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Verletzungen des Zeitempfindens
ОглавлениеUnterschiedliche Umgebungen bieten mehr oder weniger gute Voraussetzungen, um die persönliche Zeit, den eigenen Rhythmus zu empfinden. Eisenbahnzüge waren früher die perfekten Freiräume auf Rädern. Zwar werden Abfahrt und Ankunft des Zuges in Uhrzeit angegeben, doch dazwischen konnte man die Zeit auf ganz persönliche Weise erleben. Nirgendwo war man so ungestört wie im Zug.
Doch dann wurde uns Bahnliebhabern dieser Freiraum genommen. Die Handymafia hielt Einzug. Mit ihren Abschlussbilanzen, dem Ergebnis der Führerscheinprüfung und den Komplikationen bei Evas Keuchhusten. Wer will denn das alles wissen? Ich möchte in meinem Klangraum in Ruhe gelassen werden. Ich kann nicht akzeptieren, dass andere Menschen durch ihr Geschwätz im Bahnabteil meine persönliche Zeit so sinnlos zerstören. Oft wird in erheblicher Lautstärke telefoniert, und was gesagt wird, klingt immer irgendwie unnatürlich. Es ist ja auch unnatürlich, nur den einen Teil eines Gesprächs zu hören. So unnatürlich, dass man diese Störgeräusche nicht ignorieren kann – anders als das natürliche Hintergrundgeräusch, das sich zum Beispiel aus einer Unterhaltung zwischen anderen Reisenden ergibt.
»Liebe Bahn«, schrieb ich 1995. »Ich würde gerne auch weiterhin Eisenbahn fahren. Deshalb schlage ich vor, dass Sie der Handymafia ein Reservat zuweisen, wo sie sich ihrer Zeitzerstückelung hingeben kann. Wir anderen können derweil in den übrigen Waggons unsere freien Zeitzonen genießen. Übrigens werden sich dann bestimmt auch viele Handyterroristen zu uns in die handyfreie Zone setzen – so wie Raucher, die zwischendurch in Nichtraucherabteile übersiedeln. Denn wenn man erst erfahren hat, was empfundene Zeit bedeutet, will man sie auch nicht wieder verlieren.«
Und jetzt gibt es sie endlich, die handyfreien Bahnwagen, die geschützten Oasen. Vielleicht kann der Zug wieder zu einem Ort werden, an dem sich das Gefühl von empfundener Zeit verstärkt und erweitert.