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ОглавлениеWie war es möglich, dass er sie nie gefragt hatte, wie alles für sie war? Weshalb hatte er sie nie gefragt, wie es für sie war, wenn ein Junge sie ansprach? Wie es für sie war, wenn sie sich in einen Jungen verliebte? Was ging in ihr vor? Was dachte sie? Was, meinte sie, war möglich und was nicht? Konnte sie den Jungen anblicken? Ihn ansprechen? Atmete sie schneller? Schaute sie nach innen und nicht mehr nach außen? Hatte sie Angst? Senkte sie den Blick? Stellte sie sich an einen Platz, wo sie hoffte, von ihm wahrgenommen, von ihm angesprochen zu werden? Oder genau das Gegenteil? Versteckte sie sich?
Und welche Worte benutzte sie? Welche Worte dachte sie? Ausgehen? Einander sehen? Miteinander etwas unternehmen? Einander nahekommen? Glück haben? Oder gab es andere Worte bei ihr, in ihrer Welt? Umeinander werben? Um sie anhalten? Sie wollen? Sie nehmen wollen? Er konnte es sich nicht vorstellen. Eines Tages war bei ihm ein Brief eingetroffen: »Matthias und ich werden heiraten. Ich weiß, wie schwer es Dir fallen würde. Du brauchst nicht zu kommen, wenn Du nicht willst. Aber wir würden uns freuen.«
Er hatte ihnen ein Teeservice von der Töpferin im Dorf geschenkt – und war nicht gekommen. »Ich wünsche Euch alles nur erdenkliche Gute. Möget Ihr glücklich miteinander werden.«
Platituden. Je platter er in der Sprache bleiben konnte, desto weniger musste er von sich preisgeben. Desto weniger musste er über sich und sie, über seine Welt und ihre Welt, über seinen Körper und ihren Körper nachdenken. Also blieb er bei den Poesiealbumsätzen: Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen! Poesiealbumsätze konnte man von sich geben, ohne dass sie einen berührten. Man wurde nicht anders durch sie. Man musste sich keine Gedanken machen. Und so hatte er es gemacht: die Sätze hingeschrieben, in den Umschlag gesteckt und abgeschickt. Zwei Minuten später hatte er alles wieder vergessen.
Er hatte gemeint, er hätte es vergessen. Jetzt bemerkte er, wie wenig er es vergessen hatte: die Worte, hinter denen er sich vor ihr und ihrer Welt versteckt hatte. Jahrzehntelang.
Worte. Bei ihm war es sein Spitz, sein Rolle, sein Gießkännchen, sein Dingsda. Was war es bei ihr? Da hatte es kein Wort gegeben. Es war, als sei es ein langes, schmales Nichts gewesen. Unaussprechlich. Scheide hieß es in der sechsten Klasse. Das war ein schlimmes Wort. Scheide. Scheidung. Und wie noch? Er konnte sich kein anderes Wort denken. Es hatte kein anderes Wort gegeben. Es war ein Bereich, den Worte mieden. In der Familie hatte es keine entspannten, witzigen Worte dafür gegeben. »Jetzt lass dein Gießkännchen auch mal wieder in Ruhe.« Das hatte ihm gegolten. Darüber hatte man lachen können. Wann hatte sie ihren Kitzler entdeckt? Wer hatte ihn zuerst berührt? Sie? Oder jemand anders? Hatte sie gedacht, ein erwachsener Penis sei zwanzig Zentimeter lang und werde, wenn er sich versteifte, noch länger? Hatte sie Angst vor dem, was auf sie zukam? Welche Beziehung hatte sie zu ihrem Körper »da unten«? War alles für sie »ganz normal« oder wollte sie besonders sauber sein? Was war natürlich? Dachte sie: »Ich mag meine Furche.«? Oder dachte sie: »Mich ekelt’s immer ein bisschen vor mir. Ich weiß, es sollte nicht so sein. Aber so ist’s halt nun ’mal.«?
Was hatte sie sich vom ersten Mal erwartet? Er war sicher, dass es mit Matthias gewesen war. Miriam war einundzwanzig. Er war der Richtige. Sie hatte auf ihn gewartet. Wahrscheinlich hatten sie nicht bis zur Hochzeit gewartet. Die Liebe war die Bestätigung, dass er der Richtige war. Das Gefühl hatte sie geführt. Und dann? Was hatte sie gespürt? War sie glücklich geworden? Wie hatte sie die Liebe getroffen? Hatte sie sich nur um Matthias gekümmert? Hatte sie auch süße Aufmerksamkeit erhalten? Matthias war sensibel. Zuvorkommend. Aufmerksam. Taktvoll. Respektvoll. Geduldig. Feinfühlig. Aufgeschlossen. Zu Worten hatte Matthias ein distanziertes Verhältnis. Aber Miriam hatte sich in einen guten Mann verliebt. Miriam hatte einen guten Mann geheiratet.
Was erwartete eine Frau, die in diesem Dorf aufgewachsen war, vom ersten Mal? Eine Zusammenkunft in JEsus? Eine Vereinigung in IHm? Einen Segen und ein Gesegnetsein in SEiner Güte und Barmherzigkeit? Eine Andacht und einen Segensdienst in IHm? Und wenn es zur großen Vereinigung kam, so war es ein Gesegnetwerden der Seelen durch IHn? Die Lösung der Spannung – die Erlösung in IHm? Im Schoße der heiligen Ehe? War die Jungfernschaft ein Geschenk, das sie IHm zum Opfer brachte und das zu einem Segen wurde? Ein Geschenk, das Miriam IHm und ihm machte? Hatte sie Erwartungen? Dachte sie, sie würde in diesem Moment zu einer Frau? War es ein Hineinerleben in das Geschenk eines möglichen Kindes? »Ich will ein Kind von dir.« In IHm. Mit IHm. Das Wunder der Schöpfung. In SEinem Heiligen Namen.
Da war eine ganze Welt, in der alles, was ihr passieren konnte, passierte. In IHm. Weil alles in IHm und durch IHn geschah – wenn man es zuließ und wenn man in einem Zustand der Gnade war. War etwas nicht erfüllend, dann lag das nicht an IHm oder an ihm, sondern am eigenen Zustand, in dem man IHn nicht richtig empfing und aufnahm. Es galt dann, sich im Gebet zu läutern, sich zu öffnen, damit man bereit war für ihn, in IHm. In SEinem Segen. Bereit für den Segen. War es so gewesen für sie?