Es war kein richtiges ›Zurückholen‹ gewesen, jedoch war es so viel einfacher zu umschreiben.
Eine Bewegung in der Nähe des Lagers ließ Desiderius den Kopf drehen. Es war nur eine weitere Lichtgestalt, die durch die Wälder zog.
»Irrlichter«, knurrte Bellzazar. »Wir sollten auf die Menschen in unserem Lager achten. Menschen verfallen schnell den Lockrufen der Geister im Moor.«
»Zasch und Luro sind nicht naiv und einfältig«, warf Desiderius ein, weil er seine Freunde verteidigen wollte. Insgeheim stimmte er Bellzazar aber zu. Es hatte nichts mit Naivität oder Dummheit zu tun, wenn ein Mensch einem Irrlicht folgte. Die verwirrten Geister wussten nur zu gut, wie sie in den Verstand der Menschen eindringen konnten. Woran es lag, dass Geister und Dämonen leichtes Spiel bei Menschen hatten, und Luzianer immun dagegen waren, wusste niemand so genau.
Grauenerregende Schreie von einer Frau durchschnitten die Nacht, die sich anhörten, als würde ihr jemand bei lebendigem Leibe das Herz herausschneiden.
»Irrlichtmutter«, flüsterte Bellzazar leise. Er deutete sofort zur Glut und trug Desiderius leise aber in Eile auf: »Lösch das Feuer.«
Desiderius benutzte das Wasser aus einem Eimer, der als Badewanne für die kleine Karrah gedient hatte, und schüttete es über die Glut. Es zischte laut und übelriechender Dampf stieg auf.
Bellzazar weckte die anderen, jedoch nahm ihm das Zischen des Feuers und die plötzliche Unruhe einiges an Arbeit ab.
»Derius?«, murmelte Wexmell alarmiert.
»Ich bin hier«, flüsterte Desiderius und ging neben ihm in die Hocke. Er übergab Wexmell sein Schwert und sagte knapp: »Verhalt dich ruhig, aber sei bereit.«
Wexmell schälte sich aus der Decke, er war sofort hellwach. »Bereit für was?«
»Irrlichtmutter.«
Allahad, der in der Nähe auf die Beine kam und nach Pfeil und Bogen griff, hauchte: »Wir sind verloren, wenn sie uns sieht. Wir haben keine Chance gegen sie.«
Da hatte er nicht Unrecht. Es gab Dinge in ihrer Welt, gegen die ein Schwert nicht viel ausrichten konnte. Hier wäre Zauberkraft von Hexen notwendig gewesen, aber die einzige Hexe war nicht einmal ganz zwei Jahre alt; und ihre einzigen Waffen waren die Stinkbomben, die sie in ihrer Hose hinterließ.
Apropos Karrah.
Desiderius verließ Wexmells Seite und trat in der Dunkelheit zu Luro, der versuchte, das Kind zu beruhigen.
Karrah quengelte, weil sie geweckt wurde, und das konnten sie gerade gar nicht gebrauchen. Schlimm genug, dass die Pferde bereits unruhig tänzelten und ihr Hufgetrampel die Irrlichtmutter anlocken konnte.
Desiderius nahm seinem Freund das Kind ab, das ihm von der Hexe Ruhna anvertraut worden war. Wie so oft beruhigte sie sich unter seinem leisen Geflüster. Vielleicht lag es nicht einmal unbedingt an ihm, sondern viel mehr an der inneren Ruhe, die von ihm ausging.
Natürlich hatte auch er mehr als oft Angst, jedoch waren seine Nerven aus Stahl und er blieb für gewöhnlich trotz Furcht ruhig.
Er benutzte ein Tuch, um sich das Kind vor die Brust zu binden, sodass sie mit dem Köpfchen an seinem Hals lag und seine Wärme spüren konnte. So wurde sie auch getragen, wenn sie ritten. Kämpfen konnte er so natürlich nicht, aber er konnte ohnehin nichts gegen diesen Feind ausrichten.
Magieschwerter, das bräuchten sie.
Ihre einzige Waffe war der Hexenstab, den Bellzazar auch bereits in den Händen hielt. Mit ein paar gezielten Treffern würden sie die Irrlichtmutter vielleicht verletzen können, doch diese Biester waren blitzschnell, konnten sich unsichtbar machen, und ihre Schreie konnten einem Mann das Trommelfell platzen lassen, wenn sie nur nah genug war.
Zasch, mit seiner hünenhaften und brutal wirkenden Gestalt, konnte mit seinem ruhigen und sanften Wesen die Pferde beruhigen. Mitja griff zum Bogen, doch auch sie schien zu wissen, dass ihre gewählte Waffe keinen Nutzen haben würde, eine tiefe Sorgenfalte stand zwischen ihren Augen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Wexmell, der neben Bellzazar trat.
Desiderius‘ Bruder flüsterte warnend zurück: »Uns still verhalten!«
Erneut, nun näher, echote der schrille Schrei durch den Wald. Es klingelte ihnen allen in den Ohren. Irrlichter in der Nähe schienen sich zu sammeln, um zu ihrer Mutter zurückzukehren.
Desiderius drückte sich mit dem breiten Rücken gegen einen Baumstamm, seine Gefährten taten es ihm gleich.
Karrah brabbelte, und er brachte sie mit einem Kuss auf das dunkle, violett schimmernde Haar zum Schweigen. Er hatte es ihr, da es bereits sehr lang geworden war, mit einem Lederband zu einem albernen Zopf mitten auf dem Kopf zusammengebunden. Jedes Mal, wenn er sie ansah, musste er sich ein Schmunzeln verkneifen.
Irgendwann, wenn sie groß war, und Wexmell ihr davon erzählte, würde er sicher die Strafe dafür erhalten. Trotzdem, sie sah damit so niedlich aus, dass er ihren Zorn darüber in Kauf nahm.
Den Rücken seiner Ziehtochter streichelnd, sah er über ihren Kopf hinweg zu Bellzazar und Wexmell, die sich gemeinsam an einen großen Baumstamm drückten, direkt hinter ihnen konnte er ein grelles, weißes Licht erkennen.
Es kam deutlich näher.
Eine grauenhafte Gestalt tauchte zwischen den Bäumen hinter Wexmell und Bellzazar auf. In zerrissene weiße Gewänder gehüllt, schwebte sie umher, eine geisterhafte Laterne mit weißem Licht hocherhoben, Fingernägel so lang wie Klauen, ein dürres Gerüst aus Knochen, überzogen von verwester Haut und Lumpen, ergrautes, fettiges Haar. Eine Frau, wie frisch aus dem Grabe endstiegen.
Die Irrlichtmutter.
Sie zog umher auf der Suche nach Opfern. Was sie antrieb, wusste keiner. Woher sie kam, wusste auch niemand. Es gab Vermutungen über Frauen, die von ihren Geliebten ermordet worden waren und nun die Sterblichen heimsuchten – auf Rache aus waren. Es gab auch Gerüchte über Jungfern, verlassen am Hochzeitstag, die sich selbst das Leben genommen haben, ebenfalls getrieben von Rache fanden sie keine Ruhe und machten Jagd auf unschuldige Opfer. Oder Irrlichtmütter waren einfach nur bösartige Geister. Wobei die Bezeichnung ›Geist‹ möglicherweise etwas falsch war. Es waren Essenzen, magische Wesen, jedoch konnte niemand mit Sicherheit sagen, dass sie je in Sterblichen gewohnt hatten. Ein Geist war nicht unbedingt die verstorbene Seele eines einstmals Lebendigem, das konnte nie bewiesen werden. So jedenfalls Bellzazars Erklärungen dazu.
Sie hatten lange und ausgiebig über Magie gesprochen, um auch die letzten Fünkchen Furcht aus Desiderius zu vertreiben. Die ganze Seereise über hatte er von Bellzazar gelernt. Aber die Furcht vor dem Unbekannten, dass Magie innewohnte, würde er nie ganz verlieren. Die Angst war nicht mehr übermächtig, aber sie war noch da, tief in ihm drinnen. Trotz, dass er einen Gott besiegt und selbst zum Teil magisch war.
Unaufhaltsam kam die Irrlichtmutter auf das dunkle Lager zu. Die Pferde wurden wieder unruhig, diesmal konnte Zasch sie nicht beruhigen. Desiderius‘ Herz schlug ihm bis zum Hals, sein Verstand arbeitete fieberhaft. Seine an die Dunkelheit gewöhnten Augen nahmen die Umgebung schärfer wahr. Allahad und Mitja mit ihren Bögen links und rechts neben Wexmell und Bellzazar, Luro mit einem Kurzschert zwei Schritte neben Desiderius, Marrah zu seinen Füßen. Zasch, der versuchte, die Pferde zu beruhigen.
Kein Entkommen, nicht ohne entdeckt zu werden. Keine Chance auf einen Sieg, bei einem Kampf. Wie viele würde die Irrlichtmutter mit sich nehmen, bis es Bellzazar gelang, sie zu töten? Wer würde es sein? Luro? Allahad? Wexmell?
Desiderius wollte keinen seiner Freunde hier und heute verlieren, er brauchte einen Plan, einen guten am besten.
Doch was hätte er tun sollen? Rannten sie davon, würde die Irrlichtmutter auf sie aufmerksam werden, blieben sie, würde sie sie entdecken.
Karrah wurde angesichts seiner Unruhe nervös, sie quengelte, hickste, stand so kurz vor einem Heulkrampf …
»Lass die Pferde los«, hörte er sich selbst sagen.
Alle, einschließlich Marrah, starrten ihn verblüfft an. Bellzazar erkannte als erster, was Desiderius vorhatte und nickte.
»Mach die Pferde los, Zasch!«, forderte Desiderius erneut.
Ein Ruck ging durch den versteinerten Barbaren, dann nahm er seine Axt und durchtrennte die Leine, die zwischen zwei Bäumen gespannt war.
Die Stricke der nervösen Pferde wurden befreit und schon stoben sie davon. Zaschs und Mitjas Dunkelfüchse, Luros schwarzweiße Stute, Allahads Schecke dicht gedrängt an Wexmells Albino, allesamt entschwanden sie, bis auf – zu Desiderius‘ Überraschung – Bellzazars schwarzes Ross und sein eigener Rappe. Die beiden dunklen Hengste tänzelten, unschlüssig, ob sie fliehen sollten.
Angesichts des Lärms wirbelte die Irrlichtmutter wie erwartet herum. Sie stieß ein Fauchen, gefolgt von einem Schrei aus, der alle im Lager dazu brachte, sich die Ohren zuzuhalten und gegen den Schmerz in ihren Ohren anzuschreien.
Der Stich in seinem Trommelfell breitete sich in Desiderius‘ gesamten Kopf hinweg aus, es war, als ob sein Schädel in alle Einzelteile zerlegt wurde.
Über Lärm und Schmerz hinweg, hörte er Bellzazar den beiden Pferden zurufen: »Wanderer, Lugrain, verschwindet!«
Die Hengste stürmten davon und verschwanden im finsteren Wald. Ihre schweren Hufe donnerten über den Boden, sofort folgte ihnen die Irrlichtmutter.
Desiderius hielt sich nicht mit der sich ihm aufdrängenden Frage auf, was es mit den Pferden auf sich hatte, er drängte seine Gefährten zur Eile: »Los, los! Weg hier!«
Alles stehen und liegen lassend – vorrausschauend hatten sie glücklicherweise alle ihre Rüstungen und Stiefel beim Schlafen anbehalten – rannten sie in die andere Richtung davon.
Sie stolperten allesamt, einer nach dem anderen über Baumwurzeln, die aus dem Boden ragten. Aufgefangen von ihren Kameraden, immer wieder auf die Beine gezogen, gelangten sie trotzdem tiefer in den Wald.
»Wohin?«, fragte Luro, der die Spitze bildete. »Verdammt, wohin denn?«
Desiderius wusste es nicht. Viel hatte er von seiner Umgebung nicht gesehen. Er verfluchte sich selbst. Er hatte sich lieber mit Wexmell vergnügt, statt sich umzusehen – ein böser Fehler.
»Ich kenne eine Höhle«, sagte Allahad von hinten. Er drängte sich an den anderen vorbei und begann, sie zu führen.
Ein steiler Hang bremste sie etwas aus, aber sie rannten ohnehin nur noch aus Furcht, hinter ihnen war es so still, wie es nur nachts in der Wildnis still sein konnte.
Keuchend und außer Atem kamen sie alle unversehrt in einem Höhleneingang an.
Desiderius schob Luro und Mitja etwas grob beiseite, um sich zu Wexmell nach vorne durchzudrängen. Einnehmend umarmten sie sich, froh, dass nichts Schlimmeres geschehen war. Karrah quickte protestierend, weil sie zwischen ihnen eingequetscht wurde.
»Hier, nimm sie mal«, bat Desiderius und band Karrah los. Er ließ sie in Wexmells Armen, um zu Allahad zu gehen, der tiefer in der Höhle stand und keuchend zu Atem kam.
»Zu lange auf See«, stellte der Schurke fest. »Zwar stählerne Muskeln von der Arbeit, aber von Ausdauer keine Spur mehr.«
Desiderius legte ihm brüderlich eine Hand auf die Schulter, die Geste war nur flüchtig. »Danke, du hast uns mal wieder den Arsch gerettet.«
»Nein, du«, warf der Schurke ein, langsam beruhigte sich seine Atmung. »Ich habe uns nur einen Unterschlupf gesichert. Die Pferde loszubinden kam mir nicht in den Sinn.«
»Es hätte auch mächtig schiefgehen können«, erwiderte Desiderius. Er war nur froh, dass es gut für sie ausgegangen war. Aber hoffentlich fand die Irrlichtmutter keinen Gefallen an ihren Pferden. Pferde waren teuer, insbesondere gute. Außerdem bezeichnete Desiderius seinen namenlosen Rappen als Freund, den er nicht missen wollte.
Wo er gerade dabei war …
Bellzazar trat zu ihnen, Wexmell zu seiner Seite. »Wir warten hier bis zum Morgengrauen, das ist sicherer. Aber verhalten wir uns ruhig, die Höhle hat nur einen Zugang, sie könnte schnell zur Todesfalle werden. Wenn es hell wird, wollen wir sehen, was vom Lager noch übrig ist.«
»Was du den Pferden zugerufen hast …«, begann Desiderius.
Bellzazar wandte sich einfach ab und lief zurück zum Höhleneingang.
Desiderius wechselte verwirrte Blicke mit Wexmell und Allahad, dann folgte er seinem Bruder.
Luro stellte sich Desiderius jedoch kurz in den Weg und fragte besorgt: »Bist du verletzt?«
Desiderius schüttelte den Kopf. Er legte seinem alten Freund die Hände auf die Schultern und wollte es bei einem dankenden Lächeln belassen, doch Luro – anhänglich wie er war – zog ihn in eine Umarmung.
So schlimm war es nun auch nicht gewesen, sie hatten Härteres durchgestanden.
Desiderius schob ihn behutsam von sich und entschuldigte sich: »Ich muss mit Zazar sprechen.«
Nur gut, dass Wexmell nicht mehr eifersüchtig auf Luro war. Wenn er das denn je wirklich richtig gewesen war. Desiderius glaubte, dass Wexmell immer gewusst, es gespürt hatte, dass Luro keinerlei Konkurrenz für ihn war.
Was Desiderius nicht bemerkte, war der herausfordernden Blick, den Luro nach der Umarmung in Richtung Allahad warf, und wie ärgerlich der Schurke daraufhin den Blick abwenden musste. Er ahnte nicht, dass er gerade benutzt worden war, um Eifersucht zu schüren. Hätte er es gewusst, hätte er Luro vielleicht sogar geholfen. In dieser Angelegenheit stand er ganz hinter dem Jäger. Allahad hatte Luro Hoffnung gemacht. Sie hatten alle gesehen, wie innig die ersten Abende nach der Schlacht gewesen waren. – Was vor der Schlacht war, wusste Desiderius nicht, er war nicht dabei gewesen. – Doch nach wenigen Tagen auf See, waren die beiden immer seltener zusammen gesehen worden. Mittlerweile ging Allahad Luro aus dem Weg, was den jungen Jäger ebenso verwirrte wie alle anderen.
Luro hatte genug Enttäuschungen erlebt, Desiderius hätte Allahad für sein Verhalten gerne eine verpasst, doch Wexmell beschwor ihn, sich einfach rauszuhalten. Und der Prinz hatte nun mal das letzte Wort, davon abgesehen stand ihm auch nicht der Sinn danach, sich in die Angelegenheiten anderer einzumischen, sosehr er sich auch um seine Freunde sorgte.
Draußen, angestrahlt vom Mondlicht, das durch das Blätterdach fiel, lehnte Bellzazar neben dem Höhleneingang und starrte zum Himmel hinauf, er betrachtete grimmig die Sterne.
»Sprich mit mir«, bat Desiderius.
»Ich fühle mich nutzlos, wenn ich sogar vor einer Irrlichtmutter fliehen muss«, knurrte er als Antwort.
Desiderius warf ein: »Du hättest sie locker besiegen können, aber zu welchem Preis, Zazar? Sie hätte uns getötet, bevor du sie erwischt hättest.«
»Darum geht es ja«, hauchte Bellzazar und schloss gequält die Augen, als habe er Kopfschmerzen. »Ich besitze Schutzzauber, und doch kann ich die, an denen mir etwas liegt, nicht immer schützen.«
Desiderius schmunzelte. Er würde es nie offen zugeben, doch dass er seinem Bruder etwas bedeutete – Nein, dass sein Bruder es offen aussprach, stimmte ihn froh.
»Wanderer«, sagte Bellzazar und lächelte Desiderius an. »Der Name deines Freundes, dem Hengst, wenn du es unbedingt wissen musst.«
Desiderius schüttelte den Kopf. »Ich habe ihm nie einen Namen gegeben.«
»Denkst du, ein normales Pferd würde immer den Weg zurück zu seinem Herrn finden, mein Bruder? Über einen Kontinent hinweg? Wohl kaum.«
Desiderius blinzelte ihn irritiert an. »Du meinst, er ist …«
»Uralt und magisch«, erklärte Bellzazar mit einem Schulterzucken. »Er gehörte einst einem Freund.«
»Unsinn!«, wandte Desiderius ein. »Ich stahl ihn aus einem Stall! Er ist ein normales Pferd, das ich zufällig aus einer Herde anderer Pferde auswählte.«
Bellzazar schmunzelte ihn an, was in der Finsternis bedrohlich wirkte. »Ach meinst du? Oder ist es doch eher so, dass er dich auswählte?«
Unbehagen krabbelte Desiderius‘ Nacken hinauf. »Aber … wie …?«
»Es gibt einige Legenden darüber, dass alte Götter in Schlachtrössern innewohnen«, antwortete Bellzazar.
Unmöglich! Desiderius hätte doch bemerkt, wenn mit seinem Pferd etwas nicht normal wäre …Oder?
Schmunzelnd senkte Bellzazar den Blick, es schien, als müsste er beinahe laut loslachen, als er schließlich gestand: »Aber es liegt dann wohl doch eher daran, dass ich vor langer Zeit mit Wiedererweckungs- und Unsterblichkeitszaubern herumgespielt und an einigen Tieren getestet habe.«
Desiderius konnte ihn nur fassungslos anstarren.
»Seitjeher sind Wanderer und Lugrain etwas mehr als einfache Pferde.«
»Du …« Desiderius konnte nicht in Worte fassen, was er davon hielt. Nichts, im Grunde. Aber viel wichtiger war, wieso Bellzazar überhaupt leichtsinnig mit Zaubern gespielt hatte.
Mal wieder schien er die Gedanken seines Gesprächspartners zu lesen, denn Bellzazar sagte offen und ehrlich: »Ich war eben jung und wollte mich ausprobieren.«
»Ich will gar nicht wissen, was du noch so alles ausprobiert hast«, murmelte Desiderius verdrossen.
Bellzazar senkte den Blick und schmunzelte verschmitzt zu Boden. »Oh, du wärest schockiert.«
Desiderius wollte ihm ja vertrauen, er wollte keine Zweifel an seinem Bruder hegen, jedoch war Bellzazar schwer zu verstehen. Jedenfalls waren seine Motive manchmal einfach nicht nachvollziehbar.
Wieso tat er, was er tat? Was bezweckte er mit alledem? Folgte er einem Plan oder nahm er alles einfach so, wie es kam? Hatte er irgendetwas vor, ein Ziel vor Augen, oder ließ er sich von zufälligen Ideen leiten?
Desiderius wusste nicht, was er beängstigender finden sollte.
»Freu dich darüber«, riet ihm Bellzazar. »Wanderer ist schüchtern, er hat sich nie reiten lassen, außer von seinem Herrn. Du bist der erste, den er aufsuchte und dem er dient seit …« Sein Gesicht wurde dunkel, Hass überzog seine Augen wie eine Gewitterwolke die am Himmel aufzog. »Nun ja, seit sein erster Herr diese Welt verließ.«
Getrieben von einem Gefühl des Unbehagens, ging Desiderius einen Schritt auf seinen Bruder zu, ohne jedoch je vorgehabt zu haben, ihn zu berühren. »Zazar …?«
Mit aufgesetzter Heiterkeit wandte sich ihm Bellzazar zu und sagte noch: »Er ist auch keine Mischung aus einer Züchtung zwischen Gebirgs- und Wüstenpferd, wie du annahmst, sondern er gehört zu einer uralten Pferderasse, die längst ausgestorben ist. Also freu dich und grüble nicht darüber.«
Desiderius wollte trotzdem gerne wissen: »Und wieso erzählst du mir das erst jetzt?«
»Du hast nie danach gefragt.«
»Weil ich nichts ahnte.«
»Und was bringt dir dieses Wissen jetzt?«
Darauf wusste Desiderius nichts zu erwidern. Eigentlich war es egal, im Grunde jedenfalls. Trotzdem war es seltsam. Vielleicht hätte er es lieber nicht gewusst.
Wanderer also, hm? Gut, sollte der Hengst den Namen behalten, er passte doch zu ihm.
Als Bellzazar an ihm vorbeigehen wollte, stellte sich ihm Desiderius in den Weg. Hochinteressiert wollte er wissen: »Was gibt es noch, was ich nicht weiß, was aber direkt vor meinen Augen geschieht?«
Lange starrten sie sich in die Augen. Zwei sture zu Säulen erstarrte Männer, die nicht einmal unter dem Druck eines Rammbocks nachgeben würden.
Ruhig glitten Bellzazar dunkle Augen über Desiderius, musterten ihn von Kopf bis Fuß. Ohne eine Antwort ging er einfach um seinen Bruder herum und verschwand wieder in der Höhle.
Desiderius blieb mit dem Gefühl zurück, das über ihnen allen eine drohende Gewitterwolke hing, die sich bald entleeren würde.
Am meisten setzte ihm nicht die Ungewissheit zu, nicht die Fragen, was Bellzazar vorhatte und was sie hier eigentlich suchten, nein, es war mehr die Furcht, die er in den Augen seines Bruders sah, die auch Desiderius Angst machte.