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Vorwort von PD Dr. Dr. Andreas Riedel

Autismus ist in den letzten Jahren zunehmend zum Inbegriff oder gar zur Allegorie der Einsicht geworden, dass der menschliche Geist – oder aus anderer Perspektive: die Funktion seines Gehirns – sehr unterschiedliche Formen annehmen kann: Menschliches Denken, Fühlen und Wollen kann von Mensch zu Mensch sehr verschieden sein, und Autismus ist das Beispiel menschlichen Variantenreichtums, an dem sich das am einprägsamsten zeigen lässt. In vielen mehr oder weniger realistischen Versionen »spukt« die menschliche Normvariante Autismus durch die Medien, unter anderem durch Fernsehserien, Spielfilme und Romane. Die Protagonisten dieser Produktionen haben dabei meist ein sehr ungewöhnliches Sozialverhalten und sehr spezielle Begabungen. Irgendwie scheint das Label »Autismus« das Anderssein zu erlauben, ihm eine eigene Sphäre zu eröffnen, in der es, so normabweichend es auch sein mag, toleriert werden kann. Diese Entwicklung hat durchaus ihre Vorteile, ermöglicht sie doch die Klarheit darüber, dass es nicht nur einen Idealtyp Mensch gibt, sondern viele.

Auf der anderen Seite ist diese Entwicklung auch sehr anfällig für Klischeebildung: die mediale Darstellung deformiert Autismus schnell zu seiner eigenen Karikatur oder zur harmlosen Modeerscheinung, die lediglich nach ihrem Unterhaltungswert bemessen wird. Autismus ist aber weder Karikatur noch Modeerscheinung, sondern für die Betroffenen – und oft auch für die Angehörigen – ein Existenzial, welches weite Teile der Identität betrifft und Auswirkungen auf große Bereiche der Lebensführung hat, auch wenn die Auffälligkeiten an der Verhaltensoberfläche gar nicht so deutlich sein müssen.

Das wird in dem vorliegenden autobiografischen Bericht von Birgit Saalfrank mehr als deutlich. Epidemiologisch hat sich in den letzten Jahren recht klar gezeigt, dass Mädchen und Frauen aus dem Autismus-Spektrum häufiger als ihre männlichen Altersgenossen diagnostisch übersehen oder falsch zugeordnet werden. Das hat verschiedene Gründe. Erstens bilden die üblichen diagnostischen Instrumente für Autismus, die sehr an der Verhaltensbeobachtung orientiert sind, eher den männlichen autistischen Verhaltenstyp ab als den weiblichen. Zweitens kann vermutet werden, dass die weiblichen Betroffenen einem höheren sozialen Druck ausgesetzt sind und sich somit stärker anpassen müssen, um im sozialen Gefüge, beispielsweise der Schule, toleriert zu werden. Drittens ist zumindest denkbar, dass weibliche Betroffene im Durchschnitt höhere kompensatorische Möglichkeiten der sozialen Anpassung haben. Insofern verwundert es nicht, dass der Autismus von Birgit Saalfrank bis weit ins Erwachsenenalter hinein als solcher nicht erkannt wurde.

Im vorliegenden Buch beschreibt sie eindrücklich, wie sie mit allen erdenklichen Mitteln versuchte, ihr Anderssein, das für sie selbst keinen anderen Namen hatte als ein vages Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, vor der Welt und damit auch vor sich selbst zu verstecken. Mit außerordentlicher Willenskraft lernte sie im Psychologiestudium die Codes neurotypischen Sozialverhaltens und entwarf Algorithmen, um sie nachzubilden. Dies hatte durchaus »Erfolg« in dem Sinn, dass ihr von Partnerschaft bis zur beruflichen Karriere vieles gelang, allerdings unter Aufbietung aller mentalen Kräfte und unter Verlust eines zentralen Teils des Selbst (im Buch heißt dieser »Würzel«).

Der Autismus ist nun nicht nur im Leben der Autorin lange versteckt geblieben, sondern auch im Text des vorliegenden Buches über weite Strecken wenig sichtbar. Aber an Stellen wie der folgenden wird dann plötzlich deutlich, wie fundamental anders das Leben und seine sozialen Bezüge wahrgenommen und prozessiert werden: »(…) und ich erinnerte mich an eine Situation von früher, in der mir klar geworden war, dass Beziehungen zu anderen Menschen nicht allesamt identisch waren, sondern dass jede Beziehung anders war. Das hatte ich lange Zeit nicht verstanden. Zum Beispiel war ich während des Studiums davon ausgegangen, dass alle Beziehungen und Kontakte, die man hat, die gleiche Art von Nähe und Intimität aufweisen.« Man ahnt vor diesem Hintergrund immer wieder, wie anstrengend es gewesen sein muss, trotz des basalen Unterschiedenseins eine »neurotypische Oberfläche« zu produzieren. Das mehrfach (und retrospektiv auch kritisch) zitierte »Ich kann, was ich will!« wird in seiner Kraft an vielen Stellen deutlich, am Ende aber lässt sich das Buch als starkes Plädoyer für die Aussöhnung mit dem eigenen Sosein lesen, für die Akzeptanz der eigenen Grenzen, für das damit verbundene Loslassen des Kampfes und das Zulassen von Glück.

Interessanterweise wird auch der Text nach dem autistischen Schub, also der Hinwendung zu den eigenen autistischen Anteilen, spürbarer und entwickelt Sog und Kraft, auch wenn oder gerade weil die Autorin plötzlich das wird, was sie schon immer war: sie selbst und somit anders als viele ihrer Mitmenschen. Die Metamorphose zum eigenen Sosein, das in vielerlei Hinsicht nicht »passt« – zur Arbeitswelt, zu den Klischees eines Menschen und zum Selbstentwurf –, ermöglicht am Ende lebendige Kontakte und Beziehungen und auch ein Wieder-offen-Werden für die vielen Gemeinsamkeiten mit anderen Menschen.

Das Buch ist mindestens ebenso, wie es ein Buch über hochfunk­tionalen Autismus ist, ein Buch über den Wandlungsprozess in der Psychotherapie/Psychoanalyse. Und da die Autorin Psychotherapie von beiden Seiten her kennt und wie nebenbei die eigenen inneren Transformationsprozesse reflektieren kann, gelingt ihr die Darstellung der Psychoanalyse in außerordentlicher Dichte, immer wieder erinnernd an Tilmann Mosers »Lehrjahre auf der Couch«. Psycho­therapie zeigt sich hier als die Kunst, den oft schwierigen und hochgradig beängstigenden Weg zu sich selbst zu begleiten, ohne Vorgaben durch Normen, wie der Mensch zu sein habe, was er wollen müsse und was seine natürlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse seien. Das Buch zeigt, dass Psychotherapie dort ihre Stärke gewinnt, wo sie ihre eigenen ­Interpretationsschemata und impliziten Stereotypien davon, was Mensch­sein ist, infrage zu stellen wagt. Und es ist ein starkes Argument für Psychotherapie ohne vorgegebene Weg- und Zielvorgaben. Es bleibt mir noch, dem Buch eine neugierige, offene und vielleicht sogar lernbereite Leserschaft zu wünschen.

PD Dr. med. Dr. phil. Andreas Riedel

Spezialambulanz für Autismus-Spektrum-Störungen

im Erwachsenenalter

Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie

am Universitätsklinikum Freiburg i. Br.

Ich, Birgit, Autistin und Psychotherapeutin

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