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Pläne

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Zurück in Deutschland begann mein letztes, dreizehntes Schuljahr. Ich überlegte, was ich nach dem Abitur tun wollte. Viele meiner Mitschüler hatten schon einen Plan für die Zeit danach, anders als ich. Also fing ich an, mich zu informieren, was für mich infrage kommen könnte. Es war völlig klar, dass ich studieren würde (meine Mutter und mein Vater und viele andere Verwandte hatten auch alle studiert) – die Frage war nur: Welches Studienfach? Mit meinen Eltern sprach ich inhaltlich (leider) nicht über diese Fragen, sie aber auch nicht mit mir. Sie schienen die Einstellung zu haben, dass die Studienwahl allein meine Angelegenheit sei – was ich damals ähnlich sah. Ich nahm jedoch das Angebot meines Vaters an, zwei Bücher zum Thema Studienwahl zu bestellen. Außerdem informierte ich mich beim Berufsinformationszentrum in Hannover und ging auch zu einem Berufsberatungsgespräch beim Arbeitsamt. Ich stellte fest, dass ich gerne etwas Naturwissenschaftliches studieren wollte. Infrage kamen Medizin, alternativ der damals recht neue Studiengang Haushalts- und Ernährungswissenschaften (Ökotrophologie) sowie Lebensmittel­chemie. Ich hatte Chemie als Leistungsfach in der Oberstufe, also waren insbesondere die letzten beiden Studiengänge recht naheliegend. Lebensmittelchemie schied aber aus, als ich erfuhr, dass dafür ein Numerus Clausus von 1,3 galt. Das würde ich nicht schaffen. Eine Zeitlang war ich überzeugt, dass Medizin für mich die richtige Wahl wäre, bis ich eine Liste mit Stichpunkten dazu schrieb, die meines Erachtens gegen ein Medizinstudium sprachen:

 Ich habe Angst, dass ich als Ärztin von morgens bis abends nichts anderes mehr tun werde, als zu arbeiten. Ich möchte neben meiner Arbeit auch noch genug Zeit für mich selbst haben.

 Meine Motivation zum Medizinstudium ist nicht in erster Linie, dass ich als Ärztin arbeiten möchte, sondern vor allem mein Interesse an den verschiedenen naturwissenschaftlichen Fächern, die theoretisch den Menschen betreffen. Ich möchte nicht so gerne praktisch am Menschen arbeiten.

 Ich möchte nicht ständig in der Nacht arbeiten müssen und nicht ständig auf Abruf alles stehen und liegen lassen, um zu arbeiten.

 Ich möchte auf alle Fälle die Möglichkeit haben, mein Berufsleben von meinem Privatleben zu trennen, und das ist als Ärztin wahrscheinlich schwierig. Die Ärzte im Krankenhaus leben fast nur noch dort und haben kaum mehr Zeit für ihre Familie.

 Ich möchte an der Möglichkeit arbeiten, wie jeder Mensch sich am besten gesund erhalten kann, und nicht daran, wie die Krankheiten des Menschen am besten kuriert werden können.

 Große Verantwortung für Menschenleben.

 Es würde mir schwerfallen, mich zu Hause oder abends nicht mehr mit bestimmten Patienten und deren Problemen zu befassen. Ich könnte wohl nicht abschalten und hätte Stress.

Aufgrund der diversen Punkte, die gegen ein Medizinstudium sprachen, nahm ich dann doch den Rat meines Chemielehrers an und entschied mich für Ökotrophologie. Warum hatte er mir eigentlich nicht zu einem reinen Chemiestudium geraten? Ich war doch gut in Chemie! Traute er Frauen das nicht zu?

Gegen ein Chemiestudium sprach für mich persönlich damals allerdings auch die Überlegung, dass man als Chemikerin im Labor viel Zeit stehend verbringen müsste. Ich konnte noch nie lange stehen, das strengte mich sehr an, auch schon als Kind. Interessant in Bezug auf die Liste, die gegen ein Medizinstudium sprach, ist, dass ich dann später zwar nicht Medizin studiert habe, aber Psychologie – allerdings ohne das vorher so gründlich zu reflektieren wie meine Entscheidung gegen das Medizinstudium. Und interessant ist auch, dass ich später tatsächlich an der gefühlt (oder tatsächlich?) großen Verantwortung gescheitert bin, die man als Psychotherapeutin für seine Patienten hat. In all meinen Berufsjahren habe ich nicht lernen können, wie man abends nach der Arbeit abschaltet.

Parallel zu diesen Zukunftsüberlegungen beschäftigte ich mich in der Zeit vor dem Abitur damit, wie es für mich mit dem Springen weitergehen sollte. Seit mehr als einem Jahr litt ich nun diesbezüglich unter Ängsten und Schlafstörungen. Nicht zu vergessen die Essstörungen und das Selbstentfremdungserleben. Ich fragte mich zusehends häufiger, warum ich eigentlich noch zum Training ging, da ich mir sicher war, nach dem Abitur ohnehin damit aufhören zu wollen. Ich ging davon aus, dass ich ein Studium in einer anderen Stadt aufnehmen und damit verbunden von zu Hause ausziehen würde. Wenn ich ohnehin bald aufhörte zu trainieren, könnte ich das auch sofort tun! Neben meinen psychischen Symptomen gab es außerdem noch die Schulterverletzung – rückblickend ein deutliches körperliches Signal dafür, dass ich mit dem Wasserspringen endlich aufhören sollte. Ich tat mir dennoch sehr schwer mit dem Abschied von meinem früher so geliebten Sport. Meine Trauer um das Springen erlebte ich wie eine Art Liebeskummer. Mir lag auch viel an den Leuten, sowohl an meinen Trainern als auch meinen Springkameraden. Schweren Herzens, aber auch erleichtert, dass ich nun keine Angst mehr haben musste vor schwierigen Sprüngen, vor meinen Selbstentfremdungserlebnissen und vor der Waage, gelang es mir dann doch noch vor dem Abitur, mit dem Kunst- und Turmspringen aufzuhören.

Später besuchte ich Susanne, meine Springerkameradin, einige Male in Köln. Sie fand, dass ich weiblicher werden müsse, und lieh mir deshalb einen Rock, eine dünne Strumpfhose und Schuhe mit Absätzen für einen Abend im Kabarett aus. Ich war sehr unsicher, wie ich meine Weiblichkeit ausdrücken sollte, also nahm ich ihren Ratschlag an. Später stöckelte ich dann allein zum verabredeten Treffpunkt, aber ich fühlte mich sehr unwohl in den schicken Sachen. Nie mehr wieder habe ich mich so aufgestylt.

Auf die schriftlichen Abiturprüfungen in Chemie, Englisch und Philosophie bereitete ich mich systematisch vor. Inzwischen kannte ich mich auch mit dem Thema Lernstrategien aus. Ich hatte einen sehr interessanten Artikel in einer Zeitschrift darüber gefunden und setzte die dort gewonnenen Erkenntnisse gleich um. Meine Nervosität bei den Prüfungen hielt sich glücklicherweise in Grenzen – schließlich war ich durch meine häufigen Sportwettkämpfe an Prüfungssitua­tionen gewöhnt – aber ich konnte hier auch zusätzlich auf das Autogene Training zurückgreifen, das ich erlernt hatte.

Die Osterferien nutzte ich, um das Schreibmaschineschreiben mit dem 10-Finger-System zu erlernen. Das gehörte für mich zu den Grundkenntnissen, die jeder beherrschen sollte. Das lag wohl daran, dass ich erlebt hatte, wie meine Mutter abends nach der Arbeit regelmäßig die berufsbezogenen handschriftlichen Notizen meines Vaters für ihn abtippte. Dann noch die letzte mündliche Abiturprüfung in Biologie – und fertig war ich mit der Schule.

Angeregt durch eine Jahrgangskameradin kam ich auf die Idee, nach dem Abitur für drei Monate in einem Sommercamp für behinderte Kinder und Jugendliche in den USA als Betreuerin zu arbeiten. Warum habe ich mich für diese Tätigkeit interessiert? Zum einen wollte ich meine Angst vor behinderten Menschen überwinden, die ich damals spürte. In Oberursel hatte es einen alten Mann gegeben, von dem meine Eltern sagten, er sei verrückt. Immer, wenn er mich sah, winkte er mir und rief: »Huhu!« Ich hatte Angst vor diesem Mann und vor behinderten Menschen überhaupt. Außerdem wollte ich weg von zu Hause, da ich die Spannungen in meiner Familie nicht mehr aushielt. Zudem war ich begierig nach neuen Eindrücken und wollte mich in ein völlig neues Erlebnisfeld hineinbegeben. Die USA erschienen mir besonders reizvoll, da ich den Eindruck hatte, die Menschen dort seien sehr kontaktfreudig, extravertiert und positiv gestimmt. Ich dachte: Wenn ich nur genug übe und entsprechende Vorbilder habe, wird es mir schon gelingen, meine Stimmung und Persönlichkeit in diese Richtung zu entwickeln.

Das Camp befand sich im Mittleren Westen der USA, in der Nähe von Indianapolis, Indiana. Es lag mitten in einem großen Waldgebiet, und das Klima war feucht-heiß. Wir wohnten mit fünf Betreuerinnen und etwa acht bis zehn Kindern in jeweils einer größeren Blockhütte. Die Kinder waren zum Teil sehr stark beeinträchtigt, litten beispielsweise unter Cerebraler Lähmung und konnten sich nur mit großer Mühe verständigen. Viele saßen im Rollstuhl und mussten beim Essen gefüttert werden.

Ich kam mit einer jungen Frau aus Holland zusammen im Camp an, nachdem dort schon die Einführungswoche für die Betreuer stattgefunden hatte. Wir wurden also ins kalte Wasser geworfen. Bei meinen Kolleginnen schaute ich mir ab, wie man mit den Kindern umgehen musste und welche Hilfe sie benötigten. Ich war dabei sehr nach außen orientiert, bemüht, ihr (Sozial-)Verhalten zu kopieren. Nach innen fühlte ich überhaupt nicht mehr, sondern wollte mich bewusst von der begeistert-überschwänglichen Atmosphäre im Camp beeinflussen lassen. Auch die Sing- und Rufspiele, die zum Campleben ­dazugehörten, machte ich mit – etwas, was mir eigentlich völlig widerstrebt.

Ich arbeitete sehr hart, gönnte mir kaum eine Pause. Wir hatten nur wenig Rückzugsmöglichkeiten und Zeit für uns, aber das suchte ich damals auch gar nicht. Ich wollte Ablenkung von mir selbst. Mir ging es um mein soziales Engagement und um die Veränderung meiner Persönlichkeit. Denn meine eigentliche, echte Persönlichkeit, die eher nachdenkliche und ernsthafte Züge hat, galt es zu »übermalen«. Obwohl ich einerseits den Lebensstil der Amerikaner schätzte und mich bemühte, ihn zu übernehmen, kritisierte ich andererseits deren Oberflächlichkeit. Das tat ich auch einmal sehr deutlich in einem Artikel, den ich für die Campzeitung geschrieben hatte. Die Campleiterin entschied jedoch, dass dieser Artikel nicht gedruckt wurde, was mich damals sehr verärgerte und mich in meiner Auffassung bestärkte, dass man in den USA nicht wirklich seine Meinung sagen darf. In meinem Zeugnis über die Tätigkeit als Betreuerin formulierte die Campleiterin unter anderem folgenden Text:

(...) Working in the United States, for many of our international staff is an adjustment. Cultural differences are at times difficult to comprehend and fully understand. Birgit has had to adjust to some of those differences. She voiced, however, those differences that she did not understand or with which she did not agree. She is very open in with what she believes and will stand firm in what she believes is right. She is a very strong willed individual (...)

Übersetzt bedeutet das Folgendes: In den USA zu arbeiten, bedeutet für viele unserer internationalen Teilnehmer, sich anpassen zu müssen. Kulturelle Unterschiede sind für die Betreffenden manchmal schwierig zu verstehen. Birgit musste sich an manche dieser Unterschiede anpassen. Sie machte jedoch deutlich auf die Unterschiede aufmerksam, die sie nicht verstand oder mit denen sie nicht einverstanden war. Sie ist sehr offen in ihrer Meinungsäußerung und tritt stark für das ein, was sie für richtig hält. Sie hat einen starken Willen.

Meiner heutigen Auffassung nach wurden meine sozialen Schwierigkeiten in den USA damit sehr freundlich umschrieben und darauf zurückgeführt, dass ich aus Deutschland kam, das heißt kulturellen Unterschieden zugeschrieben. Ich glaube jedoch, dass diese Ursachenzuschreibung meine eigentlichen, autistisch begründeten Schwierigkeiten verdeckte, die ich generell in sozialen Zusammenhängen hatte.

Im Anschluss an den Campaufenthalt reiste ich durch Amerika, ließ mich treiben von der belebenden Atmosphäre, auf die ich in den dortigen Jugendherbergen gestoßen war. Unkompliziert schloss man hier Bekanntschaften mit den jungen Reisenden aus der ganzen Welt und verbrachte die Tage miteinander oder fuhr gemeinsam zum nächsten Highlight an einem anderen Ort.

Zurück in Deutschland erfuhr ich, dass ich ab dem Herbst einen Studienplatz für Ökotrophologie in Gießen bekommen hatte. Ich packte meinen Rucksack und fuhr in meine ehemalige hessische Heimat, übernachtete dort in der Jugendherberge und machte mich auf Zimmersuche.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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