Читать книгу Im Land der Schatten - Billy Remie - Страница 6

3

Оглавление

Verängstigt sah sich der Gefallene um.

Die große Strohhütte war mit dicken Pelzen und Fellen ausgeschmückt, ein Lagerfeuer prasselte in der Mitte, dahinter saß eine gealterte Frau mit grauem Haarschopf, den sie unter einem Wolfmantel versteckte. Tote, leere Augen starrten zu dem Gefallenen aus dem ermordeten Wolfsgesicht herab, der Anblick war seltsam für ihn, es war die erste Leiche mit einem Gesicht, die der Gefallene erblickte.

Unangenehm. Falsch. Er konnte den Tod in dieser Welt riechen, mehr noch als er das Leben um ihn herum wahrnehmen konnte.

Tod. Überall Tod. Nicht wie im Reich der Götter. Dort gab es nichts so Endgültiges.

Noch immer hatte er große Schmerzen, konnte nur mit Mühe aufrecht sitzen. Kälte, Angst bestimmten seine Gedanken.

Wo war der Mann, der ihn gerettet hatte? Wo war der Reiter, der ihn auf dem schwarzen Ross aus den Regen brachte? Wo war sein Retter, dessen Pelzumhang er noch immer trug?

Panisch sah er sich um und fand ihn unweit von sich entfernt, nahe des Eingangs.

»Das kann nicht dein Ernst sein, Lugrain!«, fauchte eine dunkle Männerstimme.

Bevor der Angesprochene etwas erwidern konnte, hob die Alte auf der anderen Seite des Feuers stumm eine Hand, und alle im Raum richteten ihre Aufmerksamkeit auf sie. Ihr Blick lag über den züngelnden Flammen und begegnete, aus wissenden aber von altersschwachen trüben Augen, dem Blick des Gefallenen. Das Leuchten des Feuers erhellte das unter dem Wolfskopf halbverborgene Gesicht und ließ die Alte fürchterlich aussehen, zum Gruseln, wie ein wahrgewordener Alptraum.

»Mutter, es war so, wie du vorhergesagt hast«, erhob nun Lugrain, der Retter des Gefallenen, das Wort an die Alte. »Er fiel am Tage vom Himmel, ich sah es.«

»Wir sahen beim Jagen lediglich etwas hinabstürzen, es war reiner Zufall, dass du an jener Stelle einen schäbigen Fremden fandst!«, knurrte wieder der andere Mann. Er war groß und seine vom Sommer gebräunte Haut glänzte verschwitzt im Schein der Flammen, sie wirkte im düsteren Zeltinnerem viel dunkler als sie eigentlich war. Wie Lugrain, besaß auch er dunkles Haar, jedoch – so wie auch die anderen Stammesmänner – war sein Haar kurz. Harte und erfahrene Züge zeichneten sein kantiges Gesicht, Entschlossenheit und auch etwas Wildheit lag in seinen grünen Augen, die denen Lugrains so ähnlich waren, dass die Verwandtschaft der beiden nicht anzuzweifeln war. Er flößte dem Gefallenen allein durch seinen Anblick gehörigen Respekt ein, ganz zu schweigen von dem verachtenden Blick, mit dem er den Gefallenen zwang, die Augen von ihm abzuwenden.

»Bruder, du hast selbst gesehen, wie er vom Himmel fiel.« Lugrain ließ sich nicht dazu hinreißen, wie sein älterer Bruder die Stimme zu erheben, er bliebt sachlich, wofür der Gefallene ihm dankbar war; denn Zorn kannte er genauso wenig wie Tod und Schmerz.

»Und was soll er deiner Meinung nach sein? Ein funkelnder Stern?«, spuckte der andere Mann aus und zog, auf den Gefallenen hinabstarrend, verächtlich seine Oberlippe hoch. »Er ist ein verdreckter Mensch, ausgestoßen von diesem Stamm in der Nähe. Und wenn selbst die ihn nicht wollen, brauchen wir ihn erst recht nicht.«

Der Gefallene schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch. Zu sehr störten ihn die Blicke der anderen Anwesenden, die bisher der Diskussion stumm um das Feuer herumsitzend beigewohnt hatten. Da war eine junge Frau, schlank und nur mit Lederbändern bekleidet, die ihre untere Körperregion verhüllten, jedoch nicht ihre kleinen, spitzen Brüste, deren dunkle Spitzen lockend emporstanden.

Da war ein zierlicher junger Mann, mit lieblichen Zügen, blondem Haar und blauen Augen, die mitfühlend den Gefallenen beobachteten.

Aber auch weitere Krieger saßen und standen um das Feuer herum, alle trugen um die Lenden nur Pelze und Leder, das von Bändern gehalten wurde, drohende Speere in den Händen; viele grünäugige Männer mit dunklem Haar, alle schienen von der gleichen Blutlinie abzustammen. Jedoch störte ihn am meisten der harsche Blick aus den harten Augen einer jungen Frau mit hochgebundenem Zopf. Sie sah unnachgiebig und grob aus, sie war die einzige Frau, die ihre Rundungen unter einem größeren Fetzen Stoff verbarg, darunter konnte der Gefallene einen aufgedunsenen Leib erkennen. Sie trug die Frucht des Lebens unter ihrem Herzen. Aus irgendeinem Grund verstörte ihn das am meisten. Und warum überhaupt starrte sie ihn an, als sei er ihr Feind, obwohl er noch kein Wort gesprochen hatte?

Er wollte aufstehen und gehen, weil es ihm nicht behagte, an einem Ort zu sein, wo er ungewollt war, doch seine Beine bewegten sich nicht. Zu schmerzhaft lag die Last dieser Welt noch auf ihm, ohne Hilfe seitens Lugrain konnte er nicht aufstehen, und im Augenblick wagte er es nicht, sich hilfesuchend nach seinem Retter umzudrehen.

»Ich sah einen Mann, der sich Schöpfer nannte, und von Wohlwollen sprach, wenn wir den Gefallenen aufnehmen«, erzählte Lugrain seinem Stamm. Er wandte sich an die Alte, die noch immer kein Wort gesprochen hatte, sondern nur die Hand hob, bevor der Streit eskalieren konnte. »Mutter, ich habe mir das nicht eingebildet. Würde er uns verstehen, würde er sicher bestätigen, dass dort ein Licht und ein Mann war, der mir sagte, was zu tun ist.«

»Du glaubst also, ein Gott sprach zu dir, Bruder?«, fragte ein anderer Krieger, der am Feuer stand und sich lustig machte.

Lugrain ließ ausatmend die Schultern hinabsinken. »Ich weiß nicht, welches Wesen es war, ich weiß nur das, was ich gesehen habe. Und ich lüge nicht, so gut kennt ihr mich.«

»Ja, wir kennen dich, Lugrain«, knurrte nun die schwangere Frau. Sie sah mit hasserfüllter Miene zu Lugrain auf und fuhr fort: »Und wir wissen um deine Naivität.«

Lachen durchfegte die Runde, nur die andere Frau, die Alte und der blonde Jüngling stimmten nicht in das Gelächter ein.

Lugrain gab unerwartet harsch zurück: »Dein verletzter Stolz passt nicht hierher, geliebtes Weib.«

Sauer stand sie auf, erstaunlich leichtfüßig für eine Frau mit einem derart ausladenden Bauchumfang, die Niederkunft musste kurz bevorstehen. »Dann habe ich, nur, weil ich deine Frau bin, rein gar nichts dazuzusagen?«

»Natürlich hast du eine Meinung, aber behalt sie weitestgehend für dich, wenn ich spreche!«

Düsteres Lachen erklang von den Kriegern.

Die schwangere Frau sah sich wütend um, woraufhin die Männer beschämt die Köpfe senkten. Schnell war zu erkennen, dass die Schwangere auch von den männlichen Wesen in ihrem Stamm gefürchtet wurde.

Wieder suchte sie Lugrains Blick, der ihr unnachgiebig entgegenstarrte. »Andere Frauen in diesem Stamm haben das gleiche Mitspracherecht wie Ihre Männer.«

»Aber du bist nun mal nicht die Frau der anderen Männer, sondern meine!«, donnerte Lugrain stolz zurück. »Meine Vorfahren gründeten diesen Stamm, es war mein Clan, der euren in einem schlimmen Winter aufnahm, ihr habt eine Schuld bei uns! Und jetzt verlangst du Mitspracherecht bei Dingen, die nur die Stammesführer etwas angeht?« Lugrain nickte auf den stolzen Krieger, den er Bruder nannte. »Dann bitte, sag das auch meinen Brüdern.« Ein weiteres Nicken deutete auf die Alte hinter dem Feuer. »Sag es unserer Großmutter. Sag ihnen, dass du jetzt auch eine von uns bist, nur, weil du das Zelt mit mir seit dem letzten Frühlingsfest teilst.«

Die Schwangere verstummte, angesichts der harten Miene aus Lugrains Bruders Gesicht.

Etwas einfühlsamer schloss Lugrain den Streit mit den Worten: »Niemand behauptet, du dürftest deine Meinung nicht aussprechen, aber bei wichtigen Fragen entscheidet immer noch der Clan, der den Stamm gründete. So ist es nun mal Brauch.«

»Und wenn er ein Dämon ist?«, zischte sie Lugrain an. Ohne sich die Frage beantworten zu lassen, stampfte sie aus der Hütte.

Kalter Wind und Nässe traf auf den Rücken des Gefallenen, als sie die Behausung verließ.

Einen Moment blieb es still, die Anwesenden warfen sich unbehagliche Blicke zu.

Die andere Frau stand auf und zurrte den Ledergurt um ihre Hüften fest, ihre bloßen Brüste hüpften bei jeder Bewegung. Entschlossen trat sie neben Lugrain und den Gefallenen und verkündete: »Ich stehe hinter Lugrains Entscheidung.«

»Wie kann es auch anders sein«, murmelte jemand.

Sie warf einen scharfen Blick in die Runde, aber keiner wollte zugeben, diesen Ausruf verlauten gelassen zu haben. Dann drehte sie sich zu Lugrain und umfasste liebevoll seinen Kopf. Es war das erste Mal, dass der Gefallene sah, wie Lippen auf andere Lippen trafen, er hörte das Schmatzen eines feuchten Kusses, und erkannte das Unbehagen in Lugrains Augen.

Mit einem Lächeln verschwand nun auch die andere Frau.

Nachdem sie verschwunden war, entstand eine Debatte in der Hütter. Einige glaubten Lugrains Geschichte und waren unsicher, was sie davon halten sollten, doch waren sie gewillt, den Fremden aufzunehmen, jedenfalls versuchsweise. Die andere Hälfte im Zelt hatte Sorge, es könnte sich bei dem Gefallenen tatsächlich um einen Dämon handeln.

»Dämon. Gefallener.« Lugrains älterer Bruder grunzte herablassend. »Seid ihr denn alle eures Augenlichts beraubt worden?«

Er trat urplötzlich vor, stampfte die letzten Schritte auf den Gefallen zu und packte grob dessen Kopf, den er in einen Schraubgriff zwang. »Seht her! Runde Ohren! Und hier« - er schob die Lippen brutal nach oben - »normale Zähne! Weiches, verletzliches Fleisch!« Er gab dem Gefallenen einen Schubs, sodass dieser umkippte und sich mit den Händen auf dem staubigen Boden abfangen musste.

Solch rüde Behandlungen war er nicht gewohnt, zum ersten Mal spürte er statt Angst ein seltsames Brennen in der Brustgegend. Wut! Wut, die er als Gottkind nie verspürt hatte.

Es war ein fremdes aber seltsamerweise auch befreiendes Gefühl. Es war etwas ... Lebendiges.

»Kein Elkanasai, kein Luzianer und gewiss kein magisches Wesen! Er ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, soll ich es euch noch deutlicher beweisen?«

»Brathen, du lässt ihn in Ruhe!«, warnte Lugrain und machte einen drohenden Schritt nach vorne.

Doch da packte Brathen schon das Handgelenk des Gefallenen und riss ihn wieder hoch. Der Umhang rutschte von seinen Schultern und entblößte den sehnigen Körper des nackten Jungen darunter. Der Griff tat weh, aber der Druck um das Handgelenk war schon bald vergessen, als eine dunkle Klinge im Feuerschein aufblitzte.

»Seht!«

Erstickt keuchte der Gefallene, als die Klinge in seine Handfläche schnitt. Er war verletzt! Man hatte ihn verletzt!

»Blut! Seht ihr? Ein Mann aus Fleisch und Blut!« Triumphal hielt Lugrains Bruder Brathen die blutende Hand des Gefallenen hoch. Der Schlag mit der Faust, traf den großen Krieger so unerwartet, dass er zurücktaumelte und über seine eigenen Füße stolperte.

Alle im Raum sprangen auf, doch keiner wollte eingreifen.

Lugrain, der sich schützend mit einer erhobenen Faust vor den verstörten Gefallenen stellte, sagte zu Brathen: »Du krümmst ihm ja nie wieder ein Haar, mein Bruder. Er steht unter meinem Schutz. Solange ich lebe, solange wird ihm kein Leid geschehen.«

Verletzt. Mit der gesunden Hand hielt der Gefallene seine verletzte. Schmerz. Wunde. Verletzt von einem anderen Mann. Warum? Wozu? Was hatte er falsch gemacht?

Er konnte es überhaupt nicht glauben. Mit offenem Mund starrte er das Rinnsal an, das durch den Schnitt in seiner Hand sickerte, schwarz im düsteren Inneren der Hütte.

Lugrain wandte sich an die Alte hinter dem Feuer. »Mutter, sollte dir die Anwesenheit dieses Unschuldigen trotz deiner Vision Unbehagen bereiten, beuge ich mich deinem Urteil – jedoch, werde auch ich den Stamm verlassen, wenn ihr ihn fortschickt.«

Tief im Inneren fing der Gefallene eine Emotion auf, die ihm fremd war. Sie gehörte nicht zu ihm, nicht er fühlte die erstickende Furcht nach Lugrains Worten.

Von der Wunde aufsehend blickte er sich um und erkannte den bedauernden Blick des Jünglings, der flehend zu Lugrain aufstarrte.

»Es tut mir leid«, hauchte Lugrain zu ihm. »Aber ich fürchte, das ist der Weg, den ich gehen muss.«

»Lugrain.« Die Stimme der Alten klang wie das Schleifen von Stein auf Stein. Ächzend bewegten sich ihre spröden Lippen, ansonsten rührte sie sich nicht. »Wie viele Monde lang hast du nach einer höheren Bestimmung gesucht? Und du glaubst, sie jetzt einfach so gefunden zu haben?«

»Nein, Mutter. Aber ich glaube fest daran, dass es einen Grund gab, warum ich ihn fand.«

Etwas, das wie ein leichtes Lächelnd wirkte, zuckte um die faltigen Mundwinkel der alten Frau. »Du willst dir also das Schicksal dieses Jungen aufbürden?«

»Ich will ihm nur helfen, zu überleben, bevor er eigene Wege geht.«

Sie nickte beständig. »Ein lobenswertes Ziel. Du hattest stets ein gutes Herz, schon als kleiner Junge.«

»Mutter, bitte schick den Fremden fort«, bat Brathen, er kam auf die Beine und fuhr mit dem Daumen über die blutende Lippe. Wütend schien er nicht auf Lugrain zu sein, er schien sich auch nicht rächen zu wollen.

»Ich sehe große Furcht und Leid auf den Stamm zukommen, meine Kinder. Ob der Fremde nun unter uns bleibt oder nicht«, erklärte die Alte. Mit einem durchbohrenden Blick trafen ihre Augen auf das Gesicht des Gefallenen. »So obliegt es Lugrain, für den Gefallenen zu sorgen. Kein Leid soll ihm geschehen, solange Lugrain lebt, genau wie gerade feierlich geschworen wurde.«

Lugrain atmete erleichtert aus. »Ich danke dir, für dein Vertrauen, Mutter.«

»Aber sei gewarnt, mein Sohn«, warf die Alte noch ein. »Alles, was der Fremde tut, wird auf dich zurückfallen. Von nun an seid ihr Eins.«

***

»Er wird nicht in dieser Hütte nächtigen!«, donnerte die Schwangere.

Der Gefallene zog den Umhang um seinen nackten Körper fester zusammen.

»Das ist immer noch mein Zuhause!«, gab Lugrain gelangweilt zurück.

»Es ist das Zuhause deiner gebundenen Gefährtin und das deiner Kinder! Aber das hast du scheinbar vergessen.«

Kinder. Es waren, angesichts des Platzmangels, reichlich viele Kinder in den Augen des Gefallenen, der es nicht gewohnt war, mit so vielen Seelen auf engsten Raum zusammen gepfercht zu sein. Zum Glück stand er am Ausgang und konnte fliehen, falls die Unruhe in seinem Inneren zu groß wurde.

In dieser Hütte gab es nur eine Lagerstätte, ein Gestell aus massiven Ästen, darin eingespanntes Leder und wärmende Felle und Pelze als Decken und Kissen. Auch der Boden war ein Wirrwarr aus Fellen, damit die nackten Füße nicht kalt wurden. Drillinge, etwa im Alter von drei vergangenen Wintern, saßen um das Feuer herum. Alle Jungs. Zwei Mädchen, etwas älter als die Drillinge, wuselten spielend um ihre schwangere Mutter, jedoch schienen nicht alle Kinder von Lugrain zu ein. Höchstens die Jungen wiesen etwas Ähnlichkeit zu ihm auf.

»Ich beherberge keinen Dämon in der Nähe meiner Kinder!«

»Jetzt sind es wieder deine?«, stellte Lugrain fest. Um die geschwungene Form seiner halbvollen Lippen spielte ein belustigtes Lächeln. »Nun denn, Weib, ich habe andere Betten, wo ich ihn unterbringen kann. Aber es ist immer gut zu wissen, wie sehr du hinter dem Mann stehst, der dich über den Winter bringt.«

»Ja, dann bring ihn doch zu deiner Hure!«, rief sie ihm tobend nach. »Sie kümmert sich ja auch um all deine anderen Bedürfnisse!«

Der Gefallene verstand nicht, wieso diese beiden sich vereinigt hatten, wo sie doch so gar keine netten Worte für einander fanden. Draußen, am großen Lagerfeuer, wo alle Mitglieder des Stammes zusammenkamen, hatte er nur Zuneigung und Liebe untereinander erkennen können, nur in diesem Raum hing eine düstere Atmosphäre über den beiden Vereinigten.

Lugrain stampfte hinaus. Der Gefallene blickte ihm nach, doch er drehte sich noch einmal zu der Schwangeren um und warf ihr einen entschuldigenden Blick zu, den sie angewidert abwinkte. Er folgte Lugrain nach draußen.

»Störrisches Weibsbild«, fluchte dieser. »Meine Brüder haben mich gewarnt, sie beim Frühlingsfest anzurühren! Aber nein, ich musste ja dem Rat meines Vaters nachgeben, das habe ich nun davon.«

Der Gefallene öffnete den Mund, um nachzufragen, was eigentlich vor sich ging, entschied sich aber anders, um nicht aufdringlich zu wirken.

»Keine Sorge, ich weiß, wo du warme Decken findest.« Vor einer anderen Hütte mit Strohdach, so weit von der Hütte der Schwangeren entfernt, dass es fast an Absicht grenzte, drehte sich Lugrain um und schmunzelte entschuldigend. »Vermutlich verstehst du kein Wort von dem, was ich sage, oder?«

Der Gefallene blickte Lugrain nur stumm in die Augen. Was sollte er auch sagen?

Lugrain nickte. »Dachte ich mir.« Belustigt musterte er den Gefallenen und hob eine Hand.

Versteinert stand der Gefallene da, als der andere Mann ohne Zögern oder der Spur von Zurückhaltung den Umhang beiseiteschob und trotz eiskaltem Nieselregel einen Blick auf die nackte Haut darunter warf.

Schmunzelnd sagte Lugrain: »Du hast ja immer noch nichts an.«

Der Gefallene wusste nicht, was er anziehen sollte, und woher er es bekam.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, lächelte Lugrain milde und nickte zur Hütte hin. »Na komm, wir besorgen dir ein Lendenleibchen und etwas Warmes zu trinken.« Er schlug den Vorhang auf und ging voran.

»Lugrain«, surrte eine weiche Stimme, die sofort Geborgenheit und Zuflucht aufkommen ließ, ebenso wie das warme und einsame Innere der bescheidenen Behausung.

Liebevoll umarmten sich die beiden Männer, Lugrain so groß und stark, die Haut noch gebräunt vom Sommer, der andere dürr und drahtig mit blasser Haut und hellem Haar. Zwei Gegensätze, die unterschiedlicher nicht sein konnten.

Über Lugrains Schulter lächelte der Jüngling, der bei der Versammlung dabei gewesen war, dem Gefallenen munter zu.

Als Lugrain sich löste, wandte er sich halb zu dem Gefallenen um, richtete seine Worte aber an den anderen Mann. »Surrath, ist es möglich ... Würdest du mir den Gefallen tun und ihn hier bei dir aufnehmen?«

Surrath lächelte sofort. »Das ist keine ernst gemeinte Frage, oder?« Auffordernd winkte er den Gefallenen zu sich. »Ich dachte mir schon, dass es darauf hinausläuft.«

Als der Gefallene sich nicht bewegte, legten ihm Surrath und Lugrain die Arme um – Surrath um die Schultern, Lugrain um die Taille – und brachten ihn zu dem kleinen Feuer, dessen Rauch durch eine kleine Öffnung der Behausung abzog. Durch das Loch konnte der Gefallene bereits den Sternenhimmel erkennen, den es im Reich der Götter nicht gab. Die beiden Welten, die Dimensionen, waren so unterschiedlich. Er hatte etwas Heimweh, doch die Schönheit dieser Welt ließ es ihn vergessen.

»Hunger? Durst? Bestimmt beides!«, lachte Surrath.

Ohne eine Spur der Ablehnung hieß er den Gefallenen willkommen. Sie umsorgten ihn beide, Surrath und Lugrain zugleich. Sie flößten ihm sein erstes Getränk ein – warmer Kräutertee – und stopften ihn bis obenhin mit Speisen voll. Zum ersten Mal aß er etwas und lernte das Wunder der Nahrungsaufnahme kennen. Endlich verschwand der Schmerz in seinem Magen.

Nachdem er satt und sein Durst gelöscht war, machte Surrath Wasser über dem Feuer heiß und Lugrain begann, sich unter den verwunderten Blicken des Gefallenen zu waschen.

Essen, Trinken, waschen, atmen, all das war so fremd und in der Welt der Götter nicht notwendig gewesen.

Lugrain bemerkte seinen Blick und hielt ihm grinsend den nassen Lappen hin.

Vorsichtig nahm der Gefallene ihn entgegen. Er war schwer und nass, aber wundersam warm. Er drückte sich den nassen Stoff ins Gesicht, roch den herben Schweiß, den Lugrain sich abgewaschen hatte, und spürte so etwas wie Sicherheit. Es war derselbe Geruch, den er in der Nase gehabt hatte, als er aus dem Regen gebracht worden war.

»Komm«, Lugrain lachte über ihn, »ich helfe dir, in Ordnung?«

Der Gefallene senkte den Lappen und starrte ihn nur reglos an.

»Ich fürchte, er versteht kein Wort aus meinem Mund. Aber es ist nett, wie er mich ansieht«, scherzte Lugrain an Surrath gewandt, als er an den Gefallenen heranrückte und nach dem Knoten des Umhangs griff.

»Ich weiß nur nicht, was ich sagen soll.«

Lugrain erschrak so sehr unter der unerwarteten Stimme, dass er zusammenzuckte und die Schüssel mit dem Wasser fast umstieß. Heiße Nässe schwappte über ihre Füße.

Surrath, der etwas Feuerholz auflegte, warf den Kopf in den Nacken und lachte herzlich.

Der Gefallene senkte beschämt aber schmunzelnd den Blick.

»Bei den Göttern ...«, fluchte Lugrain und griff sich an die Brust. »Kannst du mich nicht vorwarnen?«

Der Gefallene schielte entschuldigend zu ihm auf, er zog den Kopf ein.

»Er meint es nicht böse«, sagte Surrath noch immer glucksend. »Lugrain hat sich nur deiner unerwartet rauen Stimme wegen erschrocken.«

Der Gefallene sah unsicher von einem zum anderen. Lugrain schmunzelte und zwinkerte ihm freundlich zu, was eine Bestätigung dafür war, dass er nicht wütend auf den Gefallenen war.

»Also, soll ich dir nun beim Waschen helfen, oder nicht?«

Der Gefallene nickte nur, nicht wissend, welche Intimität die Sterblichen mit diesem Ritual verbanden.

Surrath schien mit einmal unglücklich, er zog sich jedoch ohne Einwand diskret zurück und verließ die Hütte.

Der Umhang fiel und Dreck wurde mit großer Sorgfalt von unberührter Haut abgewaschen.

Stille herrschte währenddessen, die der Gefallene genoss. Es gab genug zu hören, was er im Reich der Götter nicht vernommen hatte. Das Knistern der Holzscheite, an denen Flammen fraßen, peitschender Wind, das Trommel der Regentropfen auf dem Dach, Lugrains Herzschlag, der unerwartet erhöht schien, sein schwerer Atem, als müsste er sich beherrschen.

Neugierig betrachtete der Gefallene ihn. Eine Strähne hatte sich aus dem Zopf gelöst und schwebte vor Lugrains Gesicht, sie weckte den Wunsch, sie zu berühren, um herauszufinden, wie sich sterbliches Haar anfühlte.

»Ich wurde verstoßen«, rutschte es dem Gefallenen raus.

Lugrain, der den Arm des Gefallenen hochhielt, um dessen Achseln auszuwaschen, stockte interessiert. »Weshalb?«

»Das hatte viele Gründe.«

»Hast du etwas angestellt?«

Nur zu sehr geliebt, zu viel für sich allein gefordert. »Nur meine bloße Existenz.«

Lugrain runzelte die Stirn. »Du kannst doch nichts dafür, dass es dich gibt, oder? Genauso wenig wie ich.«

Der Gefallene murmelte nur vielsagend: »Wir alle begleichen die Schulden unserer Eltern.«

Lugrain nickte grübelnd, er wirkte etwas traurig, als wüsste er, wovon der Gefallene sprach.

»Und was bist du?«, fragte Lugrain. Er ließ den Arm des Gefallenen los und wusch den Lappen aus.

»Im Moment ein Gefallener; ein einsamer Weltenwanderer.«

Lugrain schenkte ihm ein gutmütiges Lächeln, warm und einladend. »Du bist ein Mann, am Anfang einer Reise. Nicht mehr und nicht weniger. Du wirst sehen, dass du nicht lange ein einsamer Mann bleibst.«

Ein Mann. Ein mehr oder weniger lebender Mann. Ja, das hörte sich gut an. Es fühlte sich gut an. Hier in der Welt der Sterblichen hatte er obgleich der Ablehnung vieler Stammesmildglieder trotzdem das Gefühl von Zugehörigkeit. Vielleicht wegen Lugrain, der ihm seine ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. So etwas hatte es im Reich der Götter nie gegeben. Dort musste man alles teilen, selbst die Liebe der Schöpfer. Dazu war er nie wirklich bereit gewesen. Was einer der Gründe war, weshalb er verstoßen wurde.

Warm und feucht fuhr der Lappen über das Schlüsselbein des Gefallenen. Mit leuchtenden Augen stellte Lugrain zu sich selbst murmelnd fest: »So blass, so zart und vollkommen, solch unberührte Haut, wie sie kein Sterblicher besitzen könnte ...«

Der Gefallene hob leicht den Arm an und betrachtete die Wunde in seiner Handfläche. Seine erste Verletzung, eine Narbe würde bleiben, so unversehrt war er also nicht mehr.

Lugrain nahm die verletzte Hand und legte sie in seinen Schoß, er wusch die Wunde aus, drückte ein grünes Blatt darauf und umwickelte die Hand mit Lederbändern.

»Wie lautet denn dein Name?« Es schien Lugrain brennend zu interessieren. »Wie darf ich dich nennen?«

Der Gefallene sah ihm in die grünen Augen. »Bellzazar. Mein Name ist Bellzazar.«

Im Land der Schatten

Подняться наверх