Читать книгу Das Märchen vom Nadelbäumchen - Gesamtausgabe - Birgit Kretzschmar - Страница 12

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Kapitel 8 Nadelbäumchen und der Vollmond

Eines schönen Nachmittags, als es schon zu dämmern begonnen hatte, war das Eichhörnchen Belka wieder einmal damit beschäftigt, nach vergrabenen Nüssen zu suchen. Wie oft hatte es nun schon vergeblich an der gleichen Stelle gesucht? Es konnte sich einfach nicht erinnern, wo es welche verbuddelt hatte. Manchmal fand es ein paar wieder, aber das war wahrscheinlich eher Zufall. Herr Täuberich und seine Frau Becchi suchten heute auch einmal auf der Wiese nach etwas zu futtern und pickten ganz in der Nähe von Nadelbäumchens Stamm. Nadelbäumchen schaute glücklich und zufrieden auf seine Freunde herunter und spendete ihnen Schatten. Plötzlich kam ein Kind auf die Wiese gerannt. Es fuchtelte wie wild mit den Armen, schrie: „Haut ab, ihr dummen Viecher!“, und stürmte direkt auf die Tauben zu. Die beiden erschraken fürchterlich und flatterten sofort auf und davon. Belka sprang mit einem Satz an Nadelbäumchens Stamm empor und blieb in der Mitte auf einem Ast sitzen. Von da aus schaute es verängstig hinunter. Das Kind lachte laut und hämisch auf. Es schien seine helle Freude daran zu haben, dass es den Tieren Angst eingejagt und sie vertrieben hatte. Nadelbäumchen war entsetzt. Was stimmte denn mit diesem Kind nicht, dass es aus purer Lust Tiere verjagte, die ihm gar nichts getan hatten? Nadelbäumchen wedelte mit seinen Zweigen und rauschte ärgerlich, doch das Kind störte sich nicht daran. Im Gegenteil! Es stellte sich auf seine Zehenspitzen, griff nach einem von Nadelbäumchens Zweigen und riss ihn einfach ab, dass die Nadeln flogen. Nadelbäumchen schrie auf vor Schmerz. Das Kind bekam von seinem Schmerzschrei natürlich nichts mit und wenn es ihn gehört hätte, wer weiß, ob es nicht sogar noch darüber gelacht hätte! Was hatte es nun mit dem abgerissenen Zweig vor? Es peitschte damit auf die Wiese ein und schlug einigen Gänseblümchen die Köpfe ab! Was für eine fürchterliche Situation und niemand in der Nähe, der dem Kind Einhalt gebieten würde? Hilflos schaute sich Nadelbäumchen um. Leider war weit und breit kein Mensch zu sehen! Nun lief das Kind mit dem Zweig in der Hand zu den Büschen am Rande der Wiese und schlug damit Blüten und Beeren ab. Plötzlich hielt es inne, griff in seine Hosentasche, holte ein Handy heraus und hielt es ans Ohr. „Och, ich will aber noch nicht!“, hörte Nadelbäumchen es rufen und sah, wie es wieder auf die Büsche einschlug. Letztlich ließ es aber doch davon ab, warf den Zweig auf die Erde und trampelte darauf herum. Dann rannte es quer über die Wiese, am Nadelbäumchen vorbei, über den Parkplatz und den Gehweg entlang. Bald darauf war es Nadelbäumchens Blicken entschwunden. Becchi und Herr Täuberich kamen von der Dachrinne des Hauses herab geflattert und setzten sich vorsichtshalber ganz weit oben in Nadelbäumchens Wipfel. „Gugguuuh gu! Gugguuuh gu! Ist das Kind endlich fort?“, gurrte Becchi. Nadelbäumchen besah sich die Stelle, wo ihm sein Zweig abgerissen worden war. Etwas Harz tropfte heraus und schloss die Wunde. Nadelbäumchen wusste für den Moment gar nicht, was ihn mehr schmerzte: die Wunde oder die Erfahrung gemacht zu haben, dass jemand so ein böswilliges Verhalten zeigt und offensichtlich Freude daran hat, andere zu verletzen. Es war so in Gedanken versunken, dass es Becchis Frage zu beantworten vergaß. Sie hatte die Antwort aber auch gar nicht abgewartet, denn bald schon würde es dunkel werden und da galt es, noch schnell ein paar Körner zu finden. Deshalb war sie mit ihrem Täuberich schon wieder fortgeflogen. Belka war vor Schreck der Appetit und die Lust am Nüssesuchen vergangen. „Nadelbäumchen, ich muss nachdenken. Dazu verziehe ich mich am liebsten in meinen Kobel. Du weißt schon, welchen ich meine. Gute Nacht, liebes Bäumchen, und gute Besserung für deinen Zweig!“ Nadelbäumchen bedankte sich bei Belka und wünschte ihm ebenfalls eine gute Nacht. Belka kletterte flink an seinem Stamm herab und sprang in großen Sätzen über die Wiese. An einem der Laubbäume kletterte es empor und verschwand in seinem Kobel. Kurz darauf kamen die Tauben von der Futtersuche zurück. „Na, habt ihr noch etwas zum Abendbrot gefunden?“, fragte Nadelbäumchen. „Ja, gugguuuh gu! Und nun ist es schon dunkel! Sieh nur, der Mond ist schon da! Gugguuuh gu!“, gurrte Herr Täuberich im Nest, plusterte sich richtig auf und kuschelte sich an seine Becchi. „Na, das ist doch prima. Dann schlaft mal gut, ihr zwei!“, sagte Nadelbäumchen. „Schlafe auch du gut, Bäumchen!“, wünschte ihm Becchi noch, bevor sie ihren Schnabel nach Vogelart im Gefieder auf dem Rücken versteckte und dann wie eine Kugel aussah. Nadelbäumchen war aber nicht nach Schlaf zumute. Es war so furchtbar traurig und das bösartige Benehmen des Kindes ging ihm nicht aus dem Sinn. Außerdem machte es sich Sorgen, dass das Kind an einem anderen Tag wiederkommen und so etwas wiederholen könnte. Ihm war zum Weinen zumute! Eigentlich wollte es die Tränen nicht zulassen, denn was sollten seine Freunde von ihm denken, wenn es plötzlich losheulte? Es war ja, im Vergleich zu ihnen, schon viel zu groß zum Weinen! Doch jetzt, als alle schliefen und keiner es bemerken würde, ließ es seinen Tränen doch freien Lauf und konnte ein leises Zittern dabei nicht unterdrücken. „Nadelbäumchen, Liebes, warum weinst du denn?“, fragte da plötzlich der Vollmond. In seinem silbernen Schein glitzerten Nadelbäumchens Tränen, da konnten sie ihm ja nicht verborgen bleiben. „Ach, guter Mond, wenn du wüsstest ...“, seufzte das Nadelbäumchen. „Nun, ich werde es wissen, wenn du mir erzählst, was dich so bedrückt!“, sagte da der Mond. Nadelbäumchen holte tief Luft und erzählte dann dem Mond alles der Reihe nach. Es vertraute ihm auch seine Besorgnis darüber an, dass das alles vielleicht nochmals geschehen könne. Der Vollmond hatte Nadelbäumchens Bericht aufmerksam zugehört und es auch nicht ein einziges Mal unterbrochen. Nun, da Nadelbäumchen mit seiner Erzählung fertig war, versicherte der Mond ihm, dass er wisse, wie das Problem zu lösen sei, es solle nur Vertrauen haben und nun erst einmal unbesorgt schlafen. Dann verzog er sich hinter einer großen Wolke, sodass es ringsumher dunkler wurde. Nadelbäumchen war erleichtert darüber, dass es seine Sorgen und Ängste dem Mond anvertraut hatte. Es hoffte nun darauf, dass der Mond recht behalten würde, und schlief ein. Der Mond war ein Stück weiter gewandert, schien nun in die Fenster des Hauses hinein und suchte das Zimmer, indem das Kind schlief. Er fand es gerade in dem Moment, als eine Frau dort die Gardine zuzog. Doch davon ließ sich der Vollmond nicht beeindrucken. Er hatte schon einen Traum zusammengestellt und einen Schlafwichtel mit ihm zu dem Kind geschickt. Für den Schlafwichtel war es ein Leichtes, durch das Fenster und die Gardine hindurch zu fliegen! Als der Traum bei dem Kind ankam, begann es, sich ganz unruhig hin und her zu wälzen. In seinem Traum war es wieder auf der Wiese und wollte sich genauso verhalten, wie es das am Nachmittag getan hatte. Doch was war das? Wollte es nach den Tauben treten, spürte es einen heftigen Tritt gegen den eignen Körper und fiel der Länge nach hin. Als es sich wieder aufgerappelt und auf Zehenspitzen gestellt hatte, um den Zweig abzureißen, passierte etwas ganz Schreckliches! Genau in dem Augenblick, als es den Zweig des Bäumchens abriss, riss ihm irgendetwas einen Finger ab! Einfach so! Aber es machte weiter und schlug mit dem Zweig auf die Wiese und den Gänseblümchen die Köpfe ab. Und bei jedem Schlag, dass es der Wiese und den Blumen versetzte, bekam es von irgendetwas Peitschenhiebe! Bei jedem Blumenköpfchen, das es mit dem Zweig abschlug, fiel ihm selbst etwas von seinem Körper ab! Seine Ohren, die Nase waren abgeschlagen worden und noch immer konnte es nicht aufhören? Schweißgebadet und mit einem fürchterlichen Angstschrei wachte das Kind aus diesem Albtraum auf. Seine Mutter hatte den Schrei wohl gehört und war sofort ins Kinderzimmer geeilt, um zu sehen, was geschehen war. Das Kind war außer sich vor Angst und zitterte. Seine Mutter nahm es liebevoll und beruhigend in ihre Arme und sprach: „Es ist alles gut, mein Schatz, du hast nur geträumt!“ Aber das Kind konnte sich nicht beruhigen. Es fasste an seine Ohren, an die Nase, zählte seine Finger ... „Na, erzähl mir doch bitte mal, was du geträumt hast!“, bat die Mutter. Aufgeregt und sich beim Erzählen ständig verhaspelnd, erzählte das Kind der Mutter seinen Traum. Da strich sie ihm zärtlich mit der Hand über den Kopf und sagte: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füge auch keinem andern zu! Weißt du was? Geh doch morgen Nachmittag zum Nadelbäumchen und den Tauben und bitte um Verzeihung. Gib ihm Wasser, du hast doch noch deine grüne Gieskanne? Und nimm den Tauben ein paar Körner mit. Die kannst du im Zoogeschäft an der Ecke kaufen, von deinem Taschengeld ist doch sicher noch etwas übrig?“ Die beruhigenden Worte seiner Mutter taten dem Kind gut und es versprach, ihren Rat zu befolgen. „Morgen reden wir mal in aller Ruhe darüber, was du dir dabei gedacht hast, nach Tauben zu treten und so weiter ... Aber nun schlaf erst einmal gut. Jetzt wirst du sicher keinen Albtraum mehr haben.“ Die Mutter gab ihm noch einen Gute-Nacht-Kuss und ging zurück in ihr Schlafzimmer. Das Kind kuschelte sich in sein Bett und schlief beruhigt ein. Der Schlafwichtel hatte nun genug gehört und gesehen, verschwand so leise, wie er gekommen war, und flog zurück zum Vollmond. Dort erstattete er Bericht. Zufrieden hörte der Mond, dass sein Plan aufgegangen war. Nun müsste das Kind nur noch Wort halten. Am anderen Tag konnte es gar nicht erwarten, dass die Schule zu Ende ging! Nach der letzten Stunde beeilte es sich, heimzukommen. Im Schreibtisch hatte es ein Kästchen, worin es sein Taschengeld aufbewahrte. Das schnappte es sich jetzt und ging damit auf kürzestem Weg zum Zoogeschäft. Dort kaufte es eine Tüte Taubenfutter und flitzte damit zurück nach Hause, um seine Gießkanne zu holen. Es war gar nicht so einfach, mit der vollen Gießkanne in der einen Hand und der großen Tüte mit dem Taubenfutter in der anderen, bis zum Nadelbäumchen zu kommen, ohne Wasser zu verschütten. Das Nadelbäumchen traute seinen Augen kaum, als es das Kind damit auf sich zukommen sah. Es hatte schon Schlimmes befürchtet und seine Zweige ganz dicht an sich herangezogen, doch dann hörte es das Kind sagen: „Nadelbäumchen, bitte verzeih mir. Ich weiß, ich habe dir sehr weh getan und das tut mir so leid! Ungeschehen machen kann ich es leider nicht. Aber bitte, verzeih mir! Ich bringe dir hier etwas Wasser!“ Dann goss das Kind das Wasser vorsichtig vor Nadelbäumchens Stamm. Der Täuberich und seine Becchi schauten von oben zu und staunten. Konnte das wahr sein? Dieses noch gestern so böswillig gewesene Kind war ja wie umgewandelt! Becchi konnte ein „Gugguuuh gu!“ nicht unterdrücken. Als das Kind sie gurren hörte, rief es den Tauben zu: „Ihr beiden, bitte, seid mir nicht mehr böse! Ich werde nie wieder nach euch treten, großes Ehrenwort! Schaut mal, ich habe Taubenfutter für euch gekauft ...“ Mit diesen Worten öffnete es die Taubenfuttertüte und streute etwas Futter auf eine trockene Stelle der Wiese am Fuße des Bäumchens. Seit diesem Tag hat das Kind nie wieder einer Pflanze oder einem Tier Leid angetan und auch keine bösen Albträume mehr erlebt.

Das Märchen vom Nadelbäumchen - Gesamtausgabe

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