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Frühes Leid

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Kurz vor meinem fünften Geburtstag, als meine Mutter mit meiner Schwester schwanger war, brachten mich meine Eltern zu einer Kinderpsychologin, die zunächst verschiedene Tests und Untersuchungen mit mir anstellte. Gründe dafür gab es mehrere: Ich litt unter Pavor Nocturnus, also nächtlichen angstvollen Schreianfällen, aus denen mich meine Eltern nur schwer aufwecken konnten. Ich hatte außerdem oft »Beinweh« als Kind: Die Waden schmerzten dann sehr unangenehm. Einmal wachte ich nachts auf und saß in der Badewanne, während meine Eltern besorgt um mich herumstanden. Sie dachten damals offensichtlich, dass ich vielleicht weinte, weil mir die Beine wehtaten, und setzten mich in die Wanne in der Hoffnung, dass mir das warme Wasser guttun würde. In dieser Zeit wurden bei mir öfters EEGs abgeleitet, da die Ärzte im Zusammenhang mit meinen nächt­lichen Schreianfällen, die mit Verkrampfungen der Hände einhergingen, den Verdacht auf ein cerebrales Anfallsleiden hatten, der sich aber nicht bestätigte. Außerdem machte sich meine Mutter Sorgen, dass ich im Kindergarten mit den anderen Kindern nicht gut zurechtkommen würde. Diese Sorgen hat meine Kindergärtnerin laut dem Gutachten der Psychologin jedoch nicht geteilt, sie empfand mich weder als ängstlich noch als störend. Allerdings fand sie, dass ich noch lernen müsse, in Gruppen zu spielen und mich in diese zu integrieren. Wenn ich mit einem anderen Kind spielte, dann immer nur in der Eins-zu-eins-Situation, alles andere überforderte mich. Darüber hinaus habe ich bis zu meinem fünften Geburtstag noch ins Bett gemacht beziehungsweise hatte nach unserem Umzug nach Oberursel diesbezüglich einen Rückfall.

Ich war schon als Kind sehr geräuschempfindlich, hielt mir zum Beispiel immer die Ohren zu, wenn ein Zug vorbeifuhr. Außerdem hatte ich einige vokale Stereotypien, das heißt, ich wiederholte bestimmte Wörter oder Sätze, wo es nicht notwendig gewesen wäre. Wenn mir etwas gut gefiel, erkundigte ich mich beispielsweise bei meinen Eltern, ob wir das »immer mal wieder« machen würden und war erst beruhigt, wenn sie meine Frage bejahten. Als ich dann in die Schule kam, ging ich jeden Morgen mit dem an meine Mutter gerichteten Satz aus dem Haus: »Du bist da, wenn ich komme, sonst gehe ich zu Fichtes.« Meine Mutter musste mir dann versichern, dass sie mich verstanden hatte. Die Familie Fichte wohnte auch in unserer Spielstraße, sie hatten zwei Söhne in meinem Alter.

Die folgenden Angaben über meinen Entwicklungsstand und meine Auffälligkeiten habe ich dem Befundbericht der damaligen Psychologin entnommen, der mir vorliegt. Darin schreibt sie, dass sie bei mir eine »extravertierte Erlebnisrichtung« feststellt, was so gar nicht mit meinem rückblickenden Selbsterleben zusammenpasst. Mit Extraversion bezeichnet man eine nach außen gewandte Haltung und Aufgeschlossenheit gegenüber der Umwelt und anderen Menschen, während introvertierte Menschen eher auf sich selbst bezogen und mit ihrem Innenleben beschäftigt sind. Vielleicht zeigte sich dieses Extravertierte in der Untersuchungssituation aber auch nur deshalb, weil ich alleine mit einer erwachsenen Person sprach, die sich mir vermutlich freundlich zuwandte. Im Kontakt mit fremden beziehungsweise mehreren Kindern gleichzeitig (zum Beispiel im Kindergarten oder später in der Schule) verhielt ich mich meiner Erinnerung nach immer eher zurückhaltend, beobachtend und still.

Die Psychologin diagnostizierte außerdem starke Antriebsenergien, die sich noch inadäquat am eigenen Körper abreagieren würden (zum Beispiel Haare drehen), sowie weitere Stereotypien bezüglich des Sammelns und Hortens – ich sammelte unter anderem Bierdeckel, Postkarten, Schlümpfe und benutzte Eisverpackungen. Oftmals sprach ich kindisch und verhielt mich zwanghaft in Bezug auf das Schließen von offenen Schubladen oder ich strich umgelegte Tep­pichecken wieder gerade (das allerdings schon als Kleinkind in München). Mein Selbstbewusstsein war eher gering ausgeprägt, stellte die Psychologin fest.

Auf einem Bild malte ich mich ganz nah bei meiner Mutter und keine anderen Kinder dazu, was interpretiert wurde als nicht mehr ganz altersgemäße Orientierung in Richtung Mutter statt hin zu Gleichaltrigen. Das passt gut, ich glaube, ich war sehr auf meine Mutter bezogen. Erst im Lauf der Grundschuljahre gelang es mir, alleine bei meiner Freundin Martina zu übernachten. Ich hatte abends sonst Heimweh und meine Eltern mussten mich einige Male spätabends wieder abholen kommen.

Von der Psychologin danach gefragt, wen ich am meisten lieben würde, gab ich damals meinen Teddy an, d. h. keine Bezugsperson. Bei einem Test musste ich mehrere Sätze vervollständigen: Traurig und schlimm fand ich es demnach immer, wenn ich alleine zu Hause war – was komisch ist, da ich mich real nicht daran erinnern kann, dass meine Eltern mich je alleine zu Hause gelassen hätten. Auch meine Mutter bestreitet das; eine Ausnahme war höchstens, dass sie manchmal zum Einkaufen ging, wenn ich nachmittags schlief.

Die Psychologin mutmaßte, dass ich insgesamt unter Verlassenheitsgefühlen in der Familie litt und unter entsprechenden Wünschen nach Zuwendung, die eventuell zu stark seien. Den Satzanfang »In meiner Familie bin ich ...« hatte ich folgendermaßen vervollständigt: »... Gast, so wie wenn einer zu Besuch ist.«

Dann sollte ich einen Wunsch angeben, den ich gern erfüllt hätte. Das war für mich ein großer Plüschesel (den ich allerdings schon besaß). Schon als Kind hatte ich eine intensive Beziehung zu meinen Kuscheltieren, die aufgereiht neben mir im Bett schliefen und fast ein Drittel des Bettes einnahmen. Mit Puppen konnte ich nichts anfangen, auch mit Barbiepuppen nicht.

Im Anschluss an die Diagnostik nahm ich an insgesamt 35 Spieltherapiestunden teil, zusammen mit zwei anderen Mädchen in meinem Alter. Besondere Erinnerungen an diese Zeit habe ich jedoch nicht mehr, auch nicht an die anderen beiden Kinder.

Damals malte ich gern. Ich erinnere mich, dass ich in meiner Grundschulzeit immer dann, wenn ich einen Menschen oder ein Tier alleine auf ein Blatt Papier malte, in einer Sprechblase dazuschrieb: »Ich kann zaubern.« Es war mir ganz wichtig, dass das Geschöpf auf dem Papier sich jederzeit einen Gefährten dazuwünschen könnte, damit es nicht ungewollt alleine sein müsste.

In einem Winter meiner Kindergartenzeit baute ich einmal auf einem Feld einen großen Schneemann. Danach wollte meine Mutter mit mir nach Hause gehen. Aber ich war so traurig, weil der Schneemann alleine war. Also baute ich für ihn einen weiteren kleinen Schneemann, damit er Gesellschaft hätte. Dann erst war ich bereit für den Heimweg.

Als Kind bin ich nachts immer zu meinen Eltern ins Bett gekrochen. Meine Mutter erzählte mir, dass sie deswegen oft nicht habe schlafen können. Irgendwann sei sie einmal so erschöpft und ver­ärgert gewesen, dass sie mich weggeschickt und gesagt habe, wenn ich noch einmal käme, ginge sie in ein Hotel. Das muss mich so erschreckt haben, dass ich daraufhin nie wieder zu ihr ins Bett ging. Im Nach­hinein tat meiner Mutter ihr Ausbruch leid, wie ihr überhaupt vieles leidtut aus unserer Kindheit, beispielsweise dass wir nicht miteinander geredet haben und es in unserer Familie nicht heiter und unbeschwert zugegangen ist. Letzteres habe ich persönlich aber gar nicht vermisst. Es wäre nur gut gewesen, wenn sich jemand emotional um mich gekümmert hätte, was nicht der Fall gewesen ist. Das lag sicher an verschiedenen Faktoren. Zum einen kannten es meine Eltern, die beide Kriegskinder waren, auch nicht aus ihren Familien, dass man miteinander redete und emotional für seine Kinder da war – zumindest in der Familie meiner Mutter war das so. Darüber hinaus hat meine Mutter in Bezug auf soziale Interaktionen und ihre Empathiefähigkeit in meinen Augen ebenfalls deutlich autistische Züge und konnte deshalb nur eingeschränkt auf meine emotionalen Bedürfnisse eingehen. In Bezug auf meinen Vater bin ich mir relativ sicher, dass er die Diagnose eines Asperger-Syndroms erhalten hätte, wenn damals die hochfunktionale Diagnostik schon so weit gewesen wäre.

Obwohl ich in einer emotional sehr kargen Familienatmosphäre aufgewachsen bin, waren meine Eltern durchaus bemüht um mich. Das zeigt sich beispielsweise daran, dass meine Mutter mich im Alter von fünf Jahren zu der genannten Psychologin gebracht hat. Außerdem hat sie ein Jahr später einen ausführlichen, zweiseitigen Brief an die Münchner Uniklinik geschrieben und um Rat ersucht: Ich würde mich von mir selbst aus so gut wie nie zu einer Aktivität aufraffen können, sondern die meiste Zeit in der Wohnung herumsitzen oder -liegen. Wenn meine Mutter etwas mit mir machen würde, würde nichts dabei herauskommen, zum Beispiel nur Farbgekritzel. Oft würde die Tätigkeit dann auch bald wieder von mir abgebrochen werden. Sie erlebe mich als sehr antriebsarm, lustlos, passiv und ständig über Müdigkeit klagend. Offensichtlich litt ich damals schon unter einer depressiven Symptomatik, vielleicht als Reaktion auf die Einschulung und meine Schwierigkeiten mit den anderen Kindern. Ich hatte meiner Mutter damals erzählt, dass ich in den Pausen von anderen Kindern oft »gefangen« wurde, was mir große Angst gemacht hat. In den Pausen stand ich viel herum und spielte nicht mit den anderen Kindern, obwohl ich es gerne gewollt hätte.

Mit den Jahren hat sich die depressive Symptomatik wohl von selbst wieder etwas gebessert beziehungsweise ist nicht mehr so deutlich in Erscheinung getreten.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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