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1. Kapitel Zeit –
das einzige, was uns gehört
ОглавлениеEs gab in meinem Leben nicht besonders viele Idole. Vielleicht nur ein einziges: meine Großmutter. Sie starb, als ich noch keine sieben war. Aber sie dominiert meine wenigen konkreten Erinnerungen an meine Kindheit.
Dass meine Großmutter sich so sehr in mein Gedächtnis eingeprägt hat, hat sicher viele Gründe, aber im Moment denke ich vor allem an einen: Meine Großmutter hatte nie zu wenig Zeit. Nach unseren Maßstäben hatte sie zweifellos zu wenig Platz, manchmal sicher auch zu wenig zu essen, es fehlte ihr bisweilen an Heizung und Licht. Aber sie hatte nie zu wenig Zeit. Sie empfand es nicht so; sie betrachtete das Leben nicht unter diesem Aspekt.
Zwei Generationen später gehöre ich einer Kultur an, die sich vormacht, sie hätte zu wenig Zeit – zu wenig von dem einzigen, was uns wirklich gehört.
Ein Menschenleben dauert im Durchschnitt 30 000 Tage. Sie machen unser Kapital, unser individuelles Vermögen aus. Deshalb ist es nicht richtig und schon gar nicht menschenwürdig, wenn wir akzeptieren, dass Zeit als Mangelware empfunden wird.
Wie konnte die relative Seelenruhe der fünfziger Jahre – nach einem halben Jahrhundert ständig wachsenden Wohlstands – in eine derart deutlich greifbare Un-Ruhe und einen Un-Rhythmus umschlagen, den viele Menschen spüren? Vielleicht hängt dieser Wandel vor allem damit zusammen, dass der innere Rhythmus des Menschen in einem für uns selbst nachteiligen Maße anpassungsfähig und dehnbar ist. Der tätige Mensch umgab sich mit immer mehr Technik und ließ sich dadurch eine Lebensweise aufdrängen, in der er nicht mehr selbst über seine eigene Zeit bestimmt. Menschliche Kreativität, Phantasie, Empfindsamkeit und Flexibilität sind an eine Technik geraten, die vorhersagbar, ohne Phantasie und unfähig zur Veränderung ist. Oder – anders ausgedrückt – der Mensch als vergessliches, unlogisches, chaotisches und gefühlsbetontes Wesen versucht sich mit einer Technik zu arrangieren, die über ein gutes Gedächtnis verfügt, exakt und logisch, durchorganisiert und ganz und gar nicht zu beeinflussen ist.
Die Unfähigkeit des Menschen, einen Zeittakt zu bewahren, der seinem Wesen entspricht, hat sich in früheren Stadien der Evolution nicht so stark bemerkbar gemacht. Als Leonardo da Vinci sein berühmtes Bild des Menschen als Maß aller Dinge entwarf, handelte es sich um ein geometrisches Bild. Er brauchte eigentlich nur Längen, Flächen, Volumina und deren Verhältnis zueinander zu berücksichtigen. Unsere Zeit verlangt nach einem neuen Bild vom Menschen als Maß aller Dinge. Noch ist es nicht erfunden worden.