Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 11
Kapitel 9: Lehre und Wohnheim
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Eine Lehrstelle zu bekommen war 1969 leichter als heute, … zu blöd durfte man aber auch damals nicht sein.
Ich hatte mich bereits während meiner Schulzeit besonders für Chemie und Physik interessiert und wollte daher irgendetwas in dieser Richtung erlernen. Chemie hieß für mich: Man kippt etwas zusammen - dann knallt und zischt es - und am Ende kommt dabei etwas völlig Neues heraus. So ungefähr stellte ich mir das jedenfalls vor.
Es gab da allerdings ein kleines Problem. Leider waren bei uns im Norden kaum Chemielaboranten-Ausbildungsplätze vorhanden. Und wenn es sie gab, hatten Realschüler ganz klar die Nase vorn.
Aber da gab’s ja noch den guten Onkel vom Arbeitsamt. Und der stellte mir tatsächlich eine Lehrstelle in Aussicht - allerdings in Wuppertal. Das war zwar über 500 km von zuhause entfernt, doch sollte mich das nicht stören. Im Gegenteil - endlich würde ich dann über die Grenzen von Rendsburg hinauskommen!
Ich war 14 Jahre alt, relativ dünn und 162 cm groß - also ein echtes Bübchen. Aber ich wollte den angebotenen Chemikanten-Ausbildungsplatz unbedingt haben! Auch meine Eltern waren damit einverstanden, denn das Arbeitsamt würde mich in einem Lehrlingswohnheim unterbringen. Was bedeutete, dass ich trotzdem weiterhin unter Aufsicht war. Da die Unterkunft vom Amt finanziert werden würde, entstanden für sie ebenfalls keine zusätzlichen Kosten. Und auch die Erziehungspflicht hatten sie dadurch vom Hals. Deshalb stand einer Ausbildung zum Chemikanten, bei der Lackfabrik Dr. Kurt Herberts in Wuppertal-Elberfeld, nichts im Wege.
Am 31. September 1969 setzten mich meine Eltern, mitsamt einem Pappkoffer und einer Reisetasche, in den Zug. Ich fuhr in einen neuen, aufregenden Abschnitt meines Lebens.
Jetzt war ich Knirps alleine - und größtenteils auf mich selbst gestellt. Das war zwar sehr hart, aber durch diesen Umstand bin ich sehr schnell erwachsen geworden. Und komischerweise bin ich dann auch schnell gewachsen - in einem Jahr fast 20 cm.
Ich verdiente im ersten Lehrjahr 120 DM, musste jedoch die Kohle komplett an das Lehrlingsheim abdrücken. Dafür bekam ich am Monatsbeginn vom Heimleiter 30 DM Taschengeld ausgezahlt, finanziert aus Mitteln des Arbeitsamtes. Das war natürlich auch zu damaliger Zeit nicht besonders viel. Und so war ich oft bereits am 15. des Monats pleite und musste Kumpels mit besser situierten Eltern anpumpen. Am 1. des Monats zahlte ich meine Schulden zurück – und war danach bald wieder klamm!
Mit noch drei anderen Jungs meines Alters wohnte ich auf »Stube 14« - so wurde unsere acht Quadratmeter große Behausung genannt.
Klaus, Werner und Heinz hießen meine Mitbewohner. Und wenn wir mal Bockmist gebaut hatten, gab’s vom Heimleiter was an die Backen. Da wir zu den Jüngsten im Heim gehörten, gab’s natürlich auch öfter Prügel von den Älteren (und Stärkeren). Doch schon damals galt der Spruch: »Was uns nicht kaputt macht – macht uns härter«. Und so war es dann auch.
Wir hörten Musik von Deep Purple, Black Sabbath, Pink Floyd und Jethro Tull - und später auch »Krautrock«. Der Begriff Krautrock stand für deutsche Bands. Unter ihnen die Jungs von »Kraftwerk«, die jede Menge psychedelisches Zeug spielten. Darauf fuhren wir mächtig ab.
Manchmal kratzten wir unsere letzte Kohle zusammen und kauften uns ein paar Gramm »Roten Afghanen«. Wir drehten uns einen Joint und saßen nach dem »Stubendurchgang« (so eine Art Zapfenstreich um 22:00 Uhr) leise vorm Fenster unserer Bude. Und dort zogen wir uns dann das Ofenrohr rein. Ich hab immer darauf gewartet, dass ich davon wahnsinnig high werde. Aber außer ein paar bunten Träumen war da nix! Wahrscheinlich, weil die Dealer das Zeug mit Hasenkötteln gestreckt hatten. Das vermuteten wir jedenfalls.
Wir waren irgendwie wie Brüder und auch alle Unternehmungen außerhalb des Lehrlingsheims verbrachten wir zusammen.
Es gab da so einen Schuppen - den Namen weiß ich leider nicht mehr. In dieser dunklen Kaschemme wurde die progressive Musik, auf die wir abfuhren, gespielt. Und der Kellner hatte nichts dagegen, wenn man mit vier Mann zusammen eine Cola bestellte. Denn aus Kostengründen musste das Getränk für den ganzen Abend reichen.
So hingen wir in dieser dunklen Spelunke ab, zogen uns die Musik rein, wackelten mit den Köpfen - und fanden das Geil!
Wir ließen unsere Haare schulterlang wachsen und trugen voll bescheuerte Klamotten - bunt und eng! Und unsere trendigen Finripp-Cordhosen wurden abends per Hand mit Nadel und Faden noch enger genäht, so dass zum Anziehen fast Schuhanzieher erforderlich waren. Dazu trugen wir Schnürstiefel aus Wildleder. Wir hielten uns für obercool!
Eines Tages bin ich dann, inspiriert durch unsere musikalischen Idole, angefangen selber Musik zu machen. Ausschlaggebend war, dass ich auf dem Sperrmüll eine alte kaputte Gitarre fand. Das Teil hatte nur noch zwei Saiten - die beiden dicksten. Also ab damit in den Werkraum des Lehrlingsheims. Und mit estwas Leim wurde dieser »Eierschneider« so zusammengepappt, dass er als Instrument wieder einigermaßen zu gebrauchen war.
Klaus hatte schon drei oder vier Akkorde gelernt und besorgte sich ebenfalls eine gebrauchte Klampfe. Und so zimmerten wir mit Inbrunst darauf rum. Solange, bis wir meinten, dass wir noch unbedingt einen Schlagzeuger bräuchten. Eine Band ohne Schlagzeuger – das ist wie ne Frau ohne Titten, hatte ein Mitbewohner mal angemerkt.
Heinz – in einer Ausbildung als Handelsgutverpacker - hatte sein Faible fürs Trommeln entdeckt und wollte bei uns einsteigen. Pech war allerdings, dass er keine Trommeln besaß. Aber er hatte zwei Esslöffel! Und damit bearbeitete er die Matratze seiner Schlafstatt, während wir auf zwei klapprigen Hockern unsere Klampfen zupften. So entstand unsere erste Band. Name: »Hot Stove«!
Mit einem alten Tonbandgerät, das wir gemeinsam in einem Pfandhaus erworben hatten, nahmen wir unsere musikalischen Ergüsse auf. Die ersten 30 Minuten der Radau-Aufnahme nannten wir dann »Erste Scheiße«. Ein absolut aussagekräftiger Titel, fanden wir. Wie am Namen der Aufnahme bereits zu erkennen, war das nur ein wildes Geschrammel, zu dem Kumpel Werner ein paar orgastische Laute beisteuerte.
Jeder bearbeitete sein »Instrument« so, wie es ihm gerade einfiel. Wahrscheinlich waren wir – ohne es zu wissen – die Erfinder des heutigen Krachsounds, der sich »Death Metal« nennt.
Wenn unser Heimleiter außer Haus war, sind wir mit unserem »Equipment« manchmal in den Speisesaal gegangen, weil dort nämlich noch ein Instrument stand - ein richtiges Klavier! Wir meinten im Ernst, dass wir mal Stars im »Heavy-Metal-Bereich« werden würden und dann jede Menge Mädels abschleppen könnten.
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Alle Bewohner des Lehrlingsheims bekamen einmalig pro Vierteljahr das Geld für eine Bahnkarte. Für eine Wochenendfahrt nach Hause, zu unseren Eltern.
Da ich, wie gesagt immer klamm war, kassierte ich die Kohle - keine Ahnung mehr, wie viel das jeweils war - und blieb lieber im Heim. Klaus, der sein Elternhaus in Flensburg hatte, sackte seine Auszahlung ebenfalls ein. Nur Werner und Heinz - einer aus der Eifel, der andere aus dem Sauerland – kauften sich eine Fahrkarte und düsten diesen Freitagabend zu Mama und Papa.
An diesem Wochenende passierte nichts Besonderes. Und so gammelten Klaus und ich den ganzen Tag in der City von Wuppertal rum und warteten darauf, dass unsere Kumpels am Sonntagabend wieder eintrudeln würden. Doch zu unserer Überraschung stand Werner am Sonntag bereits schon gegen Mittag wieder auf der Matte. Was war passiert?
Werner erzählte uns ganz aufgeregt - er war ein glühender Fan des 1.FC Köln - dass er im Fußball-Toto alle elf Spiele richtig getippt hatte (Sieg, Unentschieden, Niederlage).
Wir waren natürlich aus dem Häuschen und wollten seinen damit verbundenen Reichtum irgendwie feiern. Also wurde alles Geld, das wir noch hatten, zusammengeschmissen - so etwa 60 Mark. Und Werner wollte uns die Kohle dann bei Gewinnausschüttung zurückzahlen, denn bei elf Richtigen kamen in der Regel einige Tausend Mark zusammen.
Wir gingen also in eine Kneipe am Hauptbahnhof und orderten mehrere Fuhren eines alkoholischen Gebräus mit dem Namen »Asbach Uralt«. Bereits nach einer halben Stunde waren wir so abgefüllt und breit, dass wir beim Verlassen der Lokalität kaum durch die Kneipentür passten!
Während des Fußmarsches zurück zu unserer Unterkunft, haben wir uns dann wegen plötzlich aufkommender Übelkeit, mehrfach übergeben müssen.
Es ging uns am nächsten Tag, gelinde gesagt, beschissen. Und so beschlossen wir am Morgen, gemeinsam unseren Hausarzt aufzusuchen, um der Arbeit aus gesundheitlichen Gründen fernzubleiben.
Zu allem Übel kam zusätzlich am Dienstag das böse Erwachen, als die Gewinnquoten der Toto-Wette in der Zeitung standen.
Ganze 115 Mark hatte Werner gewonnen!! Die Spiele (DFB-Pokal) waren nämlich zum größten Teil 1. Liga gegen Amateure. Und eine Menge Tipper hatten an dem Spieltag die richtigen Ergebnisse vorausgesagt und ebenfalls elf Richtige. Werners Träume vom Leben als Lotto-Millionär lösten sich in Luft auf. Er war allerdings trotzdem so kulant, uns das in Asbach-Uralt umgesetzte Geld zurückzuzahlen.
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Gegenüber vom Lehrlingsheim war an einer Gebäudewand einer dieser zahlreichen Automaten angebracht, die nach Einwurf einer 1-DM-Münze, Zigarettenschachteln ausspuckten. Der Automat hatte im unteren Bereich eine Reihe kleiner Schubläden. Und über der jeweiligen Schublade war ein Etikett platziert, welches die entsprechende Zigarettenmarke anzeigte. Wir favorisierten die Fächer mit den Marken »HB« bzw. »CAMEL« und versorgten uns aus diesem Automaten mit unseren Glimmstängeln. Auch die anderen Heimbewohner, die dem blauen Dunst frönten, bedienten sich aus ihm.
Eines Abends war es mal wieder soweit, dass Klaus sagte: «Ich hol mir mal was zum Schmöken.«
Nach fünf Minuten war Kläus`chen mit einer Packung HB zurück und erzählte, dass ihm ein großartiger Gedanke gekommen war. Er hatte sich, nachdem die Zigarettenschublade geöffnet war und er seine Schachtel entnommen hatte, einen passenden Stein geschnappt, in die noch geöffnete Schublade gelegt, und dieselbe anschließend geschlossen. Jetzt konnte keine neue Packung nachrutschen. Und wenn dann jemand sein Geldstück eingeworfen hatte und die HB-Schublade aufzog, hatte er zwar keine Zigaretten - dafür aber einen wunderschönen Stein.
Wir konnten uns bei der Vorstellung des dämlichen Ausdruckes auf dem Gesicht des Hereingelegten, vor Lachen kaum mehr einkriegen und lauerten am Fenster unseres Zimmers - mit einwandfreier Sicht auf den Kippen-Automaten. In Erwartung, dass bald so ein Idiot Zigaretten holen würde. Leider waren aber wohl an diesem Abend alle Bewohner der Straße mit Glimmstängeln versorgt. Der Automat fand auf jeden Fall keine Kundschaft mehr.
Tja, hatte nicht geklappt. Und so vergaßen wir den Streich bereits am nächsten Tag.
Zwei Tage später war es wieder soweit. Wir zimmerten gerade auf unseren Gitarren, als Klaus feststellte, dass er keine Zigaretten mehr hatte. Er machte sich also auf die Socken, um ein Päckchen zu holen und kurze Zeit später war er wieder da. Aber nicht mit Zigaretten - sondern mit seinem Stein!
Gewohnheitsmäßig hatte er nach Einwurf des Münzgeldes die HB-Schublade gezogen und nicht mehr daran gedacht, dass er wohl doch der einzige HB-Raucher der Straße war.
Wir hätten was darum gegeben, das Gesicht von Klaus in der Sekunde der Erkenntnis zu sehen! Und selbst jetzt schaute er noch ziemlich bedeppert!
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Doch zurück zu der Ausbildung in der Lackfabrik. Ich hatte also das erreicht, was ich wollte. Eine Lehrstelle als Chemikant bei der Firma Dr. Kurt Herberts. Aber sehr schnell wurde mir klar, dass es im Berufsleben selten so ist, wie man es sich als Schulabgänger vorstellt.
Wir Lehrlinge des 1. Ausbildungsjahres mussten die ersten acht Monate - von morgens ab 8 Uhr, bis nachmittags 17 Uhr - die Schulbank der unternehmenseigenen Herbertsschule drücken. Mit meinen erhofften »Krach-Bumm-Zisch-Erlebnissen« wurde es erstmal nichts. Außer einer kurzen Besichtigung der Herberts-Werke sahen wir nichts von dem, was einmal unseren Beruf ausmachen sollte. Jetzt war vorerst Pauken angesagt.
Chemie, Physik, Mathematik, Rohstoffkunde. Dazu Wochenberichte, Monatsberichte, Jahresberichte. Mir rauchte der Schädel!
Die Mehrzahl der Lehrlinge - heute heißt das Auszubildende - verfügte über einen Realschulabschluss. Außer mir hatten nur noch drei andere Jungs die minderwertige Hauptschule besucht. Und aufgrund ihrer Schulbildung in den genannten Fächern hatten uns die Realschüler doch so einiges voraus, wie ich deprimiert feststellen musste.
Die anfängliche Begeisterung für die Laborausbildung war ebenso schnell verflogen, da wir die ersten Stunden nichts anderes machten, als aus Glasröhrchen, mit Hilfe von Bunsenbrenner und Atemluft, Pipetten zu blasen. Unsere Klasse - wir waren zwölf Auszubildende - entwickelte sich jedoch glücklicherweise schnell zu einer eingeschworenen Gemeinschaft. Jeder half jedem. Und sogar abends traf sich die komplette Meute zu gemeinsamen Unternehmungen.
Wir waren, wie schon gesagt, eine tolle Gemeinschaft von 14- bis 17-Jährigen. Ich war natürlich wie immer der Jüngste, aber trotzdem akzeptiert wie jeder andere auch. Außerdem hatten Klaus, Werner und ich den Vorteil, als Exoten angesehen zu werden. Der typische norddeutsche Slang von Klaus und mir kam bei den Rheinländern gut an. Werner kam aus der Eifel und grenzte sich durch seinen Akzent ebenfalls von den Eingeborenen des Bergischen Landes ab.
Im Laufe der Zeit nahmen wir Auswärtigen aber sehr schnell den Dialekt der Wuppertaler an, was mich wiederum, wenn ich mal Urlaub hatte, bei meinen ehemaligen Schulfreunden in Rendsburg zu einem Exoten machte.
Meine schulterlange Frisur und die Kleidung im rheinischen Style, machten bei meinen modisch zurückgebliebenen Rendsburger Kumpels enormen Eindruck. Denn deren Haare waren kurz und akurat gescheitelt. Plötzlich war ich den Rendsburger Jugendlichen um Lichtjahre voraus. Und das steigerte mein Selbstwertgefühl enorm.
Ja, für die Entwicklung meiner Persönlichkeit und für meinen Reifeprozess war Wuppertal genau das Richtige! Ich fühlte mich nicht mehr als Außenseiter und entwickelte mehr und mehr Selbstbewusstsein.
Die relative Selbständigkeit und Eigenverantwortung hatte allerdings auch einen Nachteil. Wenn man als 15-Jähriger kaum kontrolliert wird, dann kehrt ganz automatisch der Schlendrian ein. Und so kam es, dass ich des Öfteren am Wochenanfang nicht zur Arbeit, sondern zum Arzt ging. Ich erzählte ihm etwas von Magenschmerzen und hatte zehn Minuten später den »Gelben Schein« für eine Woche. Manchmal entstand bei mir der Eindruck, der Arzt würde an jeder Krankschreibung besonders gut verdienen. Klaus und Werner machten es mir nach. Und damit der Heimleiter nichts mitbekam von unserer Blaumacherei, verbrachten wir dann den Tag in der City von Wuppertal, gingen in Schallplattenläden und hörten uns durch deren Musiksammlungen.
Wenn unser Heimleiter dann aber doch spitzkriegte, dass wir uns hatten krankschreiben lassen, gab’s immer mächtig Ärger.
Der Lohn war nun auf 185 DM angestiegen, aber ich merkte ja nichts davon. Denn wie gehabt wurde das Lehrlingsentgelt immer noch an das Arbeitsamt überwiesen und mein karges Taschengeld wurde mir weiterhin vom Heimleiter ausgezahlt. Nur das Busgeld für die Fahrt zur Arbeit, das wir vom Arbeitsamt bekamen, erhöhte unser Budget. Denn wir fuhren grundsätzlich schwarz. Erwischt wurde ich jedenfalls nie.
Am Dienstag der Woche war Unterricht in der Herberts-Schule und Donnerstags verbrachten wir in der Berufsschule. So blieben für den Einsatz in den jeweiligen Produktions-Abteilungen nur drei Tage übrig.
Ich wurde nun in verschiedenen Abteilungen eingesetzt. Die Einsätze dauerten im Durchschnitt maximal vier Wochen, dann wechselten wir in die nächste Abteilung. Dieser Umstand brachte natürlich mit sich, dass man kaum Zeit hatte, mit den Kollegen im Betrieb richtig warm zu werden. Man lief so mit und durfte nur wenige selbständige Arbeiten machen. Das war natürlich ziemlich unbefriedigend.
Die einzige Ausnahme, an die ich mich erinnere, war mein Einsatz im Betriebslabor. Der Laborleiter war ein Mann mit enormem Fachwissen und einer Allgemeinbildung, die mich beeindruckte. Ich hatte in der Zeit tolle Gespräche mit ihm, und er ließ mich sehr viele Arbeiten selbstständig in der Rezeptbearbeitung durchführen. Sogar die Qualitätsprüfungen der Muster, welche aus dem laufenden Produktionsprozess kamen, führte ich in Eigenregie durch.
Aber ein paar Wochen später musste ich in die nächste Abteilung. Und der Frust begann von neuem.
Irgendwann kam der Zeitpunkt, an dem ich mich fragte, ob dieser Beruf wirklich der Richtige für mich sei. Ich war jetzt mitten im zweiten Lehrjahr und hatte ehrlich gesagt keinen Bock mehr. Aber jetzt hinschmeißen? Dann wären die letzten zwei Jahre vergeudet gewesen. Und etwas anderes lernen? Nochmal von vorne anfangen? Nein, das wollte ich wiederum auch nicht.
Da kam mir eine Idee! Am Ende des Lehrjahres machten diejenigen aus meiner Klasse, die nicht Chemikant, sondern Chemielaborwerker lernten, ihre Abschlussprüfung. Mein Kumpel Werner gehörte zu denjenigen.
Die Chemielaborwerker lernten zwei Jahre fast das Gleiche wie die Chemikanten. Dabei wurde die betriebliche Ausbildung allerdings auf das nötigste reduziert. Sie machten dann, zu Ende des zweiten Lehrjahres ihre Prüfung und konnten anschließend im Labor arbeiten. Während die Chemikanten neben der Laborausbildung noch eine betriebliche Ausbildung erhielten, um in der Prozess-Steuerung die großen Anlagen zu überwachen und zu bedienen.
So marschierte ich also in das Büro des Ausbildungsleiters Herrn Dr. Essner. Er sollte meinen Ausbildungsvertrag einfach umschreiben. Kann doch kein Problem sein, dachte ich. Aber Pustekuchen!
Essner war von meinem Ansinnen nicht besonders angetan, und erklärte mir die Vorteile der längeren Ausbildung. Ich hätte doch nur noch ein Jahr vor mir und wäre dann auch höher qualifiziert, versuchte er mir klar zu machen. Ich kam bei dem Mann einfach nicht weiter.
Nun nahm ich einen zweiten Anlauf und schrieb einen längeren Brief an meine Eltern, in dem ich ihnen meine Absichten ausführlich erklärte.
Knapp eine Woche später kam dann die Antwort - abgelehnt! Meine Möglichkeiten waren ausgeschöpft. Also mal wieder, Augen zu und durch!
Im Nachhinein bin ich natürlich froh, dass ich meine Lehre weiter fortgeführt habe. Wahrscheinlich kommt jeder jugendliche Auszubildende an den Punkt, an dem er merkt, dass es mit dem Traumberuf nicht so ist, wie man es sich als ahnungsloser Berufsanfänger in seiner Fantasie vorstellt.
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Eines Abends rief mich Herr Rauffmann, unser Heimleiter, zu sich.
Na, dachte ich, was hab ich nun schon wieder ausgefressen?
Es stellte sich heraus, dass er nur ein wenig mit mir plauschen wollte. Wie es mir denn so geht, ob die Stubengemeinschaft klappt.
»Nee, alles bestens - keine Probleme.« Dann belangloses Geschwafel über meine Interessen - welche Musik ich denn so mag. Das Übliche was Erwachsene so fragen, um die Basis für eine gewisse Vertrautheit zu erlangen. Ja und dann, ob ich schon mal Haschisch geraucht hätte - und wenn ja, wie sowas denn wäre - weil ihn das echt interessieren würde. Sind die Wirkungen denn so toll, wie man so erzählt?
»Naja«, sagte ich, »einen Joint habe ich mal probiert, aber das Teil hat überhaupt nichts ausgelöst. War wie normales Zigarettenrauchen. Nix für mich.«
Nach diesem Gespräch mit Rauffmann bin ich dann wieder in die Bude, um mit meinen Kumpels abzuhängen. Die waren gerade in ein paar Pornohefte vertieft, die irgendjemand auf der Toilette liegengelassen hatte.
»Na, was wollte der Alte?«, fragte Werner. »Ach, nichts Besonderes. Hat nur gefragt, wie es mir geht und so. Und ob´s Probleme gibt. Bestimmt fragt er das jeden. Ihr kommt sicher auch noch dran«, antwortete ich.
Die Kumpels machten sich keine weiteren Gedanken - und widmeten sich wieder aufmerksam den auf dem Tisch liegenden Heftchen.
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Im Lehrlingsheim gab es strenge allgemeine Regeln. Täglich ab 22:00 Uhr war Bettruhe angesagt. Diese Regelung galt für alle Bewohner unter 18 Jahren. Nur diejenigen, die über 18 Jahre alt waren - davon gab es vielleicht zwei oder drei - hatten einen Hausschlüssel und unbeschränkten Ausgang.
Rauffman machte also kurz vor 22 Uhr seinen Stubendurchgang.
Jeweils ein Bewohner der Stube - der sogenannte Stubendienst - musste beim Eintreten des Heimleiters kerzengerade vor dem Fenster stehen, und wie bei der Bundeswehr melden, dass die Stube »gereinigt, gelüftet, alle Insassen anwesend und in den Betten seien«. Daraufhin prüfte Herr Rauffmann, ob dem auch so wäre. Spähte in alle Ecken des Zimmers und prüfte die Ordnung und Sauberkeit.
Am Wochenende, genauer gesagt am Samstagmorgen nach dem Frühstück, wurden vom Heimleiter die Revierdienste eingeteilt. Jeder bekam einen Bereich zugeteilt - im oder um das Haus herum - der gereinigt werden musste. Treppen wischen, Flure bohnern, Teppiche klopfen, Unkraut zupfen, Scheißhäuser reinigen - und vieles mehr.
Nach etwa zwei Stunden wurde von Rauffmann eine akribische Abnahme der »Reviere« durchgeführt, und eventuell vorhandene Mängel mussten nachgearbeitet werden.
Die exakt gleiche Prozedur erlebte ich Jahre später - als Soldat bei der Bundeswehr.
Die Teilnahme an den gemeinsamen Mahlzeiten im Lehrlingsheim war absolute Pflicht. Bei Nichtanwesenheit gab’s für den Abtrünnigen empfindliche Strafen - Ausgangssperre, Streichung der Heimfahrt. Dass im Speisesaal pünktliches Erscheinen unumgänglich war, versteht sich also von selbst.
Beim Eintreten des Heimleiters hatten sich alle von ihren angestammten Plätzen zu erheben und erst auf Anweisung wieder zu setzen. Dann hielt Herr Rauffmann eine Ansprache, las irgendeinen klugen Spruch aus einem Kalenderblatt vor, und verteilte öffentliche Anschisse an diejenigen, die gegen Regeln verstoßen hatten.
Beendet wurden die Mahlzeiten in ähnlicher Art. Küchendienste wurden bestimmt, welche die Tische abräumten, das Geschirr abwuschen und dem regulären Küchenpersonal zur Hand gingen.
Doch vor dem allen war Postausgabe. Herr Rauffman teilte die eingegangenen Briefe aus. Jeder wartete sehnsüchtig auf Post von Zuhause und hoffte, in den empfangenen Briefen den einen oder anderen kleinen Geldschein zu finden. Eines der Highlights des Tages!
Etwa eine Woche nach dem persönlichen Gespräch mit dem Heimleiter wurde auch mein Name bei der Postausgabe ausgerufen. Ein Brief von zuhause!
Die Freude über den Brief verflog jedoch sofort, als ich die ersten Zeilen las. Meine Mutter war von Herrn Rauffmann angerufen worden und er teilte ihr mit, dass der Herr Sohn Rauschgift konsumiert. Und nun beschimpfte sie mich in übelster und verletzender Weise. Da stand z. B. unter anderem, dass ich nicht mehr ihr Sohn sei, usw.
Ich war völlig deprimiert und zutiefst gekränkt. Was konnte ich tun? Aus einer Telefonzelle zu Hause anrufen und in zwei Minuten ein ausführliches Gespräch der Erklärung führen?
Ich hatte ja keine Kohle, um den Apparat in der Telefonzelle zu füttern.
Ich ging aus dem Haus, schlenderte ziellos durch Wuppertal, dachte nach, und redete mit mir selbst. Diese Selbstgespräche halfen mir merkwürdigerweise mich zu entspannen und es ging mir etwas besser.
Seit diesem Abend habe ich das bis heute beibehalten. Wenn ich kleine oder große Probleme habe, rede ich noch heute oft mit mir selbst. Es hilft mir tatsächlich Frust loszuwerden, oder Lösungen für Probleme zu finden. Denn es gibt wohl niemanden, der mir so intensiv zuhören kann wie ich mir selbst.
Am nächsten Tag schrieb ich meiner Mutter ebenfalls einen Brief und versuchte ihr zu erklären, dass die Aussagen des Heimleiters nicht zutreffend waren. Aber eine Antwort darauf bekam ich nicht!
Es verging einige Zeit, und ich fuhr an einem Wochenende nach Hause. Erst dort konnte ich mit meiner Mutter, in einem sehr schwierigen Gespräch, die Wogen glätten. Mein Vater sah das alles, im Gegensatz zu Mutti, nicht so verkniffen. Aber er hielt sich einfach raus.