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Schuschisch

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Meine Mutter las meiner Schwester und mir oft aus dem Buch »Urmel aus dem Eis« von Max Kruse vor. Damals war ich zehn oder elf Jahre alt und Simone sechs. In dieser Geschichte gibt es verschiedene Tiere, denen Herr Professor Habakuk Tibatong das Sprechen beigebracht hat, die jeweils einen individuellen Sprachfehler haben. Mir hatte es besonders der Schuhschnabel »Schusch« angetan, der statt eines »i« immer ein »ä« benutzte. Fortan entwickelte ich auf der Basis der Sprechweise des Vogels Schusch die Sprache »Schuschisch«. Meine Mutter liebte es, wenn ich schuschisch sprach, sie fand das ungemein kreativ. Mein Vater konnte damit gar nichts anfangen und lehnte es ab. »Äsch bom dr Wockl Schosch« hieß zum Beispiel »Ich bin der Vogel Schusch«. Ich sprach vor allem dann schuschisch, wenn ich meinen Gefühlen Ausdruck verleihen wollte, was ich in der normalen Sprache nicht konnte. Ich sagte oder schrieb zum Beispiel meiner Mutter auf einen Zettel, dass ich »drouräg« war, was »traurig« bedeutete. Oder ich fragte sie: »Mugscht mäsch?« Das hieß: »Magst du mich?« Leider erkannte meine Mutter bei ihrer Begeisterung für das Schuschische nicht, dass ich mich oft traurig fühlte und eigentlich Zuspruch und Trost von ihr benötigt hätte. Sie war so auf die angebliche Kreativität dieser Sprache versessen, dass sie mein dahinterstehendes Bedürfnis nicht sah. Außerhalb meiner Familie sprach ich niemals Schuschisch, denn es wäre mir peinlich gewesen und hätte mich verletzlich gemacht.

Der Vogel Schusch war, ähnlich wie später das Würzel, meine Ausdrucksmöglichkeit für Bedürfnisse und Gefühle (die ich im Alltag nicht hatte).

Zwischen dem Vogel Schusch, der etwa bis zu meinem fünfzehnten Lebensjahr existierte beziehungsweise in meinem Leben eine Rolle spielte, und dem Würzel, das in meinem 26. Lebensjahr entstand, lagen zeitlich gesehen ungefähr zehn Jahre.

Ab dem fünfzehnten Lebensjahr bis zum Ende meiner Schulzeit war ich die meiste Zeit überzeugt davon, dass ich keine Gefühle hatte. Ich spürte mich nicht, zeigte auch keine Gefühle nach außen. Zudem litt ich in diesen zehn Jahren unter Essstörungen.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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