Читать книгу Im Land der Schatten - Billy Remie - Страница 11

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Die Höhle war halb eingestürzt, die Gänge eng. Lange tropfenartige Gesteinsgebilde hingen von der niedrigen Decke. Es war stockfinster, ihre Fackeln kamen nicht gegen die Schwärze an. Ihren Weg konnten sie kaum erkennen, oft waren die Zugänge von heruntergekommenen Felsen versperrt und sie mussten ausweichen oder sich durch Engpässe quetschen. Immer tiefer gelangten sie in den Felsen, ohne zu wissen, was sie erwartete.

Es war kalt und feucht um sie herum, nackter Stein umhüllte sie, drohte, sie für immer tief unter der Erde einzusperren.

Fledermäuse flohen vor dem Licht ihrer Fackeln, flogen nah an ihren Köpfen vorbei, sodass ihre Flügel ihre Ohren oder Haare streiften. Allerlei Kriechtiere, wie Tausendfüßler und Steinkäfer, huschten in Felsrillen, aufgeschreckt von riesigen Stiefeln. Sogar Spinnen bewohnten diesen unheilvolldrohenden Ort, jedoch waren die dicken und schwarzen Viecher alles andere als scheu, oftmals ließen sie sich direkt von der Decke hinab auf ihre Schultern fallen und suchten sich einen Weg unter die Kleidung, wo Wärme sie lockte.

Mussten es denn immer Spinnen sein? Desiderius hasste diese Biester. Aber nicht nur er, auch Allahad verfluchte sie, wenn mal wieder eine über seinen Nacken unter seine Rüstung gelangt war und er sich vor Ekel und Panik wandte und drehte, um sie wieder loszuwerden. Oftmals mussten ihm Luro oder Wexmell zur Hilfe eilen, bevor er sich in seiner Hast mit der eigenen Fackel selbst anzündete.

Desiderius hätte ob des Anblicks gelacht, hätte er es dem Schurken nicht nachfühlen können.

Als wäre all das nicht genug, spürte Desiderius auch wieder dieses beklemmende Gefühl von damals, unterhalb von Nohva, als sie in den Minen gewesen waren, doch dieses Mal war es wirklich nur Angst vor der Enge und Sorge um seine Gefährten. Seine Furcht war dieses Mal kein Gefühl, das von einem Dämon hervorgerufen wurde und verschwinden würde, wenn er besagten Dämon vernichtete.

Die Gänge waren nicht ungefährlich und manche Abschnitte so eng, dass er kaum hindurch passte. Luro hatte sogar seine Nachtschattenkatze Marrah zurücklassen müssen, noch jetzt hörten sie die herzzerreißenden Laute der Katze, die ihren Herrn vermisste und trotz Zureden nicht begriffen hatte, das Luro wiederkommen würde.

Alle waren hochkonzentriert, keiner durfte sich auch nur einen falschen Schritt erlauben.

Ob sie auf diesem Wege überhaupt wieder zurückkamen? Die letzte enge Stelle war so nass und glitschig gewesen, dass Desiderius sich fragte, wie er da wieder hochkommen sollte. Seile wären angebracht gewesen, jedoch hatten sie nicht genug dabei, und die meisten davon waren rissig und wenig vertrauenswürdig.

Erneut gelangten sie an eine Stelle, wo sie sich nacheinander durch ein winziges Loch quetschen mussten.

»Aber da passt man doch nicht durch!«, beklagte sich Allahad.

»Ich gehe vor«, beschloss Bellzazar. »Wenn mein Körper durchpasst, schaffen es auch alle anderen.«

Desiderius nahm seinem Bruder die Fackel ab, und hielt sie zusammen mit seiner eigenen fest, während sich Bellzazar durch das Loch quetschte. Es führte wieder hinab, der Engpass war länger als alle zuvor, sodass Bellzazar bei der Hälfte beinahe stecken blieb. Nur gut, dass Bellzazar im Fall der Fälle seinen Körper in schwarzen Nebel auflösen konnte. Er ging nur voran, um ihnen zu zeigen, dass es möglich war, hindurchzukommen.

Sie waren weit unter der Erde in einem Felsen, hatten kaum genug Platz, sich um die eigene Achse zu drehen – was, wenn wirklich jemand stecken blieb?

Oder sich den Fuß verstauchte? Das Bein umknickte? Sich an einem scharfen Felsen eine tiefe Schnittwunde zufügte?

Wie sollte Desiderius dafür sorgen, dass seine Gefährten heil wieder rauskamen?

Er stand kurz davor, umzukehren.

»In Ordnung«, ächzte Bellzazar von unten und steckte den Arm durch das Loch zu Desiderius hinauf.

Desiderius übergab seinem Bruder erst die eine, dann die andere Fackel, dann folgte er ihm. Niemand hielt ihn auf, keiner drängte danach, der nächste zu sein.

Das beklemmende Gefühl in Kehle und Brust wurde zu einem Zittern und Krampfen, als er sich in das Loch hinabließ. Unbeweglicher Felsen umgab ihn, nass und feucht, quetschte ihn zusammen. Auf halben Weg bekam er Panik, als er so weit unten war, dass er mit den Armen nicht mehr die Kante erreichte. Ihm war tatsächlich zum Heulen zumute, als sich sein Körper zwischen den Felsen festsetzte und weder nach unten noch nach oben bewegte. Wenn er festhing, würde ihn nichts und niemand hier rausholen können.

Bellzazars Hände umfassten seine Fußgelenke und zogen ihn raus.

Erleichtert ausatmend landete Desiderius mit den Füßen in einem Gang, der etwas mehr Platz bot. Er nahm seine Fackel wieder an sich, leuchtete in das Loch und versuchte angestrengt, nicht darüber nachzudenken, dass er noch tiefer in den Felsen gehen musste. Hier durfte er nicht seine Fantasie spielen lassen. Er musste alle Sorgen ausblenden, er musste einfach weitergehen. Und nein, er durfte keinesfalls daran denken, dass er auch irgendwie wieder durch dieses Loch nach oben gelangen musste, wenn er hier unten nicht verhungern wollte.

Wexmell war der Nächste. Es verstand sich von selbst, dass Desiderius Bellzazar abdrängte um den Prinzen aufzufangen.

Trotz neu gewonnener Muskelmasse, war Wexmell noch immer schmäler als alle anderen und kam nicht in den Genuss einer Panikattacke in der Mitte des Lochs, wo Desiderius stecken geblieben war.

Wexmell klopfte sich Dreck von den Fingern, während Desiderius den Schein der Fackel benutzte, um den Gang ein Stück entlang zu leuchten. Es sah danach aus, als ob der Höhlenabschnitt, der sich vor ihnen erstreckte, breit blieb.

Luro warf seine Fackel hinab, klappernd kam sie zum Erliegen, er war der schmälste von allen und hatte keinerlei Probleme, zu folgen, Bellzazar fing ihn auf.

Dann folgte Allahad. Sein Bein verkeilte sich in einer Spalte, bevor er das Loch verlassen konnte.

»Luro, zieh an einem Fuß.« Angst schwang in dem schnurrenden Akzent mit. »Bitte.«

Luro streckte sich nach dem Fuß, der halb aus dem Loch hing, und packte zu, hing sich mit seinem gesamten Gewicht – nicht das es viel gewesen wäre – an Allahads Bein.

»Ah! Nicht so fest!«, beklagte sich der zottelhaarige Schurke.

»Entschuldigung.«

»Pass doch auf!«

»Mach ich ja, tut mir leid«, sagte Luro ruhig. Er war stets gelassen und fauchte selten zurück, trotzdem hörte Desiderius seinem Freund an, dass auch seine Nerven strapaziert waren. Ob es nun an Allahad persönlich lag oder an diesem Ort, vermochte niemand zu deuten. Vielleicht eine Mischung aus beidem.

Unsanft zerrte Luro an Allahads Bein, doch es wollte sich nicht bewegen. Desiderius blieb bereits das Herz stehen, als er glaubte, Allahad würde für immer dort festhängen. Nicht nur, dass er verloren wäre, er würde ihnen allen auch noch den Weg zurück versperren.

Doch da bewegte sich das Bein urplötzlich und Allahad fiel aus dem Loch, sein Körper riss Luro um und sie stürzten unsanft auf den Boden.

Bellzazar wandte sich ab und ließ es sich nicht nehmen, über sie zu lachen.

Desiderius warf seinem Bruder einen warnenden Blick zu, aber das Schmunzeln konnte auch er sich nicht verkneifen.

»Aua!« Mit gepetzten Augen rieb sich Luro den Rücken, Allahad lag quer über seinen Beinen und stöhnte ebenfalls.

»Ich sagte doch, dass du aufpassen sollst!«, lachte Allahad und kam auf die Beine. Er streckte Luro die Hand entgegen.

Luro schlug ein und ließ sich auf die Beine ziehen. »Hauptsache, du bist draußen.«

Sie klopften sich gegenseitig den Dreck ab.

»Danke«, sagte Allahad, weil Luro ihn rausgezogen hatte.

»Bitte«, erwidere Luro.

Sie sahen sich an. Sie wichen ihren Blicken aus. Sie kratzen sich an den Köpfen …

»Also dann …«

»Ja … ähm …«

Unbehagliches Räuspern, peinliches Schweigen … Sie wandten sich voneinander ab.

Desiderius schüttelte belustigt den Kopf und drehte ihnen den Rücken zu. »Weiter geht’s.«

Bellzazar ging voran, Desiderius und Wexmell folgten, Luro und Allahad bildeten wieder den Abschluss.

Desiderius warf einen prüfenden Blick über die Schulter zu Jäger und Schurke, als er sicher war, dass sie ihn nicht hören konnte, sah er Wexmells ins Gesicht und fragte besorgt: »Ob sie nach der Sache mit dem Dämon je wieder Freunde sein können?« Oder würde es von nun an immer so sein, dass sie sich nichts mehr zu sagen hatten, und mit stur geradeaus gerichteten Blicken nebeneinander hergingen?

Mitgefühlvoll leuchteten Wexmells eisblaue Augen, als er gestand: »Ich weiß es wirklich nicht. Aber ich glaube, ich könnte es nicht, wäre ich an ihrer Stelle.«

Das machte Desiderius traurig. Er vermisste ihre Albernheiten untereinander. Vermisste es, dass die beiden Freunde gewesen waren. Vermisste, wie sie sich gegenseitig aufgezogen und damit auch ihn zum Lachen gebracht hatten.

Sie waren seine Freunde, enge Freunde, und es machte ihm schwer zu schaffen, dass sie nicht mehr wie früher zueinander sein konnten. Die Begegnung mit dem Dämon hatte großen Schaden hinterlassen, der nicht zu reparieren war. Am liebsten hätte Desiderius ihn wiedererweckt und noch einmal vernichtet.

Weitere Engpässe und Felsspalten machten ihnen das Weiterkommen schwer. Ein Spalt war so heimtückisch, dass sie sich allesamt an einer hervorstehenden Kante die Wangen blutig schabten.

Aber schließlich, mit den Nerven am Ende und der Sorge, ob sie es je zurückschaffen konnten, gelangten sie zu einem Gang, der laut Bellzazar der letzte war.

Hier war etwas anders.

Die Gewölbewände erzählten Geschichten. Desiderius und seine Freunde beleuchteten die in Stein gehauenen Figuren. Abbilder von Kriegern und Drachen zierten die Wände. Er sah eine große Schlacht, Wilde traten gemeinsam mit einem Drachen gegen Reiter an.

Wexmells zarte Finger strichen flüchtig über ein anderes Szenario. Leise hauchte seine liebliche Stimme: »Verlust.«

Desiderius warf einen Blick auf die Figuren. Ein wilder Krieger, auf die Knie gesackt, der Kopf saß schief auf dem Hals, als sei er zu schwer geworden, das Gesicht eine Maske der Trauer und des Schmerzes. Ein Junge – vielleicht sein Bruder oder Sohn? – lag leblos in seinen Armen.

Großes Unbehagen kitzelte ihn im Nacken, während er die Figuren im Fels betrachtete.

Unter ihnen begann der Boden zu beben. Es war ein sanftes, kurzes Erbeben, jedoch kräftig genug, um Staub von der Decke rieseln zu lassen, und ihnen einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Was, wenn der Weg nach draußen durch einstürzenden Fels versperrt wurde?

Daran wollte Desiderius gar nicht erst denken.

Zu seiner Angst gesellte sich nun auch wieder dieses Gefühl, das ihm etwas hier unten nicht fremd war. Genau wie oberhalb der Höhle, auf der Insel, glaubte er zu spüren, dass hier etwas Bekanntes auf ihn wartete. Flüstern drang in seinen Kopf. Worte, die nicht seiner Sprache angehörten, lockten ihn. Er verstand die Sprache nicht, jedoch fühlte es sich an, als würde das Geflüster ihn zu sich rufen. Diese Empfindung wollte ihn einfach nicht loslassen. Er sah sich um, betrachtete seine Freunde, die nichts zu hören schienen.

»Desiderius.«

Er folgte dem Ruf seines Bruders und ließ seine drei Gefährten hinter sich zurück, die noch immer ehrfurchtsvoll die kunstvollen Figuren betrachteten.

Bellzazar stand vor einer weiteren Tür im Fels, doch dieses Mal waren die magischen Siegel deutlich zu erkennen.

Drei Stück standen in einer Reihe. Runde Kreise mit verschiedenen Mustern. Von Links beginnend: ein in die Lüfte steigender Drache, der Kopf eines Wolfs und eine flammende Sonne.

Bellzazar betrachtete die Symbole, was ihm genau durch den Kopf ging, war nicht zu erraten, Desiderius konnte im Schein der Fackel nur seine scharfkantigen Züge erkennen, die unergründlich waren. Die Nase warf einen langen Schatten, ebenso seine Wimpern. Wenn er genauer hinsah, hätte er schwören können, Angst in Bellzazars Blick zu erkennen.

»Ist dir eigentlich bewusst, dass du der Letzte deiner Linie bist?«, fragte Bellzazar in die Stille hinein. Er drehte das Gesicht zu Desiderius und schmunzelte emotionslos. »Der Prinz sorgte bereits für Nachwuchs, auch wenn wir seinen Sohn bei der verräterischen Hure ließen, hat er einen Erben und Nachkommen.«

Darüber wollte Desiderius gar nicht nachdenken. Wie oft quälte sich Wexmell mit der Frage, ob es richtig gewesen war, Nohva ohne seinen Bastard zu verlassen. Aber was hätten sie tun sollen? Die Hure hatte einen Bannzauber benutzt, um die Festung an sich zu reißen, hätten sie versucht, das Kind zu stehlen, wären sie vermutlich getötet worden.

Nein, es war gut, dass sie ihn zurückgelassen haben. Vor allem für Desiderius, der nicht an dieses Kind und wie es entstanden war, denken wollte. Außerdem war der Kleine doch bei seiner Mutter, und sie hat alles dafür getan, um für ihn eine sichere Festung zu schaffen. Wexmells Sohn hatte es dort vermutlich besser als sie hier.

Ganz gewiss sogar.

»Was ist mit dir?«, fragte Bellzazar. »Willst du die Linie deines Vaters mit dir enden lassen?«

»Es wird sich nicht vermeiden lassen«, erklärte Desiderius. »Zumal ich nicht nur das Blut meines Vaters weitergeben würde, sondern auch das Vermächtnis unserer Mutter. Zazar, ist es nicht genug, dass wir darunter leiden, göttliche Abstammung zu haben?«

»Es gibt nur Götter oder Halbgötter«, warf Bellzazar ein. »Keine Viertelgötter oder Dreiviertelgötter oder Achtelgötter.«

Desiderius schnaubte: »Schon verstanden, hör auf.«

»Ich mein ja nur«, seufzte Bellzazar. »Wäre doch schade, wenn die M’Shier Linie mit deinem Tod endet.«

Natürlich stand es nicht in Desiderius‘ Sinn, seine Familie väterlicherseits aussterben zu lassen, aber darüber machte er sich kaum Gedanken. Er, als Luzianer, hatte noch etwas mehr als neunhundert Jahre vor sich, sofern er nicht im Kampf getötet wurde, also war für die Nachkommens-Frage noch reichlich Zeit.

»Es gibt Hexen, die deinen Samen in magischen Phiolen aufbewahren könnten …«

»Öffne endlich diese Tür, Zazar«, bat Desiderius seinen Bruder und ließ deutlich erkennen, dass er nicht über Magie oder seinen Samen sprechen wollte, schon gar nicht im selben Zusammenhang.

»Wie du wünschst.« Bellzazar drehte sich um und rief: »Wexmell, würdet Ihr bitte …?«

Nicht wissend, was Bellzazar überhaupt vorhatte, trat Wexmell zu ihnen. In einer Reihe standen sie vor den Siegeln. Desiderius vor dem Drachensiegel, Bellzazar vor dem Wolfssiegel und Wexmell vor dem Sonnensiegel.

Bellzazar zog einen Dolch aus der Lederhülle, das Metall blitzte im Schein der Fackel auf, die er an eine Vorrichtung neben der Tür hing.

»Nun denn, gib mir deine Hand, mein Bruder.«

Desiderius zögerte, ahnte er doch bereits, worauf das hinauslief.

Bellzazar spürte den Zweifel und sagte auf einmal: »Weißt du, es gab eine Zeit, da verstand ich das Band zwischen Brüdern kein bisschen. Ich verstand nicht, warum man sich so sehr liebt, nur, weil man verwandt ist.« Er sah Desiderius an und schmunzelte aufrichtig, was er sehr selten tat. »Dann traf ich dich, du lagst in meinen Armen, so hilflos und ausgeliefert. Ich musste dich vor deinem Schicksal bewahren, musste dich retten, bevor ich dich überhaupt kannte, nur, weil wir Brüder sind. Es war keine Frage des Wollens, sondern ein uralter Instinkt, der dafür sorgt, dass unser Blut nicht aussterben kann. Brüderlichkeit ist nichts Magisches, nichts Göttliches, sondern ein Sterblicher Instinkt, dem nicht einmal Halbgötter wie wir entgehen können.«

Und es war wahr. Obwohl er oft an Bellzazars Motiven zweifelte, standen sie nun trotzdem Schulter an Schulter. Sie waren füreinander da, gehörten zueinander. Brüderlichkeit, das hatte Desiderius nicht einmal bei Silva verspürt. Dieses Band verband ihn ausschließlich mit Bellzazar.

Desiderius nickte schließlich, weil er ohnehin nicht anders konnte. Er war nicht naiv, er ließ sich auch nicht gerne manipulieren oder emotional erpressen, aber das hatte Bellzazar auch nicht getan. Desiderius wollte seinem Bruder schlicht und ergreifend helfen, wo er nur konnte. Bellzazar hatte es auch für ihn getan. Längst wäre Desiderius ohne ihn tot. Oder noch schlimmer: ein Spielzeug der Götter. Und hier und jetzt wollte er seinem Bruder helfen, so wie dieser ihm geholfen hatte. Gemeinsam waren sie stark.

Was auch immer hinter dieser Tür auf sie wartete, wonach auch immer Bellzazar suchte, was auch immer er vorhatte, solange es nicht der Unterwelt dienlich war, würden sie es gemeinsam durchstehen.

Davon abgesehen, spürte Desiderius etwas hier unten, es streichelte seine Haut wie ein warmer Frühlingswind, strich über ihn wie die sanften Worte einer liebenden Mutter, griff nach ihm, verführte ihn, rief nach ihm … Er musste wissen, was dort wartete.

Wäre er kein Luzianer, hätte er geglaubt, er wäre besessen und würde auf das Locken eines Dämons hereinfallen. Aber sein Volk war immun gegen dämonische Besessenheit, also musste es etwas Anderes sein, das ihn zu sich rief.

Bellzazar legte ihm den Dolch in die Handfläche und zog die Klinge über die Haut. Der Schnitt lief an der wulstigen Narbe entlang, die eine andere Klinge hinterlassen hatte, Blut quoll hervor, vermischte sich mit Staub und Dreck.

»Das Blut eines Drachen«, sagte Bellzazar und drückte Desiderius‘ blutige Handfläche auf das Drachensiegel. Sofort leuchtete es rötlich auf, magisches Licht umrandete das Siegel, es wurde heiß, die Tür vibrierte.

Bellzazar vollzog das gleiche Ritual mit Wexmells Hand und drückte sie blutig auf das Sonnensiegel, woraufhin es gelb aufleuchtete. »Blut eines Königs!«

Nun ja, mehr oder weniger, die Krönung war ausgeblieben, nicht einmal ein echter Prinz war Wexmell noch, wenn man bedachte, dass ihn alle für tot hielten und dass der Sohn eines Verräters auf Nohvas Thron saß. Aber das war wohl Haarspalterei, er lebte ja noch und all seine Vorfahren waren tot, demnach war er ein König, wenn auch ohne Krone und ohne Land, immerhin war er der Sohn eines Königs. So genau nahm es das Siegel wohl nicht, vermutlich hätte es genügt, wenn Bellzazar einen selbsternannten König irgendeiner zwei Schritt breiten Insel mitgebracht hätte.

Bellzazar schnitt sich selbst, öffnete die Wunde, die er sich bereits an der ersten Tür zugefügt hatte, und legte seine blutende Hand über das Wolfssiegel. »Blut der Unterwelt.« Das Siegel leuchtete dunkel, schwarzer Nebel umrandete es.

Die Tür begann zu beben, als alle Siegel gelöst wurden. Sie entfernten ihre Hände und traten zurück, während sich Felsen in Felsen schob und Staub aufwirbelte.

Der Boden unter ihnen vibrierte, sodass kleine Steinchen wild hüpften, in Desiderius‘ Innerem sah es nicht viel anders aus, er fühlte sich aufgerüttelt.

Immer mehr erkannte er, dass Bellzazar niemals hierher hätte gelangen können, wenn er Desiderius und Wexmell nicht gerettet und sich selbst zum Dämon gemacht hätte. Desiderius war der erste und einzige Blutdrache seit Jahrtausenden. Und welcher König, außer Wexmell, wäre Bellzazar hier her gefolgt?

Er musste auf diesen Tag Jahrtausende lang gewartet haben, fast konnte man Mitleid mit Bellzazar haben, würden Desiderius nicht die Fragen quälen, was genau Bellzazar eigentlich suchte.

Was sie hinter der Tür erwartete, war eine Grabkammer aus Stein.

Kein Schmuck, kein Silber, keine Reichtümer waren dem steinernen Sarg in der Mitte beigestellt. Magisches Feuer in Form von Fackeln leuchteten noch immer im Inneren. Es war ein großer Raum, ähnlich einem Thronsaal in einer Burgfeste.

Über dem Sarg, an der Wand dahinter, war in den Felsen das Abbild eines monströsen Drachen gemeißelt worden, der im Flug mit gebleckten Zähnen auf die Eindringlinge hinabstürzen wollte. Sieben große Statuen von Rittern, so hoch wie zwei ausgewachsene Männer übereinandergestapelt, standen in der runden Grabkammer an den Wänden. Mit Schwertern und Schilden in den steinernen Armen, wachten sie über den einsamen Sarg.

Angelockt von einem Flüstern, das nur er hören konnte, trat Desiderius in die Kammer. Erst als seine Schritte in der Halle widerhallten, folgten auch seine Gefährten.

Vorsichtig näherte er sich dem Sarg und begriff sehr schnell, dass der Gesteinsdeckel zerstört war. Aufgeschlagen mit einer Axt oder einem großen, zweihändigen Streitkolben. Die Bruchtücke waren in den Sarg gebröselt. Durch das eingeschlagene Loch konnte Desiderius einen Krieger erkennen, auf ewig in seine Rüstung aus Kettenhemd und halb zerfressenen Pelzen und Stoffen gehüllt, einen Helm auf dem Kopf, dessen Visier eine silberne Maske war.

»Er sieht aus wie du«, hauchte Wexmell leise.

Desiderius zuckte zusammen, weil er nicht bemerkt hatte, wie Wexmell neben ihn getreten war. Beide warfen sich unbehagliche Blicke zu.

»Ich finde, er sieht wie mein Vater aus. Jedenfalls die Maske.« Er bezweifelte doch stark, dass das Gesicht der Leiche darunter noch mit irgendetwas anderen Ähnlichkeit besaß als mit einem ausgetrockneten Stück Schuhleder.

Desiderius warf einen Blick zu Bellzazar, der vor der Wand mit dem Drachen stand und ehrfurchtsvoll die in den Stein gemeißelten Konturen des Abbildes streichelte, als würde er einen alten Freund begrüßen. Tränen standen ihm in den Augen.

In der Kehle des Drachen befand sich das einzige Schmuckstück des Raums – ein faustgroßer Stein, der fast wie aus Glas wirkte, darin schimmerte rostrote Farbe wie züngelnde Flammen. Bellzazar löste den Stein heraus, Staub rieselte aus der Öffnung, die zurückblieb, er nahm den Stein an sich.

Vorsichtig streckte Desiderius die Hand in den Sarg, nachdem er sicher war, dass Bellzazar ihn nicht davon abhalten würde. Er wollte nicht nur sehen, was unter der Maske lag, er wollte die Maske selbst begutachten, weil die Gesichtszüge so vertraut schienen.

Er streckte einen Finger unter die Maske und hob sie an.

Gemeinsam mit Wexmell starrte er ungläubig auf das, was in dem Sarg lag, nachdem er die silberne Maske entfernt hatte.

»Nur eine Rüstung«, erkannte er und war irgendwie enttäuscht. »Der Sarg ist leer.«

Bei dieser Aussage wirbelte Bellzazar zu ihnen herum. In seinen Augen stand ein grauenhaftes Entsetzen, das Desiderius sehr gut kannte; er hatte es gespürt, als er glaubte, Wexmell würde sterben.

»Was sagst du da?« Bellzazars Stimme zittere.

Luro und Allahad, die ihrerseits die Statuen begutachtet hatten, drehten sich zu ihnen um.

»Leer«, wiederholte Desiderius. »Der Sarg ist leer, bis auf eine Rüstung.«

»Das kann nicht sein!« Bellzazar stampfte auf sie zu und schob Desiderius grob zur Seite.

Ungläubig starrte er in das Loch. Dann ging mit einem Mal ein Ruck durch ihn und er stemmte sich gegen den Sarg. Bellzazar schob den zertrümmerten Deckel herunter. Es kostete ihn einiges an Kraft und er grunzte unter der Anstrengung, während er mit verzerrter Miene den Sarg aufstemmte.

Desiderius ließ seinen Bruder machen, offenbar hatte er den hier liegenden einst gekannt, oder er benötigte die Leiche für irgendetwas Grausiges, worüber Desiderius im Augenblick nicht nachdenken wollte.

Zu sehr nahm ihm die Maske ein. Desiderius hob sie an und strich mit dem Finger über das kühle Silber, das sich in dem Sarg erstaunlich gut gehalten hatte. Ihn überkam ein seltsames Gefühl, das er nicht benennen konnte, weil es ihm fremd war. Es schnürte ihm jedenfalls die Luft ab, doch Angst war es nicht, es war … wie das Aufkommen eines Déjà-vus …

Mit einem lauten Krachen landete der Deckel auf dem Boden, der Lärm hallte durch das Grab. Aufgebracht wühlte Bellzazar bereits im Sarginnerem, als die Falle zuschnappte.

Kaum war der Deckel geöffnet, schloss sich die Tür und ein Beben erschütterte die Grabkammer, sodass es sie fast von den Füßen riss.

Allahad und Luro rannten zur Tür und versuchten, sie aufzuhalten – vergeblich. Magie schob sie zu, dagegen waren sie alle machtlos.

Und dann bewegten sie sich. Die großen Statuen aus Stein. Gesteinsstaub rieselte aus ihren Rissen und Rillen, als sie ihre Gelenke steif ausstreckten und zum Leben erwachten. Sie hoben ihre Waffen und setzten sich in Bewegung, kampfbereit und willig, die Kammer von Eindringlingen zu säubern.

Bellzazar war erstarrt, konnte sein Unglück am allerwenigsten fassen.

Die Maske in Desiderius‘ Hand begann zu leuchten, ein weißes Licht, das seinen Arm emporkroch und ihn vereinnahmte.

»Derius!«, rief Wexmell schockiert.

Desiderius wirbelte zu ihm herum, doch da waren bereits alle verschwunden.

Noch immer befand er sich im Inneren der Grabkammer, doch plötzlich war er allein. Es war still, das Beben war verschwunden, die Kälte war vertrieben. Ein seltsames Licht umhüllte ihn. Matt und bläulich, wie in einem Traum.

Der Sarg lag offen vor ihm, darin ruhte ein junger Mann mit schwarzem Zopf, erst frisch verstorben, ein Schwert in der Form eines Drachenflügels lag auf seiner Brust.

Kein unbelebter Gesteinsdrache wachte nun über den Sarg, sondern der wahrhaftige Geist eines Drachen.

Durchsichtig, blauschimmernd lag er hinter dem Sarg, so groß, dass er im Stand die Decke berühren würde. Er hob gelassen den Kopf.

Gegen Drachen hatte er bereits gekämpft, jedoch nicht gegen den Geist eines Drachen.

Desiderius‘ Beine gaben nach, er krachte mit offenem Mund auf die Knie und starrte den Drachen mit einer Mischung aus Respekt und Ehrfurcht an.

Jetzt spürte er es, spürte das Bekannte, dessen Präsenz er die ganze Zeit, seit sie die Insel betraten, hatte fühlen können. Es war der Geist des Drachen gewesen, der nach ihm gerufen, ihm zugeflüstert hatte.

Einem Impuls folgend, fragte er leise: »Wer bist du?«

Der Drache antwortete, indem er seine Sprache in Desiderius‘ Gedanken zu Worten formte, die auch er verstehen konnte. Die dunkle Stimme war mehr ein Dröhnen, ein gewöhnungsbedürftiger Schmerz in den Schläfen.

»Wer ich bin?« Der Drachen lachte grollend in sich hinein. Er stand auf und drehte sich um sich selbst, er ließ seine anmutige Gestalt erkennen und beugte sich dann weit zu Desiderius hinab, legte fast den Kopf auf den steinernen Boden der Grabkammer, damit sie sich in die Augen sehen konnten.

»Ich bin du«, erklärte der Drache, »und du bist ich …«

Im Land der Schatten

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