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Kapitel 8: Rot-Weiß und Zahnprobleme

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Dezember 1967 - es mag etwa 6 Uhr morgens gewesen sein. Draußen war es kalt und noch dunkel. Wir warteten in der Bahnhofshalle und stiegen in den Zug nach Darmstadt, um meine Großmutter zu besuchen. Lokomotiven wurden damals noch mit Koks und Wasserdampf angetrieben und die Luft hatte diesen unbeschreiblichen Geruch. Eine Mischung aus Öl, Kohle, Dampf und großer weiter Welt.


Die Passagiere, so schien es, hatten ihre beste Kleidung angezogen. Denn eine Bahnreise war immer ein besonderer Anlass - etwas Außergewöhnliches.

In den Abteilen der Waggons war es kuschelig warm und die weiße Winterlandschaft zog an den Fenstern vorbei. Ich genoss das Rattern der Stahlräder auf den Schienen und den zauberhaften Blick nach draußen.


Mutti hatte eine Tasche mit belegten Broten, Keksen und Obst dabei. Sogar Flaschen mit richtiger Limonade. Und obwohl die Brote die gleichen wie sonst auch waren - sie schmeckten einfach besser als sonst.

Manchmal kam ein Bediensteter der Bahn mit einem Handwagen an den Abteilen vorbei und bot heiße Würstchen, Getränke und Süßigkeiten zum Kauf an. Vati bestellte Würstchen für uns alle. Und für meinen Bruder und mich eine Tüte mit leckeren Bonbons. Axel und ich waren wunschlos glücklich und wir stopften die Süßigkeiten in uns hinein.

Ich habe mir als Kind oft in meinen Tagträumen vorgestellt, wie es wohl wäre, im Schlaraffenland zu wohnen. So wie in diesem Moment musste es bestimmt sein, wenn man dort lebte.


Im Abteil lagen Streckenpläne aus, auf denen man genau nachverfolgen konnte, wo man gerade war - und auch zu welcher Zeit. Ich hatte mir eine kleine Deutschlandkarte aus meiner Schultasche mitgenommen und fuhr so mit dem Finger zusätzlich die Bahnstrecke auf meiner Karte mit.

Dann die Tunnel, die das Abteil für kurze Zeit verdunkelten. Und die kleinen verschneiten Fachwerkhäuser, die gegen Ende der Reise am Fenster vorbeihuschten. Genauso sahen die Modelleisenbahnanlagen von Märklin aus, die im Kaufhaus Grimme während der Vorweihnachtszeit die Schaufenster schmückten, und vor denen ich oft stand und mich nicht sattsehen konnte.


Nach 7 oder 8 Stunden kamen wir in Darmstadt an und ich freute mich schon auf die Rückfahrt. Obwohl diese Stadt doch irgendwie aufregend war. Eine völlig andere Welt – anders als unser kleines Rendsburg. Breite Straßen und so viele Menschen. Alles war größer, unbekannter.


Einige Tage später ging Vati mit mir ins Zentrum von Darmstadt und wir betraten ein Sportgeschäft. Überall hingen dort die Fotos meiner Fußballidole - Uwe Seeler, Karl-Heinz Schnellinger, Gerd Tilkowski, Lothar Emmerich und noch viele mehr.

Während ich mit großen Augen die Plakate und Auslagen bestaunte, stieß mich Vati an. »Weil ja in ein paar Wochen Dein Geburtstag ist, haben Mutti und ich beschlossen, Dir einen besonderen Wunsch zu erfüllen. Du darfst in einen Fußballverein eintreten. Aber ein Fußballer braucht natürlich ein Trikot, Hose, Schienbeinschoner und Stutzen. Und die sollst Du Dir nun aussuchen.«

Wahnsinn! Um meine Bauchgegend herum stellte sich ein ganz besonderes Kribbeln ein!!

Wir kauften dieses wunderschöne rote Trikot mit weißem Kragen, eine weiße Turnhose mit roten Streifen, weiße Stutzen und blaue Schienbeinschützer. Herrlich dieser Geruch des neuen Trikots! Ein sensationelles Geschenk. Ich konnte den Tag meines Geburtstags garnicht mehr abwarten.


Wieder zuhause, ging ich zum Training der FT Eintracht - einige meiner Freunde spielten dort und der Trainer drückte mir das Anmeldeformular in die Hand.

Drei Wochen nach meinem 12. Geburtstag, pünktlich zum Sonntag, war mein Spielerpass endlich da - und ich machte mein erstes Spiel!

Dass wir 4:0 verloren, war nicht besonders schlimm. Wichtig war - jetzt gehörte ich dazu. Der Trainer hatte mich als rechten Verteidiger aufgestellt. Und deshalb nähte mir Mutti auf mein Trikot in der anschließenden Woche - die Rückennummer Zwei!

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Zweimal im Jahr kam ein Zahnarzt in die Schule, sah den Schülern in den Mund und prüfte die Kauleisten. Meine Eltern achteten wenig auf die Zahnhygiene ihrer Kinder. Und da ich genausowenig die Wichtigkeit des Zähneputzens erkannte, war mein Gebiss in einem entsprechendem Zustand.

Zahnärzte machten mir wahnsinnige Angst. Ich hatte bereits vorher, wenn ich mal Zahnschmerzen hatte, die Bekanntschaft mit Zangen und Bohrern gemacht. In meinen Augen waren das Folterinstrumente! Und die behandelnden Ärzte hatten echte Schwerstarbeit zu leisten, damit ich meinen Mund überhaupt aufmachte, wenn ich auf dem Behandlungsstuhl saß.


1967 war es wieder soweit. Der Schulzahnarzt betrachtete mein Mundinneres und ließ seine Assistentin aufschreiben: »Unten links kariös, oben rechts kariös« usw. Anschließend gab’s einen Zettel für meine Eltern, mit der dringenden Aufforderung, einen Behandlungstermin bei einem ortsansässigen Zahnklempner zu vereinbaren. Mann, ging mir der Arsch auf Grundeis!

Meine Mutter machte einen Termin mit Herrn Dr. Jacobsen aus und wir suchten die Praxis auf. Für mich fühlte es sich an, als würde ich zur Hinrichtung geführt werden.


Besagter Zahnarzt war ein Mann in den Fünfzigern und äußerst brutal. Ich wurde aufgefordert, auf seinem Behandlungsstuhl Platz zu nehmen.

So fühlt es sich also an, wenn der Todeskandidat auf den elektrischen Stuhl geschnallt wird, dachte ich mir. Jetzt war ich Dr. Jacobsen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Er hielt den Bohrer direkt vor mein Gesicht und ich bekam eine Höllenangst, als dieses Ding die typischen Pfeifgeräusche von sich gab. Natürlich wollte ich den Mund nicht öffnen. Doch Dr. Jacobsen scheute sich nicht, mir dafür eine Ohrfeige zu verpassen.

Eine Betäubung gab’s auch nicht und so schrie ich natürlich, wenn der Bohrer des Öfteren den Zahnnerv traf - und das kam nicht selten vor. Der Zahnarzt schimpfte, ich solle mich nicht so anstellen!

Kam er nicht umhin, mir eine Spritze zu geben, weil ein Zahn gezogen werden musste, zog er das Narkosemittel direkt vor meiner Nase in die Kanüle. Dann prüfte er die Funktionstüchtigkeit der Zange durch demonstratives Aneinanderklacken der Zangenspitzen vor meinen Augen. Wie gesagt, ein echter Folterknecht!


Beim zweiten Behandlungstermin rief er meine Mutter aus dem Wartezimmer in den Folterraum und zeigte ihr das Loch zwischen meinen oberen vorderen Schneidezähnen. Ich habe später, als ich bereits über 20 Jahre alt war, Zahnärzte kennengelernt, für die das Reparieren dieses Loches kein Problem dargestellt hätte. Aber Dr. Jacobsen überzeugte meine Mutter, dass er die Schneidezähne ziehen müsse - und die zwei Zähne daneben ebenfalls.

Ich war ja gerade erst 12 Jahre alt und das Dilemma bestand darin, dass diese Zähne keine Milchzähne mehr waren. Also nicht mehr nachwachsen konnten. So sollte ich in diesem jungen Alter bereits eine Zahnprothese bekommen. Aus heutiger Sicht unfassbar!!

So kam der Tag, an dem mir unter Zuhilfenahme von Lachgas, meine vier oberen Schneidezähne rausgerissen wurden. Ich war nun mit 12 Jahren Gebissträger. Dieser Tag veränderte meine Persönlichkeit. Ich schämte mich, wurde oft wegen meiner Zahnlosigkeit gehänselt und zog mich dadurch auch immer mehr zurück. Kurz - ich steckte jetzt voller Komplexe. Kaum jemand kann nachvollziehen, was man mir und meiner Seele damit angetan hatte! Ein Zahnarzt, den ich später kennenlernte, war entsetzt über diese Tatsache, und dass meine Eltern der Prozedur zugestimmt hatten. Er empfahl mir, den Arzt im Nachhinein zu verklagen - aber zu diesem Zeitpunkt weilte Dr. Jacobsen bereits nicht mehr unter den Lebenden.


Als meine Altersgenossen anfingen ihre ersten Kontakte mit dem anderen Geschlecht zu pflegen, fühlte ich mich als Außenseiter. Ich war ohnehin immer sehr schüchtern gegenüber der holden Weiblichkeit gewesen, doch nun traute ich mich überhaupt nicht mehr an Mädchen heran. Ganz einfach weil ich Angst hatte, wegen meinem »Gebiss« von ihnen ausgelacht zu werden. Und so steigerte sich meine Schüchternheit und Verklemmtheit noch mehr. Meinen ersten Kuss von einem Mädchen bekam ich dadurch übrigens erst im Alter von 18 Jahren.


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Im Sommer 1969 - ich war erst 14 Jahre alt - hatte ich dann meinen Hauptschulabschluss und wurde aus der Schule entlassen. Zu diesem Zeitpunkt war ich nur 8 Jahre zur Schule gegangen, hatte aber alle 9 Klassen durchlaufen!

Jetzt fragt man sich natürlich, wie sowas gehen kann. Denn ein Wunderkind war ich keinesfalls. Es ergab sich einfach durch folgende Umstände.

1961 - ich war im Januar 6 Jahre alt geworden - wurden die Kinder zu Ostern eingeschult und sollten dann nach Beendigung des 8. Schuljahres in das Berufsleben entlassen werden. Dann kam irgendjemand auf die Idee, den Einschulungstermin in den Herbst zu verlegen und gleichzeitig die Schulzeit von bisher 8 auf 9 Pflichtjahre zu verlängern. Aufgrund dessen wurden in den Jahren 1966 und 1967 zwei Kurzschuljahre durchgeführt. Und der Begriff »Volksschule« wurde nun in »Hauptschule« geändert.

So ging ich also ein halbes Jahr in die 6. und anschließend ein halbes Jahr in die 7. Klasse. Nach Abschluss der Klasse 9 war ich also gerade 14 Jahre alt. Allerdings behaupte ich, dass ich mit vierzehn Jahren bildungsmäßig mehr auf dem Kasten hatte, als heute 16-jährige Realschüler. Ein Verdienst des damaligen Schulsystems und seiner Lehrkräfte. Wir lernten das, was wichtig war. Aber dafür sehr intensiv.


Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1

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