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Die rot-weißen Turnschuhe hatte die Frau neben der Eingangstür ausgezogen. Sie standen auf einem schwarzen Schuhabstreifer. New Balance – rot und weiß und sportlich. Sie waren kleiner, als er es bei ihrem Körper erwartet hatte. Er blickte wieder zu ihr und verglich ihre Turnschuhe mit ihren Füßen. Alles war schwarz an ihr – bis auf die Hände. Auch die Socken waren schwarz. Die Füße waren tatsächlich klein. Sie beugte sich vor, richtete sich auf, beugte sich vor. Neben ihr lagen auf zwei Stühlen eine Lederhandtasche und ein Plastikkoffer. Beide schwarz. Sollte er seine Schuhe auch ausziehen? Gehörte sich das hier so? War es ein Zeichen des Respekts, wenn er seine Schuhe auszog? Schaden konnte es nicht. Schmerzen tat es auch nicht. Also beugte er sich vor, löste die Schnürsenkel, zog die braunen Halbschuhe von den Füßen und stellte sie auf die andere Seite des Schuhabstreifers. Vielleicht gab es bei Schuhen eine Männer- und eine Frauenseite. Er wollte Respekt zeigen. Er wollte nicht stören. Während er sie anblickte, bemerkte er, dass er nichts an ihr erkennen konnte, was ihm mehr über sie verraten hätte. Er war ein Analphabet in den Zeichen ihrer Kultur. Woher kam sie? Irak und Iran waren Möglichkeiten. Saudi-Arabien und Syrien konnte er sich vorstellen. Aber ebenso gut konnte sie aus Ankara oder Berlin oder Paris oder Zürich kommen. Oder aus Malaysia. Nicht einmal, ob sie Schiitin oder Sunnitin war, konnte er erkennen. Er wusste, entweder Schiiten oder Sunniten beteten so, dass ihre Stirn auf einen Stein aus Mekka traf, den sie sich auf den Gebetsteppich gelegt hatten. Aber waren es Schiiten? Waren es Sunniten? Er wusste nicht, auf welche Details er achten musste, um eine Schiitin von einer Sunnitin zu unterscheiden.

Religious Reflection Room. Wie hieß so ein Raum auf Deutsch? Andachtsraum? Religiöser Reflexionsraum? Gab es auf deutschen Flughäfen solche Religious Reflection Rooms? Oder gab es solch einen Raum nur im Flughafen dieser amerikanischen Stadt, wo Irak und Iran schon seit den Flüchtlingswellen vor vierzig Jahren zusammenkamen?

Ein leichter Schweißgeruch lag im Raum. Kam der von ihm? Kam der von ihr? Kam der von jenen, die vor ihnen hier gebetet hatten? Seinen Arm heben und riechen, ob dieser Geruch von ihm ausging, wollte er nicht. Die Bewegung hätte ein Geräusch verursacht, das sie gehört hätte. Es hätte sie gestört. Er blieb reglos stehen. Entfernt roch er Rosengeruch. In Istanbul hatte er diese Mischung aus Schweiß- und Rosengeruch zum ersten Mal wahrgenommen, überall, im Teppichboden des Hotels, in den Leintüchern des Bettes, im Nachtischgebäck, in der Kleidung des Hotelpersonals, in den Bussen nach Asien und auf den Fähren über den Bosporus. Kam sie aus Istanbul?

Er betrachtete die Stühle, die entlang der Wände standen. Die Bücher, die auf manchen lagen, karminrot, gebunden und dünn, waren Gebetsanleitungen. Es waren keine Bibeln. Prayer Book, stand auf den Buchrücken. Gehörten diese Prayer Books zu einer bestimmten Religion? Gab es in allen Religionen Gebete? Bei Christen und bei Muslimen gab es Gebete. Aber wie war es bei Hindus und Buddhisten? Nannten sie es beten, wenn sie in Meditation saßen? Nannten sie es Andacht? Es war ihm peinlich, wie wenig er wusste. Wenigstens etwas hätte er wissen müssen. Wie war es möglich, dass er bei all seinen Studien der medizinischen Anthropologie nicht mehr von den verschiedenen Religionen wahrgenommen hatte?

Aber jetzt war er hier: im Religious Reflection Room des Flughafengebäudes. Room Number 99. Islamisch, katholisch, jüdisch, protestantisch, baptistisch, buddhistisch, hinduistisch, methodistisch, amisch, hutterisch, Zeugen Jehovas, Mennoniten, Mormonen – alles war möglich in diesem Religious Reflection Room. Alles war erlaubt. Auch dass er mit dieser Unbekannten in diesem Raum war, dass er hinter ihr stehen und sie einatmen und dass sie ihm den Rücken zuwenden, dass sie vor ihm knien und so tun konnte, als sei er nicht da. All das war erlaubt.

Sie reinigte sich. Im Gebet. Im Knien. In der Andacht. In der Demut. Das wusste er. Die Säuberung des Denkens und das Hinwenden auf Ihn, auf Allah, waren Teil des Gebets. Das Gebet war ein Waschen – ein innerliches Waschen.

Frauen beteten in Moscheen hinter Männern. Das wusste er von Istanbul und von Bursa, jenem Ort am Ende der Seidenstraße, der ehemaligen Hauptstadt des osmanischen Reiches, wo er drei Tage zugebracht und Vorträge über die Medizin im osmanischen Reich gehört hatte. Eine Frau von hinten zu betrachten, während sie kniete und ihren Oberkörper immer wieder nach vorn beugte, wäre für Männer, die sich innerlich reinigen wollten, eine zu große Herausforderung gewesen. Also mussten die Frauen nach hinten. Frauen konnten offensichtlich, während sie den Männern von hinten bei deren Verbeugungen zusahen, ihre innerliche Reinigung durchführen.

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