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Spiele

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Gemeinsam mit meiner Schwester Simone, die fünfeinviertel Jahre jünger ist als ich, teilte ich mir bis kurz vor meinem dreizehnten Geburtstag das Kinderzimmer. Wir hatten ein gemeinsames Etagenbett: Ich schlief oben, Simone unten. Wichtig war mir von jeher, meine Sachen beziehungsweise meinen Raum abzugrenzen. Dabei legte ich einmal mithilfe einer Schnur eine genaue Grenze zwischen Simones und meinen Teil des Zimmers und untersagte meiner Schwester, meinen Teil zu betreten.

Als Kind besaß ich einen kleinen gelben Koffer, den ich mit Spielsachen befüllen und selbst tragen durfte, wenn wir zu meiner Oma (mütterlicherseits) nach Sigmaringen fuhren. Ich liebte es, die Sachen darin immer wieder neu zu ordnen, sodass der Platz im Koffer optimal ausgefüllt werden konnte. Fast alle Ferien verbrachten wir im Haus meiner Oma, da meine Eltern kein Geld hatten, um mit uns weiter weg in Urlaub zu fahren.

Wenn wir bei meiner Oma waren, fand immer ein großes Familientreffen statt. Meine Cousins und Cousinen hatten leider bald herausgefunden, dass mir mein Teddy sehr wichtig war. Also nahmen sie ihn mir einmal weg, hielten ihn aus dem Fenster des ersten Stocks und drohten, ihn fallen zu lassen. Das war schlimm für mich, da meine Stofftiere für mich echte Lebewesen waren, die Schmerzen empfinden konnten. Ich konnte auch nie aushalten (und kann es bis heute) nicht, wenn ich einem Kuscheltier ein Bein umgeknickt hatte, denn für mein Empfinden tut ihm das weh!

Meine Schwester und ich durften nur selten fernsehen, und wenn, nur ausgewählte Sendungen. Meine Mutter hielt viel von der antiautoritären Erziehung und war ein großer Fan der Kindersendung »Rappelkiste«, in der die beiden Handpuppen »Ratz und Rübe« selbstbewusst ihre Meinung zu Angelegenheiten von Kindern vorbrachten. Die Erwachsenen schnitten dabei oftmals schlecht ab. Dann gab es natürlich noch die »Sendung mit der Maus«. In eine ähnliche Richtung ging auch die Sendung »Löwenzahn« mit Peter Lustig, die ich ebenfalls gucken durfte und gerne mochte.

Am meisten geprägt haben mich in meiner Kindheit die Bücher von Astrid Lindgren, insbesondere »Wir Kinder aus Bullerbü«. Die dort geschilderte Lebensweise und die Freundschaften unter den Kindern der drei nebeneinanderliegenden Höfe hatten es mir sehr angetan. Auch »Pippi Langstrumpf« bekam ich als Buch vorgelesen, ich durfte sogar die entsprechenden Filme im Fernsehen anschauen. Meine Mutter mochte Pippi Langstrumpf, weil sie so selbstbewusst, unkonventionell und autonom war.

Mein Vater war für die Ordnung zuständig und zeigte mir, wie man seine Sachen auf den Regalen sinnvoll platziert. Dazu bildete er mit mir gemeinsam Kategorien meiner Spielsachen, gruppierte sie und klebte ein Schild mit der Bezeichnung der jeweiligen Kategorie auf die Regalbretter. Das gefiel mir sehr gut, denn so hatte alles seine Ordnung. In seinem Arbeitszimmer stand ein großer gepolsterter Drehstuhl vor dem Schreibtisch. Das Zimmer meines Vaters durfte ich nur sehr selten betreten. Das war zum Beispiel dann der Fall, wenn ich von ihm, auf seinem Schoß sitzend, die Fingernägel geschnitten bekam. Ganz oben auf einem Regal hatte er einen Pappkarton mit Büroartikeln. Ich liebte diese Kiste mit Stiften, Blöcken, Tesafilm und Aufklebern sehr und durfte sie mir manchmal mit ihm zusammen anschauen.

Als Kind bin ich nie in eine Rolle geschlüpft, habe also nie mit anderen Kindern Räuber und Gendarm oder Ärztin oder Krankenschwester gespielt und habe mir auch nie vorgestellt, ich sei eine Hexe oder Pippi Langstrumpf. Das galt auch für den Umgang mit Spielsachen. Ich habe zum Beispiel für meine Schlümpfe aus Eierkartons mit Watte darin »Schlumpfboote« gebaut. Ich setzte sie dann auch hinein. Aber während andere Kinder dann erst anfingen, mit den Schlümpfen zu spielen, war mein Spiel abgeschlossen, sobald alles fertig aufgebaut war. Ich hatte ein Puppenhaus, mit dem ging es genauso. Man konnte die einzelnen Räume einrichten, aber wenn ich das getan hatte, verlor ich das Interesse an dem Puppenhaus. Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal, bei dem ich an einem Rollenspiel mit Kindern aus unserer Straße teilnahm. Ich war sehr verunsichert und versicherte mich bei einem der älteren Kinder, dass wir jetzt auch wirklich nur spielen und dass es nicht wirklich ist, was wir nun tun. Besser klar kam ich mit den anderen Kindern, wenn wir gelegentlich zusammen Rollschuh liefen oder Fahrrad fuhren. Manchmal malten wir auch mit Kreide oder roten und weißen Steinen die Straße an. Gerne spielten wir im Sommer auf der Straße Gummitwist, manchmal auf Socken, weil man damit besser springen konnte.

Einmal passierte es, dass ich mit einem etwas jüngeren Kind auf der Straße spielte. Ich war etwa sieben Jahre alt. Wir hatten einen Eimer voll Wasser und Dreck darin. Nach einiger Zeit stritten wir uns, und ich war wütend. Daraufhin drohte ich dem Jungen, wenn er nicht aufhören würde, mich zu ärgern, würde ich ihm den Eimer Wasser über den Kopf schütten. Er hörte nicht auf, und ohne zu zögern, tat ich, was ich vorher angekündigt hatte. Danach war ich sehr erschrocken über mein Tun. Noch heute führe ich meine Angst davor, intrusive autoaggressive Gedanken in die Tat umzusetzen (wie zum Beispiel der Gedanke: »Ich könnte da jetzt runterspringen!«, wenn ich auf einer Brücke oder vor einem offenen Fenster stehe), auf diesen Impulsdurchbruch als Kind zurück.

Meine wichtigste Freundin in der Kindheit war Martina, deren Großeltern in unserem Haus in Oberursel wohnten. Sie besuchte mich gerne, denn meine Mutter erlaubte viele unkonventionelle, kreative Spiele und Beschäftigungen. Einmal haben wir uns mit Fingerfarbe angemalt und wurden danach von meiner Mutter in die Badewanne gesetzt, um wieder sauber zu werden. Wenn meine Mutter Pizza backte, durften wir uns auch etwas Teig nehmen. Wir haben daraus Mini-Pizzen geformt und sie jeweils besonders belegt. An anderen Tagen breiteten Martina und ich in der Küche Papier von einer großen, noch unbedruckten Zeitungspapierrolle aus. Wir legten uns auf den Boden und zeichneten auf dem Papier die Körperkonturen der anderen nach. Anschließend malten wir unser Abbild mit Fingerfarben bunt aus. Wenn Martina bei mir übernachtete, knüpften wir uns gelegentlich zusammen in einen Bettbezug ein. Meine Mutter brachte uns dann Frühstück und wir speisten darin wie in einer Höhle.

Was ich besonders liebte, waren alle Arten von Bewegungsspielen: So hatten wir in unserem Wohnzimmer öfters einen »Saltoplatz«, sprangen und turnten auf den übereinandergestapelten Sofas herum. Oder wir sprangen aus einiger Entfernung in einen Handstand, stützten uns dabei mit den Köpfen an der Sofakante ab. Einmal wollte ich einen Rekord im Purzelbaumschlagen aufstellen. Ich machte auf unserer bunten Matratze 704 Purzelbäume, vorwärts und rückwärts im Wechsel. Als ich dann aufstand, fiel ich einfach um. Kein Wunder, mein Gleichgewichtsorgan muss völlig orientierungslos gewesen sein.

Während der Grundschulzeit war ich an Fasching über einige Jahre als Affe verkleidet. Dazu zog ich ein braunes plüschiges Kostüm an, das meine Mutter für mich genäht hatte. Ich liebte es, »Affe« sein zu können, rannte auf allen vieren in einem Heidentempo durch die Gegend und schrie dabei nach Affenart. Der Schwanz des Kostüms bestand aus Draht, der mit Schaumstoff und braunem Stoff umwickelt war. Wenn mir jemand blöd kam, nahm ich einfach den Schwanz des Affenkostüms und schlug den anderen damit.

Telefonieren gehörte als Kind nicht zu meinen Stärken. Wenn ich aus der Schule kam und nachmittags nichts vorhatte, konnte es vorkommen, dass ich bei Martina zu Hause anrief. Das Gespräch lief dann wie folgt ab: »Hallo, hier ist Birgit Saalfrank. Ist die Martina da?« Einige Zeit verging, Martina kam ans Telefon. Dann fragte ich sie: »Hallo. Kannst du?« Das sollte heißen: Hast du heute Nachmittag Zeit für ein Treffen? Wenn sie verneinte, sagte ich: »Also, tschüss.« Das war das ganze Gespräch.

Abends dauerte es manchmal lange, bis ich einschlief. Da ich oben in unserem Etagenbett lag, war es für mich immer etwas umständlich, hinunterzuklettern. Deshalb kam es oft vor, dass ich nach meiner Mutter rief, zum Beispiel, wenn ich Durst hatte. Manchmal auch einfach, um ihr zu sagen, dass ich mich ganz unter die Bettdecke verkriechen würde, denn ich machte mir Gedanken um meine Eltern, die in meiner Vorstellung denken könnten, ich sei nicht mehr da und sich dann erschrecken würden. Also sagte ich ihnen vorher immer Bescheid, damit sie sich keine Sorgen machten. An einem Abend rief ich zum wiederholten Mal nach meiner Mutter. Sie kam zu mir, war aber so aufgebracht wegen meines ständigen Rufens, dass sie mir eine Ohrfeige gab. Ich habe sie daraufhin völlig empört angesehen. Sie hat das nie wieder getan.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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