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Eine ständige Gratwanderung

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Dabei ist sein jetzt sehr nachdenklicher Gesichtsausdruck deutlich erkennbar. »Was mir in der Zeit vor Corona schon häufiger aufgefallen ist: dass große Aufträge an Wettbewerber vergeben werden, die auch nicht ansatzweise einen vergleichbaren Vertriebsaufwand betreiben wie wir.« Er erinnert sich an letztes Jahr, es ging um einen Auftrag in sechsstelliger Größe, der von einem Unternehmen in Südfrankreich an einen Anbieter in China vergeben wurde. Als er davon während einem anderen Kundengespräch erfahren hat, war er wirklich schockiert: »Es ist mir vollkommen unverständlich, wie das passieren konnte, da wir als einer der Markführer normalerweise in Europa sehr gut bekannt und vernetzt sind. Als ich darüber noch einmal nachgedacht habe, sind mir mehrere Fälle eingefallen, bei denen uns Aufträge verloren gegangen sind. Es sieht ganz so aus, dass sich diese Kunden bei der Auftragsvergabe allein auf Informationen aus dem Internet und die Referenzen anderer Kunden verlassen haben.«

Inzwischen weiß er: In einigen Ländern gibt es bereits Internet-Plattformen und spezialisierte Internet-Anbieter, über die kundenspezifische Lösungen zwischen Marktteilnehmern fast ausschließlich online und offensichtlich doch erfolgreich vermittelt werden. Da sind ganz neue internet-basierte Geschäftsmodelle im Entstehen.

Er hat seine Marketing-Abteilung schon in den letzten Jahren weiter ausgebaut und beteiligt sich verstärkt an Diskussionen in Anwenderforen und in den sozialen Medien: »Ich selbst mache da keine Ausnahme und bin als Geschäftsführer meines Unternehmens ebenfalls aktiv beteiligt. Dennoch ist mein Eindruck, dass unabhängig von Corona und der Pandemie viel Bewegung im Markt ist und die bisher bekannte Form des Vertriebs über persönliche Kontakte nicht mehr so funktioniert wie früher. In meinem Bereich ist jeder große Auftrag, den wir verlieren, auch ein großer Einschnitt für unser Jahresergebnis. Das können wir uns nicht leisten.«

»Das, was Sie sagen«, entgegnet Paul, »ist mir auch in meinem Bereich nicht ganz unbekannt. Allerdings haben wir mit unseren medizintechnischen Geräten auch immer das Thema Schutz unserer Know-Hows besonders zu berücksichtigen. Je mehr technische Informationen wir beispielsweise über unsere Homepage oder auch in den sozialen Medien preisgeben, desto leichter wird es für andere Anbieter, ihre Argumentationen zu ihrem Vorteil und zu unserem Nachteil zu formulieren. Als Marktführer in unserem Bereich wollen wir unser Know-How umso mehr schützen.« Das ist aus seiner Sicht eine ständige Gratwanderung. Denn je mehr Informationen er nach außen gibt, desto angreifbarer wird sein Unternehmen, gerade im internationalen Vergleich.

Er erinnert sich an die Produktpräsentation eines Wettbewerbers, die ihm von einem seiner guten Kunden zugespielt worden ist. In der Produktpräsentation des Wettbewerbsunternehmens war für ihn klar erkennbar, dass die gesamte Argumentation auf seiner eigenen Argumentation als Marktführer aufgebaut war. »Deshalb bin ich auch so vorsichtig mit der Herausgabe von Informationen im Internet. Allerdings muss ich dabei auch zugeben, dass uns das in unserer Kommunikation häufig langsamer macht als ich und unsere Kunden und Interessenten sich das wünschen würden. Ich bin, ehrlich gesagt, nicht sicher, wie sich das weiter entwickeln wird. In unserer aktuellen Situation sind wir auch viel zu sehr damit beschäftigt, uns um die Abarbeitung unserer Aufträge zu kümmern und das schnelle Wachstum des Unternehmens in die richtigen Bahnen zu lenken. Wir haben derzeit schlichtweg keine Kapazitäten, uns um diese Themen zu kümmern, und ich hoffe, dass das in der nächsten Zeit kein Bumerang für uns wird.« Genau deshalb, wirbt er, sei er immer am Informationsaustausch und Kontakt mit Kollegen interessiert, um seine Erfahrungen weiterzugeben und auch um zu lernen, welche Erfahrungen andere machen. Denn eins ist für ihn ganz sicher: »Unsere Rahmenbedingungen verändern sich schneller, als wir das manchmal wahrhaben wollen. Und ich bin sicher, dass wir die Augen unbedingt offen halten müssen für das, was da auf uns zukommt.«

Mit Blick auf die Uhr lenke ich die Diskussion auf ein aktuelles Thema, das sehr gut zu den Aussagen der beiden Vorredner passt und einen guten Abschluss für heute und auch einen Ausblick auf weitere Diskussionen darstellt. Denn auch das Marketing durchläuft gerade revolutionäre Veränderungen, genau wie der Vertrieb. Beim sogenannten B2B-Inbound-Marketing, einer Form des Content-Marketings, wird die Kunden-Akquise hauptsächlich in den digitalen Raum verlagert.

Dabei setzt das Inbound-Marketing nicht bei den Vorteilen der eigenen Produkte und Lösungen an, sondern vielmehr bei den Problemen der potentiellen Kunden, die online auf der Suche nach Lösungen und Antworten für ihre Probleme oder offenen Fragen sind. Der Anbieter stellt wertvolle Informationen, geeigneten »Content« online, der für die Kunden in ihrem Recherche-Prozess möglichst interessant ist. Dadurch kommt es zur Kontaktaufnahme mit dem Anbieter.

Die Unternehmen brauchen nicht mehr über ihren Vertrieb nach Interessenten für ihre Produkte und Lösungen aktiv zu suchen, jetzt werden sie gefunden. Das erledigt die richtige Inbound-Marketingstrategie für sie online.

Und neben diesen neuen Möglichkeiten im Internet hält gleichzeitig die Künstliche Intelligenz verstärkt Einzug in die Welt des Vertriebs. Kunden setzen beispielsweise schon heute virtuelle, KI-unterstützte Assistenten ein, die in Form von automatisierten Prozessen im Internet nach möglichen Anbietern und Lösungen für ein Problem suchen. Ich bin sicher, dass uns in den nächsten Jahren tiefgreifende Veränderungen im Vertrieb durch die Digitalisierung und durch den Einsatz KI-basierter Tools und Vorgehensweisen erwarten. Laut dem Salesforce State of Sales-Bericht 2018 gehen mehr als die Hälfte, nämlich 54 Prozent der Vertriebsleiter davon aus, dass sie in den kommenden Jahren für Ihre Vertriebsaufgaben Künstliche Intelligenz einsetzen werden.

In der Diskussionsrunde ist deutlich geworden: Alle drei Unternehmer sind sich zu einem Punkt weitgehend einig. Sie bestätigen, dass sie Veränderungen und immer mehr Probleme und Unsicherheit im Vertrieb beobachten, und das nicht nur durch Corona.

Daniel bringt es am besten auf den Punkt: »Wir wissen eben nicht genau, was die Zukunft für uns bringt.« Was er für seinen Bereich sicher weiß: dass es viele und schnelle Veränderungen geben wird. Vielleicht ist die Corona-Krise auch nur ein Vorgeschmack von dem, was da noch alles in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. »Wenn ich sehe, wie unerwartet und schnell die technologische Entwicklung in anderen Bereichen nach vorne geht, zum Beispiel bei LED- und OLED-Displays, in der Projektionstechnologie oder auch bei Virtual Reality-Brillen, dann glaube ich durchaus, dass radikale Neuerungen im Vertrieb durch die Digitalisierung möglich sind. Vor allem unsere großen Kunden werden sich sehr schnell dieser neuen Tools bedienen, wenn sie wirklich deutliche Vorteile bringen.« Deshalb ist es aus seiner Sicht auch unbedingt wichtig, dass sich alle mit den neuen Möglichkeiten auseinandersetzen, um besser zu verstehen, was das für ihr Unternehmen bedeutet. Und wie sie davon dann auch profitieren können.«

Auch wenn noch viel mehr Fragen offengeblieben als beantwortet sind, muss ich nun die Diskussion jedenfalls für heute schließen: »Wir haben gesehen, dass nicht nur Corona, sondern vor allem der digitale Wandel dabei ist, den Vertrieb und den Verkauf radikal zu verändern. Das, was noch vor einigen Jahren gültig war, gilt heute nicht mehr. Und es ist gut zu sehen, dass die Verunsicherung nicht nur uns allein betrifft, sondern von anderen genauso erlebt wird.«

Was genau das ist, was uns so verunsichert, denke ich hinterher, das ist ein weiteres, sehr spannendes Thema. Einiges dazu haben wir heute schon gehört. Und ich habe auch für mich mitgenommen, dass ein großes Interesse in der Runde daran bestand, mehr über die neuen Möglichkeiten der Digitalisierung in Vertrieb und Marketing zu erfahren.

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