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ОглавлениеEr sah diesen Raum heute zum ersten Mal auf dem Flughafenplan. Room Number 99. Religious Reflection Room. Im dritten Stock des Flughafengebäudes war dieser Raum. Und weil er zwei Stunden bis zu seinem Anschlussflug hatte, fuhr Johannes mit dem Aufzug hinauf. Aus Neugier, sagte er sich. Aus Langeweile, sagte er sich. Religious Reflection Room.
Als er die Tür öffnete, mussten sich seine Augen zuerst an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnen. Überall sonst auf dem Flughafen gab es dieses schattenlose Neonlicht. In diesem Raum gab es ein paar gedimmte Leuchten, abgeschirmt und nur zur Decke hin offen. Vor ihm kniete eine Frau. Das sah er. Sonst war niemand da. Nur diese Frau in ihrem schwarzen Umhang mit schwarzer Kopfbedeckung, die ihm dem Rücken zuwandte und sich immer wieder auf den Knien nach vorn beugte. Er hatte die Tür geöffnet, ohne anzuklopfen. Jetzt stand er da und hielt die Türklinke in der Hand. Sie kniete, aufrecht. Dann beugte sie den Oberkörper nach vorn, die Gewänder gaben ein seufzendes Geräusch von sich. Die Frau ging auf die Hände, tief, so tief, bis die Stirn den Teppich berührte, auf dem sie kniete. Goldgelb und schwarz war der Teppich, mit runden Mustern. Das sah er. Er nahm immer mehr Farben wahr – das Karminrot der Stuhlpolster entlang der Wände. Das hellere Rot der Bücher, die auf manchen Stühlen lagen. Die Frau richtete sich auf. Sie atmete ein. Er hörte es. Sie atmete tief ein. Dann beugte sie sich wieder nach vorn und ließ die Stirn den Teppich berühren, genau an der Stelle, wo der Teppich einen goldenen Kreis hatte. Es war, als müsse ihre Stirn diesen Kreis berühren, damit alles seine Richtigkeit habe. Sie atmete. Blieb kniend ruhig aufrecht. Das Aufrichten und Sichvorbeugen, bis die Stirn den Kreis berührte, geschah in einem Rhythmus. Es war eine eigene Art des Atmens. Es war ein Körperatmen. Unter schwarzen Gewändern. Bei ihr. Und er atmete mit.
Weil er hinter ihr stand, mussten sie nicht entscheiden, wie sie sich zueinander verhalten sollten. Sie brauchten einander nicht auszuweichen, denn sie sahen einander nicht in die Augen. Sie brauchten einander nicht zu grüßen. Trotzdem spürte Johannes, dass sie vor ihm dagewesen war. Sie hatte das Recht, den Raum für sich zu beanspruchen. Sollte er wieder hinausgehen? Er konnte sich nicht entscheiden. Er wollte nicht stören. Religiös war er nicht mehr. Aber der Raum zog ihn an. Die Ruhe. Die dezent beschirmten Lampen an den Wänden. Er. Sie. Wir. Es gab kein Wir. Auch wenn sie und er im selben Raum waren. Und doch nahm er ein Wir wahr.
Er atmete, tief, und schaute ihr zu. Die Umrisse ihres Körpers unter dem Gewand. Die Frau war gedrungen, kräftig und jung. Die einfache Leichtigkeit, mit der sie Rücken, Hüften und Nacken bewegte. Er sah die Haut an den Händen, die nicht vom Gewand bedeckt war. Sie war jung. Aber sie war alt genug, um die Mutter von drei Kindern sein zu können. Alles war möglich. Nichts musste sein. Dass alles möglich war, nichts aber so sein musste, wie er es sich vorstellte, hatte etwas Befreiendes. Er schaute diesem Rhythmus, diesem Wechsel von Stille und Bewegung zu. Dieser Hingabe. Da war etwas Aufrichtiges in ihr. Sie hatte etwas gefunden. Und sie vertraute. Sie besaß das Vertrauen, dass ihr beim Beten in diesem Raum nichts geschehen würde. Sie hatte sich nicht umgewandt, als er die Tür öffnete. Sie beugte sich nach vorn, ließ die Arme vornüber gleiten und berührte mit der Stirn den Teppich. Das war ein Sich-klein-Machen, ein Akzeptieren, ein Atmen, ein Duft, eine Demut.
Vielleicht störte er sie, indem er hinter ihr stand und atmete und zuschaute – und nichts tat. Doch er hatte, sagte er sich, dasselbe Recht, hier zu sein, wie sie. »Religious Reflection Room.« Ein Religious Reflection Room stand allen zur Verfügung. Allen Konfessionen. Da gab es kein Vorrecht. Es gab kein Besitzen. Alle hatten ein Recht, hier zu sein. Also auch er. Er trat einen Schritt nach vorn und schloss die Tür hinter sich.