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Leidenschaft

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Im Alter von vierzehneinhalb ging ich häufiger im nahe gelegenen Hallenbad zum Schwimmen. Gerne hätte ich bei dieser Gelegenheit auch einmal die Sprunganlage genutzt, aber sie war immer besetzt von den Kunst- und Turmspringern, die dort am Nachmittag trainierten. Irgendwann wurde es mir zu bunt und ich fragte, ob ich mittrainieren könne. Ich durfte und es gefiel mir sehr gut. Es fiel mir auch vergleichsweise leicht, da ich wegen meiner Turnerfahrung bereits über ein gewisses Maß an Körperspannung und Körperkontrolle verfügte.

Fortan ging ich regelmäßig zweimal die Woche zum Springen. Freitags ins Hallenbad, mittwochs in die Turnhalle. Hier gab es innen an einer Seitenmauer eine Vorrichtung, an der man ein Sprungbrett montieren konnte. Von dort aus sprang ich auf eine dicke Matte und übte sozusagen auf dem Trockenen.

Sehr bald intensivierte ich mein Training und nahm an den ersten Wettkämpfen teil. Nach etwa einem Jahr trainierte ich bereits jeden Tag, dazu kamen häufig Lehrgänge am Wochenende. Unser hauptverantwortlicher Trainer hieß Heiko und war der damalige Bundestrainer der Wasserspringer. Viele seiner Schützlinge zählten zu den besten bei den Deutschen Jugendmeisterschaften. Er behandelte seine Springer insgesamt sehr unterschiedlich. Zu einigen war er sehr streng und fasste sie viel härter an als andere. Zu mir war er eigentlich immer freundlich und gutmütig, da hatte ich Glück.

Da ich erst als Jugendliche mit dem Kunstspringen angefangen hatte, trainierte ich aufgrund unseres ähnlichen Leistungsniveaus mit den jüngeren Springern. Mit diesen verstand ich mich ohnehin viel besser. Die älteren unterhielten sich über »Jugendthemen« und interessierten sich für das andere Geschlecht. Damit konnte ich nichts anfangen.

Bei einem Lehrgang schlief ich in einem Dreibettzimmer zusammen mit zwei gleichaltrigen Springerinnen. Am späteren Abend kam einer der älteren Springer zu uns ins Zimmer und schlüpfte zu einer der beiden unter die Decke. Ich erstarrte vor Angst, weil ich dachte, dass die beiden annehmen würden, ich sei schon eingeschlafen. Ich fürchtete, sie würden bemerken, dass ich doch noch wach war, und dann sehr erschrocken oder sogar wütend auf mich sein.

An Weihnachten vor meinem fünfzehnten Geburtstag bekam ich ein Tagebuch geschenkt. Wenn ich nach den Tagebuchnotizen gehe, gewinne ich den Eindruck, dass es mir sowohl in der Zeit mit Jenny als auch in der Anfangszeit des Springens psychisch relativ gut ging. Auffällig ist jedoch, dass ich sehr darauf bedacht war, dort möglichst nichts Negatives zu schreiben. Diese sehr kontrollierte Art des Tagebuchschreibens änderte sich erst mit meinem Auszug von zu Hause. Aus einem Eintrag entnehme ich beispielsweise indirekt, dass das Meerschweinchen Butzilein meiner Schwester gerade gestorben war. Statt darüber zu schreiben und wie es mir und meiner Schwester damit ging, zähle ich im Tagebuch Verhaltensweisen auf, die mir bei der Bewältigung eines solchen Unglücks in Zukunft sinnvoll erscheinen:

1. Keinen Panikausbruch kriegen!

2. Sich klarmachen, dass jedes Tier nicht ewig leben kann.

3. Ruhig gleich in die Stadt gehen und sich ein neues Tier kaufen. Das aber nicht überstürzt in der Aufregung tun, sondern sich das erwählte Tier erst noch einmal näher auf Krankheiten angucken. Wenn möglich zum Züchter gehen.

4. Wenn es geht, das neue Tier aufgrund der Gefahr von Erkältungskrankheiten möglichst nicht im dicksten Winter, sondern eher zu der wärmeren Jahreszeit kaufen.

5. Sich auf jeden Fall nicht »gehenlassen«! Den gewohnten Nachmittagsplan, wenn irgend möglich, beibehalten und auch zur Schule gehen.

Es findet sich ebenfalls kein Eintrag in meinem Tagebuch dazu, dass einige Monate später mein Kaninchen Schnupperle starb. Stattdessen ist zu lesen, dass ich ein neues Kaninchen, Seppelchen, vom Züchter geholt habe und wie sehr ich mich darüber freue.

Ich hatte immer Angst, dass meiner Familie etwas zustoßen könnte. Aus diesem Grund betete ich, obwohl ich eigentlich nicht sonderlich gläubig war, jeden Abend dasselbe: »Lieber Gott, ich danke Dir für den heutigen Tag und ich bitte Dich, mach, dass kein Atomkrieg kommt und kein anderer Krieg und dass heute, morgen, übermorgen und allezeit nichts passiert und dass wir alle noch lange gesund und glücklich leben und mit ein bisschen Geld: Mami, Papi, Birgit und Simone, Butzilein und Schnupperle. Danke, danke, danke, lieber Gott. Amen.« Außerdem schreibe ich in diesem Tagebuch ziemlich genau auf, welche Sprünge ich beim Training gelernt habe und worauf ich bei der Ausführung achten muss. Vom Springen bin ich in dieser Zeit noch total begeistert, von Angst keine Spur. Ich liebte die Körperkontrolle, Spannung und Ästhetik dieses Sports.

Mit sechzehn Jahren fuhr ich mit meiner Mutter und meiner Schwester das erste Mal in meinen Leben so richtig in Urlaub. Diesmal ging es für drei Wochen nach Kreta! Das war toll. Mein Tagebuch ist gefüllt mit detaillierten Schilderungen über unsere Aktivitäten dort.

In Kreta sprach mich an der Strandpromenade ein gleichaltriger Junge an. Ich war völlig erschrocken und hatte Angst, wusste überhaupt nicht, was ich jetzt tun soll. Zu ergänzen ist, dass mein Vater mir immer vermittelt hatte, dass mein Geschlecht nicht weiblich ist, auch nicht männlich, sondern »sportlich«. Das war für mich so etwas wie ein drittes Geschlecht. Mit meiner Weiblichkeit hatte ich mich zu diesem Zeitpunkt also noch gar nicht auseinandergesetzt. Umso mehr fühlte ich mich jetzt überfordert, mit einem Jungen zu sprechen. Aber offensichtlich fingen Mädchen in meinem Alter normalerweise damit an, sich mit Jungen zu treffen, das zeigte ja mein Erlebnis am Strand!

Da ich diesbezüglich noch gar keine Erfahrungen hatte, beschloss ich, dass es nun an der Zeit wäre, sich damit zu beschäftigen. Also nahm ich das Angebot eines anderen jungen Mannes an, der mich am Strand auf eine Cola einlud. Ich verbrachte etwa eineinhalb Stunden mit ihm, in denen ich darauf achtete, dass ich nie mit ihm alleine war, denn das Ganze machte mir doch große Angst. Letzten Endes schwammen wir gemeinsam im Meer, aber nur dort, wo auch andere Menschen waren, und spielten zusammen Beachball. Die Auswertung dieser Erfahrung in meinem Tagebuch erbrachte die Erkenntnis, dass ich:

a) stolz auf mich war, dass ich meine Schüchternheit überwunden hatte und auf den Kontaktversuch eines jungen Mannes eingegangen war (der allerdings, wie ich erfuhr, schon 23 Jahre alt war und rauchte, das fand ich beides nicht so gut);

b) dass ich in Zukunft nicht mehr auf ein x-beliebiges derartiges Kontaktangebot eingehen wollte, sondern nur, wenn der Junge mir auch gefallen würde und in etwa gleichaltrig wäre.

Dieses Erlebnis blieb aber das einzige dieser Art in Kreta. Ich hatte es einmal gewagt und das war fürs Erste genug an Erfahrung.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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