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Grenzen

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Zurück in Deutschland, fing ich wieder mit dem Training in Wasserspringen an. Im Oktober, ich war damals sechzehneinhalb, bekam ich beim Training einen Weinkrampf. Ein älterer Springer hatte mich wiederholt kritisiert, als ich versuchte, zweieinhalb Salto vorwärts vom Drei-Meter-Brett zu lernen beziehungsweise Vorübungen dafür machte – mich, die ich so selbstkritisch war! Das hat mich total verletzt. Eine ältere Springerin, Susanne, setzte sich daraufhin neben mich, legte mir den Arm um die Schulter und streichelte mich am Kopf. Das kannte ich gar nicht, dass jemand einen so tröstet.

Meine Mitspringer sowie meine Trainer waren für mich die Menschen, bei denen ich mir in sozialer Hinsicht sehr viel abschaute. Meine Beobachtungen dazu finden sich in meinem Tagebuch wieder. Ich war dabei bemüht, über die Beobachtung ihres Verhaltens ihre Persönlichkeit zu ergründen. Dabei finden sich auch Auflistungen darüber, wen ich mochte und warum. Die Springer waren die Menschen, mit denen ich am meisten Zeit verbrachte und mit denen mich das große gemeinsame Interesse des Wasserspringens verband.

Meine Tage bestanden aus Schule, Hausaufgaben und Springen. Wenn ich abends gegen 21 Uhr vom Training zurückkam, stand das Abendessen noch auf dem Tisch, und meine Mutter setzte sich meistens zu mir. Das Wasserspringen bedeutete mir sehr viel und die Menschen dort waren wie eine richtige Familie für mich. Zumal die Eltern der anderen Springer oft in dem zum Schwimmbad gehörigen Café saßen und uns durch die trennende Glasfront beim Training zusahen. Wenn man dort hinkam, gab man erst einmal allen der Reihe nach die Hand. Ich akzeptierte das Händeschütteln als Ritual, und deshalb war es okay für mich. Meine Eltern kamen nie zum Zuschauen vorbei. Ich hatte es ihnen verboten, und sie hielten sich ohne weiteres Nachfragen daran. Es hätte mich total verunsichert. Ich fürchtete ihre Bewertung meiner Sprünge (Kritik ebenso wie Bewunderung) und hielt sie deshalb vom Wasserspringen gänzlich fern.

Nur wenige Tage nach meinem Weinanfall kugelte ich mir beim kopfwärts Eintauchen vom Turm das linke Schultergelenk aus. Heiko kugelte mir den Arm glücklicherweise gleich wieder ein. Auf dem Heimweg brachte er mich ins örtliche Krankenhaus zum Röntgen. Der Arzt gab mir für ein paar Tage ein Schmerzmittel mit. Als es aufgebraucht war, hatte ich außerordentliche Schmerzen, vor allem nachts, wenn sich die Schulter entspannte. Auf die Idee, deshalb noch mehr Schmerzmittel zu nehmen, kam ich jedoch nicht, sprach auch mit niemandem darüber. Ich dachte: »Die Tabletten sind alle, dann muss das wohl so sein.«

Am Tag nach dem Unfall ging ich mit dem Arm in der Schlinge zur Schule. Die Schulter tat sehr weh, aber ich nahm das alles als gegeben hin. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, deshalb nicht zur Schule zu gehen. Nach einer Woche kam die Schlinge ab und die Schulter war komplett versteift. Also musste ich regelmäßig zur Physiotherapie und die Schulter wurde gedehnt und gekräftigt. Mehrere Wochen konnte ich nicht am Training teilnehmen. Stattdessen machte ich exzessiv meine krankengymnastischen Übungen und ging öfter ins Schwimmbad-Café, um den anderen beim Training zuzusehen und bei meiner »Springer-Familie« zu sein. Nach einigen Monaten begann ich wieder mit dem Trainieren. Immer wieder hatte ich Angst, dass ich mir erneut die Schulter auskugeln würde. Also nahm ich mir in meiner Zielorientiertheit einfach Folgendes vor und notierte es in meinem Tagebuch als eine Art Mantra:

Ich werde mir nie mehr den Arm auskugeln, sondern weiter jede Menge Krafttraining machen, genauso wie Bauchmuskelübungen wegen meiner Rückenschmerzen. Und das sage ich dir: Meine Rückenschmerzen werden weggehen und nicht mehr wiederkommen, auch während des nächsten Lehrgangs nicht! Und ich werde den nächsten Lehrgang voll normal und gut mitmachen, ohne dass mir irgendwas wehtut oder ich erkältet bin oder irgendwas Derartiges!!! Und dasselbe gilt für die Deutschen Jugendmeisterschaften!!! Alle beide in diesem Jahr und auch für die folgenden Jahre!!!

Sozialkontakte hatte ich in dieser Zeit einerseits über das Springen, andererseits aber auch mit ein paar Mitschülerinnen, in deren Gemeinschaft ich sogar die Pausen in der Schule verbringen konnte. Was für ein Glück für mich! Gelegentlich trafen wir uns abends zum Kino oder zu anderen gemeinsamen Unternehmungen. Einmal wöchentlich gab ich außerdem einer jüngeren Schülerin Nachhilfe in Englisch und Mathematik und verdiente mir damit ein bisschen zusätzliches Geld. Nach der Schulterluxation begann ich nun wieder, nicht nur vom Einer, sondern auch vom Dreier zu springen. Sehr gerne mochte ich den Doppelsalto gehockt vom Einer. Ich sprang ihn hoch an, drehte schnell und streckte trotz geschlossener Augen immer zum rechten Zeitpunkt. Ich hatte nie Probleme mit der Orientierung bei diesem Sprung, sondern fühlte einfach, wenn die Doppeldrehung geschafft war. Erst einmal ging es mir also ziemlich gut. Nach einiger Zeit geriet ich jedoch in große Schwierigkeiten.

Diesen Text über meine Jugend zu schreiben, kommt mir am schwierigsten vor. Das liegt daran, dass große Diskrepanzen bestehen zwischen meinen Erinnerungen einerseits und dem, was ich andererseits in meinen beiden Tagebüchern lese. Ich erinnere mich vor allem an psychische Zustände, die ich offenbar nicht mit meinem Tagebuch geteilt habe. Ich schätze, ich wollte sie dort nicht verewigen, sondern dachte, wenn ich sie nicht weiter beachte, gehen sie vielleicht von selbst wieder weg. Was aber nicht der Fall war.

Beim Springen hatte ich seit Neuestem oftmals Angst. Wenn ich Angst vor einem bestimmten Sprung hatte, spürte ich, wie mein Körper sich bewegte, aber ich war nicht mehr da. Es fühlte sich an, als ob mein Körper sich ferngesteuert von mir bewegen würde und ich mit dem Sprung gar nichts zu tun hätte. Das war immer ein sehr erschreckendes Gefühl, als ob ich nicht mehr die Kontrolle über meinen Körper hätte oder nicht mehr in meinem Körper wäre. Wie ich später erfuhr, nennt man diesen Zustand Depersonalisation.

Phasenweise litt ich unter Schlafstörungen, schreckte nachts hoch und ging immer wieder in einer Art von zwanghaften Gedanken beziehungsweise Bildern und Körpergefühlen den Doppelsalto vorwärts durch, bei dem ich irgendwann ganz plötzlich die Orientierung verloren hatte. Ich hatte zu viel nachgedacht über diesen Sprung. Das war so, als ob ein Tausendfüßler beginnt, darüber nachzudenken, wie er es eigentlich schafft, die Bewegung seiner vielen Beine miteinander zu koordinieren – und plötzlich verknoten sich daraufhin seine Beine, weil er versucht, eine unbewusst gut funktionierende Bewegung bewusst zu steuern. Ich fing an mich zu fragen, woher ich eigentlich wusste, wann die beiden Drehungen beim Doppelsalto vorwärts geschafft waren, wenn ich immer die Augen geschlossen hatte. Unser Trainer sagte uns schließlich, dass wir die Augen beim Springen stets offen haben sollten, um die Körperdrehungen mit dem Blick aktiv kontrollieren zu können. Als ich das jedoch versuchte, klappte gar nichts mehr. Ich wusste im Flug überhaupt nicht mehr, wo ich war. Dazu kam, dass ich seit einiger Zeit den Schraubensalto vorwärts übte, das heißt, den Salto vorwärts mit einer ganzen Schraube vom Ein-­Meter-Brett beziehungsweise eineinhalb Salto vorwärts mit einer Schraube vom Drei-Meter-Brett. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie man einen Vorwärtssalto ohne eine zusätzliche Schraubendrehung sprang. Ich hatte das Gefühl dafür komplett verloren. Sehr beeinträchtigend war zudem, dass ich mich nur bei unserem Trainer Heiko sicher fühlte, aber oft bei anderen trainieren musste. Wenn Heiko neben mir stand, hatte ich das Gefühl, er würde mir sein ganzes Vertrauen und die Fähigkeiten dazu einflößen, meine Sprünge gut zu bewältigen. Ich fühlte mich wie abhängig davon, bei ihm zu trainieren, als ob er allein über die Kraft verfügte, mich gut springen zu lassen. Alleine hätte ich mich zum Beispiel nie getraut, meine Sprünge zu trainieren, davor hatte ich viel zu große Angst. Bei meinen anderen Trainern hatte ich dieses positive, unterstützende Gefühl deutlich weniger ausgeprägt. Ich benötigte die Anwesenheit und ungeteilte Aufmerksamkeit von Heiko, damit ich überhaupt mit dem notwendigen Vertrauen in meine Fähigkeiten meine Sprünge absolvieren konnte.

Im Philosophieunterricht hatten wir für ein Halbjahr das Thema »Zeit« im Unterricht. Das beschäftigte mich sehr. Wenn ich zu Hause war und Angst vor dem nächsten Training hatte, dachte ich oft darüber nach, dass ich zum Beispiel in sechs Stunden Springtraining gehabt haben würde. Dann wäre die Zeit vergangen, und ich hätte es geschafft.

Vor jedem Training erhielten wir von Heiko einen Plan, was wir an diesem Tag trainieren sollten. Wenn ich meine Serie sah, die ich springen sollte, hatte ich große Angst. Gleichzeitig wusste ich, dass ich sie bald gesprungen haben würde. In dieser Zeit litt ich sehr stark unter den genannten Selbstentfremdungsgefühlen beim Springen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass es in meiner Macht liegt, die Sprünge zu steuern, sondern dass mein Körper das irgendwie alleine ohne mich hinbekommen muss.

Kürzlich schaute ich abends einen Livestream der Trampolin-Wettkämpfe der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016. Der Reporter unterhielt sich mit einem Fachmann und plötzlich fiel der Ausdruck »Lost move syndrome (LMS)«. Ich wurde hellhörig und recherchierte im Internet, was damit gemeint war. Dort stieß ich auf einen Fachartikel aus dem Jahr 2015 von Jenn Bennett und anderen Forschern über LMS. Es tritt demzufolge vorzugsweise bei Sportlern aus dem artistischen Formenkreis (Kunstturnen, Wasserspringen, Trampolinspringen) auf. Ganz plötzlich verlieren erfahrene Sportler die Fähigkeit, ein bestimmtes automatisiertes Bewegungsmuster auszuführen, zum Beispiel eine Salto- oder Schraubendrehung. Diese Unfähigkeit hat emotionale, kognitive und andere schwerwiegende Folgen. Der Betroffene hat eine ausgeprägte Angst vor der Übungssequenz, auch Ärger, Frustration und Ohnmachtsgefühle kommen vor. Er kann sich im Geist nicht mehr vorstellen, wie man zum Beispiel einen bestimmten Sprung absolviert. Wenn er daran denkt, visualisiert er nur missglückte Sprünge. Beschrieben wird auch das Gefühl, dass jemand anderes als man selbst die Kontrolle über den Sprung hat. Zudem haben die Betroffenen kein Gefühl mehr für die Lage des eigenen Körpers im Raum. Negative Gedanken kreisen im Kopf und können zu Schlafstörungen führen. Der erlebte Vertrauensverlust in sich selbst kann ausgeprägte Selbstzweifel zur Folge haben. Viele betroffene ­Athleten müssen ihren Sport deswegen aufgeben.

All das kam mir so bekannt vor! Zum ersten Mal nach fast dreißig Jahren fand ich in diesem Artikel eine Beschreibung der Zustände, die ich selbst so schmerzlich und angstvoll beim Wasserspringen erlebt hatte. Das kannten also auch andere. Und es gab sogar eine Bezeichnung dafür!

Als ich siebzehn Jahre alt war, bekam unsere Springergruppe für mehrere Wochen Besuch von Springern aus den USA. Mit diesen zusammen fuhren wir zu einem Lehrgang nach Italien. Trotz meiner Ängste, meiner Schwierigkeiten bezüglich der Orientierung im Raum und meiner wiederkehrenden Depersonalisationserlebnisse trainierte ich – mal besser mal schlechter – weiter meine Sprünge.

Wir sprangen im Freibad von Villafranca in Lunigiana in der Toskana, besichtigten aber auch den schiefen Turm von Pisa und die Marmorsteinbrüche von Carrara. In dieser Zeit in Italien war ich teilweise sehr aufgekratzt und gab mich kontaktfreudig und extravertiert. Aus meiner heutigen Sicht befand ich mich damals sehr in meinem »falschen Selbst« – ein Ausdruck, den Alice Miller in ihrem Buch »Das Drama des begabten Kindes« beschreibt. Für mich bedeutete das: Meine Mutter hatte mir immer gesagt, dass es wichtig sei, dass man lustig und fröhlich sei und die anderen Menschen durch interessante Erzählungen mitreißen und dadurch Interesse für sich wecken müsse. Das tat ich nun in Italien. Kurz danach fuhr ich mit meinen Eltern und meiner Schwester für drei Wochen nach Österreich zum Wandern. Während des Urlaubs gab es regelmäßig Streit in der Familie. Ich war gereizt und dachte häufig ängstlich an meine Sprünge beim Training. Im Freibad unseres Urlaubsorts übte ich gelegentlich Salto vorwärts vom Beckenrand. Ich hatte Angst, dass ich das Gefühl für das Springen noch mehr verlieren würde, als es ohnehin schon der Fall war, wenn ich jetzt nicht dranblieb mit Üben. Meine Unbeschwertheit war komplett verschwunden. Während ich den Kreta-Urlaub im Jahr zuvor noch sehr genossen hatte, ging es mir inzwischen psychisch deutlich schlechter.

An einem Tag ging ich alleine auf einen Flohmarkt und fand dort zufällig ein Buch über Schizophrenie. Ich hatte Angst, es zu kaufen, fürchtete, dass mich jemand dabei entdecken könnte, den ich kannte. Schließlich kaufte ich es trotzdem. Tief in meinem Inneren war ich überzeugt, dass ich psychisch sehr krank war, aber meine Umwelt erfolgreich darüber hinwegtäuschte. Dieses Buch habe ich jedoch nie gelesen. Da ich keine Erklärungen für meine Entfremdungsgefühle hatte, befürchtete ich, an Schizophrenie zu leiden. Ich hatte solche Angst davor, mich in den Schilderungen des Buches wiederzuerkennen und meinen Verdacht bestätigt zu sehen!

In der Schule hatte ich schon lange das Gefühl, jeden Tag auf extrem anstrengende Art und Weise neu beginnen zu müssen, ohne auf meine bisherigen sozialen Fähigkeiten zurückgreifen zu können. Wenn ich in der ersten Stunde im Unterricht saß, fühlte es sich so an, als ob es eine unsichtbare Mauer zwischen mir auf der einen Seite und den anderen Schülern und dem Lehrer auf der anderen Seite gäbe. Meine Sprache war in meinem Körper gefangen, ich konnte sie nicht herauslassen, denn sie wäre an dieser Mauer nach innen auf mich zurückgeworfen worden, ohne dass die anderen Menschen meine Worte hätten hören können. Trotzdem zwang ich mich täglich zum Sprechen im Unterricht, da ich auch mündlich die Noten haben wollte, die meinem schulischen Leistungsstand entsprachen. Die ersten Worte, die ich mich dann jeden neuen Tag im Unterricht sagen hörte, fühlten sich immer völlig selbstentfremdet an. Ich hörte mich selbst wie von außen, hatte dabei nicht das Gefühl, dass die Worte aus meinem eigenen Körper kamen. Mithilfe dieser ersten Sätze, die ich unter jeweils großer Kraftanstrengung aus mir herausbrachte, gelang es mir jedoch, die unsichtbare Mauer immer wieder zu durchbrechen. In den folgenden Stunden konnte ich mich im Unterricht mündlich beteiligen und war zuweilen sogar recht redselig – bis zum nächsten Tag, da ging alles wieder von vorne los.

Der siebzehnte Geburtstag war der schlimmste überhaupt. Ich wusste nicht, wen ich einladen sollte, denn innerhalb der Springergruppe feierte man nicht zusammen Geburtstag. Gleichzeitig dachte ich, dass ich das endlich einmal tun sollte, und lud deshalb meine ganze Klasse zu mir ein. Es kam aber nur ein Junge. Ich schämte mich entsetzlich und versuchte gleichzeitig, mir das nicht anmerken zu lassen – zeig niemals, dass du verletzlich bist!

Ich erinnere mich auch, dass ich in meiner Jugendzeit darauf hoffte, bald mein eigenes Leben zu beginnen, um dann endlich eine Psychotherapie machen zu können. Während ich noch zu Hause wohnte, kam das für mich nicht infrage, denn dann hätte ich vor meinen Eltern zugeben müssen, dass es mir nicht gut ging, und ihr Bild ihrer kompetenten Tochter wäre zusammengebrochen.

In unserer Familie herrschte vor allem bezogen auf die Bewertung durch meine Mutter eine Art Rollenverteilung. Ich war in ihren Augen diejenige, bei der alles glattlief, die mit dem Leben und der Schule bestens und ohne jegliche Hilfestellung zurechtkam. Meine Schwester wurde von meiner Mutter konstant als »Problemkind« betrachtet, was ich nicht nachvollziehen konnte. Oftmals wehrte ich mich gegen diese Zuschreibungen, aber es hatte keinen Zweck. Ich blieb festgelegt auf diese hochfunktionale Rolle, in der ich mich nicht wiederfand und nicht in meiner wahren Persönlichkeit gesehen fühlte. Ich wusste, dass ich Hilfe benötigte, aber ich kam nicht auf die Idee, sie in der Gegenwart zu suchen, d. h. mir aktuell ein professionelles Gegenüber zum Reden zu suchen. Ich wagte auch nicht, mit anderen über diese bedrohlichen Themen zu sprechen. Sie mussten mich für völlig verrückt halten, wenn sie davon erfahren würden. Ich hatte Angst vor der Psychiatrie und davor, einem professionellen Helfer gegenüberzusitzen, der dann sehen würde, wie extrem krank ich wirklich war, und der mich dann vielleicht in die Psychiatrie einweisen würde. Zudem dachte ich: Wenn ich erzähle, wie es mir wirklich geht, werde ich völlig verrückt. Indem ich diese bedrohlichen Gefühle und Gedanken für mich behielt, hatte ich sie einigermaßen unter Kontrolle. Solange ich sie nicht aussprach oder aufschrieb, existierten sie nicht.

Dann gab es da noch dieses Problem mit dem Essen. Angefangen hatte es beim Springlehrgang in Italien und im darauffolgenden Urlaub mit meinen Eltern. Ein Faktor bei der Entstehung meiner Ess­störungen war vermutlich das regelmäßige Wiegen beim Training und entsprechendes Lob beziehungsweise entsprechende Kritik durch unseren Trainer. Ich fing an, mein Essen zu kontrollieren, es mit dem Kopf zu steuern. Wenig zu essen und gesunde Nahrungsmittel zu sich zu nehmen, war gut. Viel und Ungesundes zu essen, war schlecht. Wenn mein Vater als Nachtisch nach dem Mittagessen einen Fruchtquark zubereitet hatte, fragte ich ihn immer, ob er Zucker hineingetan hatte. War nur ein Hauch Zucker darin, verweigerte ich den Nachtisch. Mein Ziel war nicht unbedingt, viele Kilos abzunehmen, sondern nur ein bisschen. Ich wollte durchaus meinen athletischen Körper behalten, wie er war. Gleichzeitig beschäftigte ich mich, angeregt von meiner Mutter, mit gesunder Ernährung und der Schädlichkeit von Zucker. Meine Gedanken kreisten derartig zwanghaft um meine Nahrungsaufnahme, dass ich an manchen Tagen in der Schule Mühe hatte, dem Unterrichtsstoff zu folgen. Ständig überlegte ich, was ich wann essen würde und wie viel ich heute schon gegessen hatte. Ich war völlig fixiert auf dieses Thema. Dabei wollte ich meinem Körper nicht schaden, es war nicht so, dass ich ihn gehasst hätte. Außer wenn ich zu viel gegessen hatte – eine Folge meiner manchmal zu geringen und rationierten Nahrungsaufnahme. Es konnte schon vorkommen, dass ich bei einem Fressanfall doppelt oder dreimal so viel aß, wie mir guttat, und mich danach extrem schlecht, dick und unbeherrscht fühlte. Das passierte regelmäßig am Abend nach dem Training sowie am Wochenende, wenn ich nach einem Wettkampf oder Lehrgang nach Hause kam und nichts vorhatte. Ich reagierte auf solche Essattacken mit Selbstabwertung und extremer Enttäuschung über mich selbst sowie mit dem Versuch, erst wieder Essen zu mir zu nehmen, wenn mir der Magen knurrte. Glücklicherweise habe ich mir niemals nach dem Essen den Finger in den Hals gesteckt und mich wieder erbrochen und auch nie zu Abführmitteln gegriffen.

In meinem Tagebuch analysierte ich, siebzehnjährig, meine Ess­attacken. Ich fand heraus, dass sie immer dann auftraten, wenn ich negativ gestimmt war. Entsprechend war meine Schlussfolgerung, dass ich darauf achten müsste, immer positiv gestimmt zu sein. Gemäß der Sichtweise meiner Mutter, die ich schon längst übernommen hatte, handelte es sich bei der eigenen Stimmung ja um etwas, was man willentlich beeinflussen konnte. Es war eine Frage des Wollens, ob man gut oder schlecht gelaunt war! Damit meine Stimmung positiv und ich voller Selbstvertrauen wäre, müsste ich einfach dauerhaft ein positives Bild von mir haben und positiv von mir selbst denken. Nur wenn ich über ein positives Selbstbild verfügte, konnte ich kontrolliert essen, also musste ich zuerst dieses positive Selbstbild entwickeln. Aber wie konnte ich das schaffen?

In einer Buchhandlung fand ich ein esoterisches Buch über kreatives Visualisieren und das »Höhere Selbst«, das in jedem Menschen verborgen ist und zu dem man nur Zugang finden muss. Ich las und schrieb Sätze auf wie zum Beispiel: »Das Gute ist in mir. Ich bin voller positiver Kraft und Energie, Ruhe und Gelassenheit.« Oder: »Das Licht meines Höheren Selbst strahlt jetzt in mir.« Ich versuchte, mir diese Sätze bildlich vorzustellen und an sie zu glauben. Im Grunde ging es bei diesen Affirmationen um die Macht des Positiven Denkens, der ich damals folgen wollte. Heute sehe ich das sehr kritisch. Damals kaufte ich mir jedoch eine Kassette mit dem Titel: »Ich kann, was ich will«. Über mehrere Wochen hörte ich sie mir täglich an. Danach glaubte ich tatsächlich fest daran – und das über die nächsten zwei Jahrzehnte –, dass ich alles können würde, wenn ich es nur fest genug wollte. Ein fataler Trugschluss, wie sich aber erst nach vielen Jahren herausstellte.

Einmal hörte ich diese Kassette zusammen mit meiner Mutter an. Dazu legten wir uns auf Decken auf den Boden, und ich sagte ihr, sie solle sich ganz auf den Text einlassen. Nach dem Hören fragte ich sie, wie sie es empfunden habe. Leider konnte sie damit überhaupt nichts anfangen. Sie sprach aber auch nicht weiter mit mir darüber, fragte mich nicht, warum ich mich mit derartigen Sachen beschäftigte. Also machte ich fortan alleine weiter. Mit anderen Menschen sprach ich niemals über meine Versuche, mittels Suggestionen mein Selbstvertrauen zu steigern. Ich kam gar nicht auf die Idee, dass ich das hätte tun können.

Auch das Autogene Training, ein anerkanntes Entspannungsverfahren, arbeitet mit der Macht von körperbezogenen Vorstellungen. Man sagt sich zum Beispiel: »Meine Arme und Beine sind strömend warm«, auch wenn das gerade gar nicht der Fall ist. Tatsächlich werden die Arme und Beine durch diese Vorstellungsübung auch wirklich warm, wenn man in dieser Technik geübt ist.

Ich glaubte an die Macht dieser Vorstellungsübungen und belegte zu Beginn meines dreizehnten Schuljahrs einen Kurs in Autogenem Training an der Volkshochschule. Ich wollte mich mit dieser Methode auf den Prüfungsstress des Abiturs vorbereiten. Ich war die Jüngste in dieser Gruppe und schrieb Martina in einem Brief, dass die anderen Leute ja »wirkliche Probleme« hätten, anders als ich. Offensichtlich hatte ich meine Schwierigkeiten mit dem Essen und meine Angst vor dem Springen dabei völlig ausgeblendet, weil ich auch mit niemandem darüber sprach. Wenn meine Gedanken einmal nicht ums Essen kreisten, waren sie auf die Sprünge fixiert, vor denen ich Angst hatte.

Kurz vor meinem achtzehnten Geburtstag passierte es, dass ich bei einem neuen Sprung gestreckt mit dem Rücken auf die Wasseroberfläche knallte. Ein Gefühl wie ein Elektroschock ging durch meinen Körper, irgendwie mussten meine Nerven verrückt gespielt haben, und es tat sehr weh. Kurz nachdem ich aus dem Wasser geklettert war, zitterten meine Beine und konnten mich kaum mehr tragen. Ich schwamm noch ein paar Bahnen im Becken, übte ein paar einfache Sprünge und beendete dann das Training für diesen Tag. Bei einem Wettkampf wenige Tage später verweigerte ich diesen Sprung, ich traute mich einfach nicht. Umso erstaunter war ich, in meinem damaligen Tagebuch zu lesen, dass ich auch nach diesem Unfall eigentlich gar keine so große Angst vor dem Sprung hatte. Ich müsse nur einfach volle Pulle abspringen. Ich glaube, ich habe damals nach dem Motto gehandelt: Was ich nicht aufschreibe, existiert nicht. Wenn ich nicht von meiner großen Angst vor diesem Sprung schreibe, habe ich auch keine.

Einmal war ich mit meiner Familie bei einer eigentlich sehr schönen Ballettaufführung von »Schwanensee« – ich bekam nur leider kaum etwas davon mit, weil meine Aufmerksamkeit nach innen auf meine Angstvorstellungen gerichtet war. Es gelang mir nicht, sie nach außen zu richten. Damit habe ich bei Theatervorstellungen oder Konzerten noch heute oft Probleme. An diesem Tag jedoch hatte ich wie so oft große Angst vor dem nächsten Training und versuchte diese mittels gedanklicher Vorübungen in Schach zu halten, anstatt mit jemandem über meine Ängste zu sprechen. In dieser Zeit kam meine Mutter zu mir und erzählte, Heiko hätte sie gefragt, ob es mir nicht gut gehen würde, ich würde in der letzten Zeit nicht gut aussehen. Sie habe ihm daraufhin sofort geantwortet, mit mir sei nichts, es gehe mir gut. Das ist schon seltsam: Mein Trainer sah mir an, dass ich litt, und er hatte recht – während meine Mutter, die kaum etwas von meinem Befinden wusste, trotzdem einfach behauptete, es gehe mir gut. Ich klärte sie nicht auf, denn sie hatte mich nicht nach meinem Befinden gefragt, sondern mir nur von dieser Begebenheit berichtet.

Zu Hause litt ich sehr unter der angespannten Atmosphäre in unserer Familie. Ich erlebte sie als zerpflückt und zerstritten. Meine Mutter lud seit Jahren ihre Sorgen und Eheprobleme bei mir ab. Sie schätzte meine Fähigkeit, ihr zuzuhören und gut zuzureden. Nur für mich und meine Probleme war niemand da. Ich machte alles mit mir alleine aus, weil ich den Eindruck hatte, meine Mutter benötigte die Gewissheit, dass wenigstens ich mit allen Anforderungen zurechtkam. Ich war gut in der Schule, war im Leistungssport eingebunden und gab außerdem Nachhilfe. Meine Mutter bewunderte mich als Kind und Jugendliche immer sehr, da ich in ihren Augen sehr patent war und ihr sogar Tipps gab, wie sie sich verhalten solle. Diese Bewunderung war mir immer unangenehm, da ich sie nicht als zutreffend empfand und mich von ihr darin überhaupt nicht gesehen fühlte.

Von meinen Ängsten und psychischen Problemen ahnte meine Mutter nichts. Das lag sicher zum Teil daran, dass ich sie ihr gegenüber nicht offen zeigte. Aber wie sollte ich das auch? Schließlich traute ich mich nicht, sie noch zusätzlich mit meinen Problemen zu belasten. Auf meinen Vater reagierte ich damals vor allem mit heftiger Wut und Abwertung seiner Person, übernahm dabei die Perspektive meiner Mutter, die seit Jahren sehr schlecht auf ihn zu sprechen war. Denn wegen ihm und seiner Berufsperspektive waren wir vor einigen Jahren nach Norddeutschland gezogen, wohin meine Mutter ihren Angaben zufolge nie hatte ziehen wollen. Leider hatten sich die beruflichen Möglichkeiten meines Vaters schnell zerschlagen, während meine Mutter inzwischen mit einer sehr ungeliebten Sekretariatstätigkeit für die Familie das Geld verdiente.

Anders als in den Fachartikeln zu LMS beschrieben, war es bei mir nicht so, dass ich gar nicht mehr springen konnte. Mit großem Kraftaufwand und vielen Autosuggestionen schaffte ich es mit der Zeit, meine Ängste vor dem Springen einigermaßen unter Kontrolle zu halten, zumindest so weit, dass ich weiter springen konnte. Denn trotz meiner Ängste bedeutete mir das weiterhin sehr viel.

Bei den Deutschen Jugendmeisterschaften im März 1989 in Köln stand ich vor dem ersten Sprung auf dem Sieben-Meter-Turm. Eine Stimme ertönte durchs Mikrofon: Einer der Kampfrichter gratulierte mir zum achtzehnten Geburtstag. Ich verbrachte ihn bei einem Wettkampf, das war eigentlich sehr passend für mein damaliges Leben. Vor den Deutschen Jugendmeisterschaften im folgenden Sommer in Lüdenscheid war ich springtechnisch sogar in einer sehr guten Form. Beim letzten Sprung meines ersten Wettkampfes kugelte ich mir jedoch wieder das linke Schultergelenk aus. Bei den Wettkämpfen der anderen Springer schaute ich in den folgenden Tagen zu, springen konnte ich selbst leider nicht mehr. Ich war demoralisiert: Jetzt war mir das schon zum zweiten Mal passiert! Je häufiger eine Luxation vorkommt, desto leichter passiert dasselbe wieder, auch ohne größere Gewalteinwirkung. Heiko redete mir gut zu und sagte: »Das wird schon wieder!« Ich erfuhr, dass man sich auch operieren lassen und danach wieder springen könne.

Kurz danach traten zwei unserer Trainer mit sechs von uns Springern eine lang geplante Reise in die USA an, es war der Rückbesuch der Springer, die uns ein Jahr zuvor in Deutschland besucht hatten. Innerhalb von vier Wochen wohnten wir jeweils bei drei verschiedenen Gastfamilien in Pennsylvania und Virginia. Wir trainierten dort regelmäßig, lernten aber auch verschiedene touristische Attraktionen kennen und verbrachten gemeinsame Zeit mit unseren Gasteltern beim Barbecue. Natürlich konnte ich mit meiner Schulterverletzung nicht richtig mitmachen. Ich übte einfache Sprünge, bei denen man nicht kopfwärts tauchen musste, oder machte Krafttraining. Diese Reise in die USA war rundum gelungen und ein tolles Erlebnis! Ess­störungen hatte ich aber auch in dieser Zeit.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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