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Kapitel 4 Nadelbäumchen erlebt ein Abenteuer

Es geschah einmal an einem sonnigen Nachmittag, dass Kinder aus dem Wohngebiet auf Nadelbäumchens Wiese gemeinsam Ball spielten. Der bunte Ball gehörte einem Kind, das im Erdgeschoss des Hauses wohnte, vor dessen Balkon das Nadelbäumchen gepflanzt worden war. Obwohl das Nadelbäumchen gar nicht dicht am Balkon stand, sondern ziemlich in der Mitte der Wiese, hatte es einen guten Einblick in die Wohnung. Zum Weihnachtsfest hatte es so wehmütig in die Wohnstube geschaut, den toll geschmückten Weihnachtsbaum bewundert und sich gar nicht sattsehen können daran. Damals war es sein größter Wunsch gewesen, auch so schön geschmückt in einem Wohnzimmer, oder wenigstens auf einem Balkon, zu stehen. Zum Glück hatte sein Freud, der Täuberich, es dann aber darauf hingewiesen, dass es froh darüber sein könne, ungestört auf seiner Wiese wachsen zu können. Da es aber immer wieder in diese Stube geschaut hatte, hatte es auch beobachtet, dass der Weihnachtsmann am Heiligabend bei der Bescherung in jener Wohnung diesen bunten Ball aus seinem Sack geholt und dem Kind geschenkt hatte. Und an jenem Nachmittag hatte das Kind den Ball nun zum Spielen mit auf die Wiese gebracht. Die anderen Kinder hatten sich nicht lange bitten lassen und nun spielten sie alle gemeinsam. Sie flitzen kreuz und quer über die Wiese. Mal jagte eine den Ball vor sich her, mal war ein anderes Kind schneller und schoss den Ball in eine andere Richtung. Was für ein fröhliches Treiben! Doch dann geschah, was geschehen musste: Ein Kind kickte den Ball mit so viel Schwung in die Höhe, dass dieser von den anderen nicht mehr zu fangen war. Wenn das Nadelbäumchen nicht im Wege gestanden hätte, wäre der Ball jetzt wohl mit hoher Geschwindigkeit in eine Fensterscheibe gesaust! Aber es rief blitzschnell den Wind zu Hilfe, dieser schickte fix eine Böe unter die Zweige. Dadurch wehten sie ein Stückchen hoch und so konnte das Nadelbäumchen mit ihnen den Ball fangen! Erschrocken schauten die Kinder dem Ball hinterher und eines, das schon das Schlimmste befürchtete, hielt sich die Ohren zu und hockte sich mit geschlossenen Augen hin. Aber das erwartete Klirren einer zerbrochenen Scheibe blieb aus, denn der Ball war ja im Geäst des Nadelbäumchens gelandet! Dabei hatte er gleich mehrere Zweige abgebrochen und das Nadelbäumchen schrie vor Schmerz auf. Die Kinder konnten dies allerdings nicht hören. Für menschliche Ohren ist die Sprache der Pflanzen ja nicht wahrnehmbar. Für das Nadelbäumchen fühlte sich der Schmerz aber so ähnlich an, wie wenn ein Mensch sich verletzt. Und verstauchte oder gar gebrochene Finger schmerzen schon ziemlich doll! Allerdings waren die abgebrochenen Zweige nicht seine größte Sorge. Viel mehr sorgte es sich um die Kinder, denn es hörte, wie sie darüber sprachen, dass sie sich nun etwas einfallen lassen müssten, um den Ball vom Baum herunter zu holen. Die Knirpse planten doch tatsächlich, auf es zu klettern? Das war doch viel zu gefährlich für sie! Abgesehen davon war es auch gut möglich, dass ihm dabei weitere Zweige abgebrochen würden! Es überlegte angestrengt, was es unternehmen könnte, um sie davon abzuhalten. Da war guter Rat teuer! Sollte es den Wind noch einmal um Hilfe bitten? ‚Warum nicht!‘, dachte es sich und rief nach ihm. Aber dieses Mal hörte ihn der umtriebige Geselle wohl nicht, denn es bekam keine Antwort. Doch von anderer Stelle kam Hilfe: „Gugguuuh gu! Gugguuuh gu!“,war zu hören. Der Täuberich und seine Frau kamen gerade rechtzeitig von ihrer Futtersuche zurück zum Nest geflattert! Die beiden wussten sofort, was zu tun sei! Sie flogen zum Ball und pickten mit ihren Schnäbeln nach ihm – vorsichtig genug, um ihn nicht zu beschädigen, aber auch stark genug, um ihn herunter zu schubsen. Sie achteten dabei auch darauf, dem Nadelbäumchen nicht auf die Bruchstellen zu treten. „Hast du starke Schmerzen?“, erkundigte sich Becchi, die Taubendame, fürsorglich. „Dankeschön, dass du nachfragst! Es geht schon wieder!“, sagte da das Nadelbäumchen, „Ich habe schon etwas Harz darüber quellen lassen und die Wunden verschlossen. Der ist mein Pflaster und lindert den Schmerz.“ Die Kinder freuten sich sehr, dass sie den Ball zurückbekommen hatten, ohne hochklettern zu müssen. Eines sagte nachdenklich: „Stellt Euch mal vor, was jetzt alles hätte passieren können! Der Ball hätte in eine Scheibe fliegen können, Die wäre hin gewesen! Das hätte Ärger gegeben!“ „Oder wir hätten uns beim Hochklettern die Sachen zerissen oder uns verletzt!“, sagte ein anderes. „Ja, klar ... Hätte, wenn und würde ...“,sagte ein weiteres. „Auf jeden Fall passen wir beim nächsten Mal besser auf, dass wir den Ball nicht so hoch kicken!“, meinte jemand. Inzwischen war es fast Abend geworden. Ein Fenster wurde geöffnet, aus diesem rief eine Mutter ihr Kind zum Essen nach Hause. Für heute verabschiedeten sich die Kinder voneinander und liefen nach Hause. Das Kind, dem der Ball gehörte, blieb als einziges noch für einen Moment stehen, schaute das Nadelbäumchen dankbar an und sagte: „Du kannst mich vielleicht nicht verstehen, aber ich möchte mich trotzdem bei dir und den Tauben bedanken. Hättest Du den Ball nicht gefangen und die Tauben ihn nicht herunter geschubst, dann wäre es schlecht ausgegangen!“ Das Nadelbäumchen und die Tauben freuten sich riesig darüber! Dankbarkeit zu zeigen, das ist heutzutage leider sehr selten geworden. Und sie konnten das Kind so gut verstehen, auch wenn es das nicht wusste. „Gugguh gu! Gugguh gu!“, riefen die Tauben und das Nadelbäumchen nickte, so gut es ging, mit seinem Wipfel. Da fühlte das Kind sich plötzlich innerlich wohler und lief nun zufrieden heim. Zwar konnte es Bäumchen und Tauben nicht verstehen, aber es schien zu fühlen, dass sie seine Dankbarkeit wahrgenommen hatten und sich darüber freuten. Als es seinen Blicken entschwunden war, sagte Nadelbäumchen zu den Tauben: „Freunde, das war ein richtiges Abenteuer für mich!“

Das Märchen vom Nadelbäumchen - Gesamtausgabe

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