Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 4
Kapitel 2: Die ersten Jahre
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Am 7. Januar, einem verschneiten und eisigkaltem Wintertag des Jahres 1955, erblickte ich das Licht der Welt. Ich war, so sagte mein Vater spaßeshalber immer, ein sogenanntes »Heimkehrer-Paket«.
Zu jener Zeit lebten meine Eltern in einem Holzbarackenlager am Ortsrand. Das hatte man notdürftig erstellt, um den Scharen von ostpreußischen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu bieten. Unsere zugeteilte Baracke bestand aus einem mittelgroßen Raum mit Kochecke - tja, sonst war da nichts. Und hatte jemand das Bedürfnis seine Notdurft zu verrichten, musste er nach draußen, und nahm auf bereitgestellten Plumps-Klos Platz.
Damals herrschten noch Winter mit Kälte und viel Schnee, in denen der Toilettengang nicht besonders komfortabel und gemütlich war. Toilettenpapier gab es zwar. Aber um dieses zu kaufen, musste man etwas besitzen von dem meine Eltern äußerst wenig besaßen - nämlich Geld. Und so wurden, aus Spargründen, ersatzweise alte Zeitungen in passende Stücke gerissen und neben dem Plumps-Klo deponiert. Diese Tätigkeit und das Drehen von Zigaretten, mit Tabak der Marke »Holland-Shag«, füllte einen Teil der wenigen Freizeit meines Vaters aus, wenn er spät abends, kaputt von der Arbeit, nach Hause kam.
Vater hatte seinen Job als »Zitzen-Massierer« in der heimischen Landwirtschaft aufgegeben und war als Quereinsteiger - so würde man das heute wohl nennen - zum Straßenbau gewechselt. Diese Anstellung brachte etwas mehr Geld ein, und Vati nutzte die Möglichkeit, das karge Einkommen mit massenhaft anfallenden Überstunden aufzubessern. So arbeitete er oft vom frühen Morgen bis in die späten Abendstunden.
Manchmal, wenn die Baustelle im Stadtgebiet lag, machte sich meine Mutter mit mir auf den Weg, und wir brachten ihm abends sein warmes Essen zur Baustelle. Während mein hungriger Vater im mitgebrachten Henkelmann löffelte, saßen wir noch eine Weile bei ihm. Und dann erklärte er mir die gewaltigen Baumaschinen, die um uns herumstanden.
Meine Geschwister waren mittlerweile ins Rheinland umgesiedelt. Dort gab es weitaus mehr Möglichkeiten, eine gute Anstellung zu finden. In unserer Einraum-Baracke wäre auch gar kein Platz für die komplette Familie gewesen. Meine jüngste Schwester Ursel war zu meiner Geburt immerhin schon 17 Jahre alt. Waltraud war 18, Edith 19, Heinz 20 - und Ernst, der Erstgeborene, zählte bereits 21 Lenze. Dieser Altersunterschied war wohl auch der Grund, weshalb ich eigentlich immer mehr ein Tante- bzw. Onkelverhältnis zu meinen älteren Geschwistern hatte.
Etwa drei Jahre nach meiner Geburt wies man uns dann endlich eine richtige Wohnung zu. Fließend Wasser gab’s im ganzen Dorf zwar immer noch nicht, doch im Hof war eine Schwengelpumpe vorhanden. Mit der konnte man per Muskelkraft frisches Wasser aus einem Brunnen holen. Aber das gewohnte Plumpsklo war immer noch allgegenwärtig.
Mutter übernahm in dem Wohngebäude, in der mehrere Familien wohnten, die Stelle des Hausmeisters. Dadurch konnte die Höhe der Miete etwas gesenkt werden. Und was nicht zu verachten war - wir hatten sogar etwas Gartenland, das meine Eltern zum ökologischen Kartoffel- und Gemüseanbau nutzen konnten. Der benötigte Naturdünger kostete nichts. Den produzierte unser Plumpsklo in ausreichender Menge.
Einen richtigen Draht zu der Mietergemeinschaft fanden meine Eltern allerdings nie - Ostflüchtlinge waren nicht besonders beliebt. Und von der späteren so oft zitierten Spaßgesellschaft waren wir ebenfalls Lichtjahre entfernt.
Doch gefühlt ging es nun langsam aufwärts.
Ja, ich erinnere mich noch erstaunlich gut an die damalige Zeit. Sogar bis weit in meine frühe Kindheit.
Als ich zum Beispiel ungefähr drei Jahre alt war, besaß ich einen Plüschbären. Er hatte keinen besonderen Namen. Er hieß einfach nur »Teddy«. Teddy war mein liebster Freund. Ihm erzählte ich alles, was mich kleinen Knirps beschäftigte. Und wenn ich in seine braunen aufgenähten Knopfaugen blickte, war ich überzeugt davon, dass er mich verstehen würde. So schleppte ich ihn in meiner kleinen Armbeuge immer mit mir herum und nachts schlief er bei mir in meinem Bett. Allmählich wurde er jedoch immer abgewetzter. Doch ich liebte ihn trotz der vielen Stellen, an denen sein kurzes Fell bereits abgerubbelt war. Schon damals waren in meinen Augen Äußerlichkeiten nur zweitrangig. Denn das Wichtigste, die Liebe, kommt immer nur von innen.
Doch dann verlor Teddy eines Tages einen Arm. Und aus der Öffnung, dort wo der Arm gewesen war, ragte die Strohfüllung heraus.
Meine Mutter nähte ihn wieder an. Aber von Dauer war dieser Zustand leider nicht. Ein paar Wochen später - und der Arm war wieder ab. Mutti meinte, wir sollten ihn nun endlich in den Müll tun. Ich konnte und mochte mich allerdings nicht von ihm trennen, weinte, und wollte ihn nicht hergeben.
Dann war er eines Tages plötzlich verschwunden. Ich suchte nach ihm, aber er war nicht mehr da. Mutti hatte ihn einfach entsorgt.
»Der war doch kaputt. Ich schenk Dir einen Neuen«, tröstete sie mich. Ich aber wollte keinen Neuen. Ich wollte MEINEN Teddy wiederhaben.
Teddy war wohl so ziemlich das Erste in meinem Leben, das ich liebte, niemals hergeben wollte, und trotzdem verlor.
Damals ahnte ich nicht, dass ich in meinem späteren Leben noch vieles, was ich liebte und was mir wichtig war, verlieren sollte.
**********
Irgendwann in dieser ärmlichen Zeit, leistete sich mein Vater einen unvorstellbaren Luxus. Einen Fotoapparat mit der Markenbezeichnung »Agfa-Klack«. Ein klobiges rundliches Ding. Der Apparat musste, wenn der Auslöser betätigt wurde, extrem ruhig gehalten werden. Andernfalls waren die Fotos dermaßen verwackelt, dass kaum noch etwas zu erkennen war. Wenn man ihn jedoch ruhig hielt und dann der Knopf gedrückt wurde, machte es unüberhörbar »Klack!«
Ich wurde in allen erdenklichen Situationen fotografiert. Was bewies, dass meine Eltern eine gewisse Begeisterung für mich entwickelt hatten. Ich war eben der Nachzügler. Und, das behauptete meine Mutter jedenfalls, ein aufgewecktes Kerlchen.
Trotz permanenter Knappheit in der Haushaltskasse wurde für mich in die aktuellsten Outfits investiert. So wurde ich mal in einen Matrosenanzug, oder auch in eine Lederhose mit passender Jacke und Filzhütchen gesteckt. Diese Montur nannte man Ende der 50er Jahre »Seppl-Anzug«. Damals der neueste Chic!
Für Spielzeug blieb dann allerdings nicht viel übrig. Ich erinnere mich aber, dass ich irgendwann später - zu Weihnachten - ein Gewehr bekam, mit dem man Korken abschießen konnte. Und einen Cowboyhut nebst Weste, mit passendem Pistolenhalfter. Der Hit zu der Zeit war es nämlich, in der umliegenden Wildnis Höhlen zu bauen und sich dem »Cowboy-und-Indianer-Spiel« hinzugeben. Heute nennt sich sowas »Ego-Shooter« und wird am Computer gespielt.
Nun hatte ich also die passende Ausrüstung und konnte wenigstens in diesem Fall mit meinen Altersgenossen aus unserem Dorf mithalten.
Wir Kinder hielten uns größtenteils draußen auf. Es war egal, ob die Sonne schien, ob es schneite oder regnete. Wir waren immer an der frischen Luft. Und auf alles waren wir neugierig. Das Leben war ungemein spannend! Und am interessantesten waren natürlich alle Dinge, die nicht erlaubt waren. Einer der wenigen Zustände, die sich auch bis heute kaum geändert haben.
Damals hatten die Bauern ihre Höfe noch direkt im Dorf. Erst Jahre später - im Rahmen der Flurbereinigung - wurden sie in die Nähe ihrer Felder umgesiedelt.
Daher ergab sich natürlich für uns Kinder die Möglichkeit, in den Scheunen der Landwirte auszukundschaften, was es doch für interessante Landmaschinen gab. Trecker, Mähdrescher, Viehanhänger und sonstige Geräte. Und die eigneten sich hervorragend zum Spielen. Dass man sich nicht erwischen lassen durfte, gab uns noch den zusätzlichen Kick. Wenn der Bauer uns allerdings doch manchmal auf frischer Tat ertappte, gab’s vor Ort direkt die erste Ohrfeige und anschließend zuhause die Zweite von den Eltern.
Besonderen Spaß machte es, in den Heuhaufen auf den Koppeln herumzutoben. Sie waren so herrlich weich und man konnte sich prima darin verstecken. Dazu kam noch dieser einzigartige, unbeschreibliche Duft des warmen Strohs.
Eines Tages nahmen zwei Freunde und ich wieder mal so einen Haufen in die Mangel. Wir kletterten nach ganz oben in die Spitze und sprangen umher.
Was wir jedoch nicht sehen konnten, war der Stacheldraht auf der Zaunbegrenzung. Denn durch unsere Herumbalgerei hatten wir den Heuberg schon ziemlich auseinandergewühlt. Und große Teile vom Stroh hatten sich bis über den Weidezaun verteilt.
Wir hüpften hin und her und ich sprang vom oberen Punkt des Heubergs, hinunter in den durchwühlten unteren Bereich. Immer wieder und wieder.
Ein stechender Schmerz zog durch meinen rechten Oberschenkel.
Ich war mitten in den Stacheldraht gesprungen - alles war voller Blut. Als ich dort hinsah, von wo der Schmerz kam, durchfuhr mich ein riesiger Schreck. Der Draht hat mein rechtes Bein zwischen Oberschenkelhals und Knie aufgeschlitzt. Kleine Fleischfetzen hingen aus dem Spalt an meinem Bein. Ich stand völlig unter Schock! Und meine Kumpels schleppten mich weinend und blutend nach Hause.
Mutter war entsetzt. Aber anstatt tröstender Worte gab’s eine schallende Ohrfeige. »Was fällt Dir ein, den Bauern das Heu zu zertrampeln!« Dann holte sie den Verbandskasten aus einer Schublade, nestelte eine Binde und Pflaster heraus und versorgte meine Wunde. Ich heulte immer noch, denn es tat fürchterlich weh. Normalerweise hätte die Verletzung an meinem Bein sofort genäht werden müssen, aber Mutti benötigte nur einen großen Pflasterstreifen. Zum Arzt brachte sie mich nicht.
**********
Ich war fast fünf Jahre alt, als mein Bruder Axel geboren wurde – Kind Nummer Sieben.
In der Hoffnung einen Spielkameraden zu bekommen, konnte ich es gar nicht erwarten, dass der »Klapperstorch« endlich mit dem ersehnten Geschwisterkind zur Landung ansetzt. Leider kann ich mich nicht mehr entsinnen, ob ich tatsächlich an diesen fliegenden Baby-Transporteur geglaubt habe.
Aber dann war er da! So ein kleiner Kopf. Und auch der Rest - so winzig. Die Erwartung jetzt einen Kumpel zu haben, wurde vorerst leider durch den permanenten Zustand von Babygeschrei und vollgekackten Windeln zunichtegemacht. Pampers gab’s zu der Zeit nicht, so dass diese gut gefüllten Stoffwickel das ohnehin zahlreiche Schmutzwäscheaufkommen immens steigerten.
Aber Brüderchen wuchs. Und das ließ mich dann irgendwie wieder hoffen.
Der nächste Höhepunkt meines jungen Lebens ereilte mich an meinem sechsten Geburtstag. Nachdem ich die üblichen Geschenke in Form von Socken, Hemden und sonstiger Grundbekleidung überreicht bekam, sagte mein Vater: »So, jetzt gehen wir in die Stadt zum Kaufhaus Grimme - und kaufen Dir ein Fahrrad.«
Ich glaube, dass ich später in meinem Leben dieses entstehende Glücksgefühl nur hatte, als ich mit meiner Frau vor dem Traualtar stand. Oder als meine Kinder geboren wurden. Einfach unbeschreiblich!
Wir kauften den Drahtesel. Ein Jungenfahrrad mit Stange - in Silber und Rot. Und ich durfte die ca. 5 km Wegstrecke nach Hause schon mal fahren üben. War garnicht so einfach. Aber durch mein Gefühl der Glückseligkeit wurde ich trotz einiger, wenn auch schmerzhafter, Stürze immer sicherer.
Jetzt verbrachte ich meine Zeit nur mit einer Sache – Fahrrad fahren!
Als ich drei Monate später eingeschult wurde, bekamen alle Schulanfänger zur Begrüßung ein Kärtchen mit ihren Namen zugesteckt. Auf diesem Kärtchen war zusätzlich ein kleines gezeichnetes Bild, welches etwas über die Eigenarten des Kindes aussagen sollte. Und auf meinem Kärtchen war ein Junge auf einem Fahrrad!
Ja, die Lehrer kannten ihre neu ankommenden Schüler bereits. Auch das war eine der Besonderheiten des dörflichen Lebens - am Anfang der 60er Jahre.
Ich wurde Ostern 1961 in die Volksschule Osterrönfeld eingeschult. »Volksschule« heißt heute Grund- und Hauptschule. Als weiterführende Schulen gab es die »Mittelschule« sowie die »Oberschule«.
Unsere Lehranstalt war eine kleine Dorfschule mit acht Klassen. Allerdings war diese in der Regel mit maximal 15 Schülern pro Klasse gefüllt und der Unterricht fand noch an sechs Tagen, also auch Samstags, statt.
Die damaligen Lehrer waren ausnahmslos sehr streng, und des Öfteren gab’s Ohrfeigen. Oder schmerzhafte Züchtigungen mit dem Zeigestock.
Die bunten modischen Schultaschen der heutigen Grundschüler gab es ebenfalls noch nicht. Unsere Taschen hießen »Ranzen« oder »Tornister« und waren aus echtem Leder, also sehr haltbar. Gefüllt nur mit dem Nötigsten - Schiefertafel, Kreidegriffel, Lesebuch, Rechenbuch. Dass ich im Alter Rückenprobleme bekommen sollte, kann also nicht an der Schwere unserer Schultaschen gelegen haben.
Später kamen noch Buntstifte, Lineale und Füllfederhalter dazu.
Auch achteten die Lehrer extrem auf Sauberkeit und Ordnung. Und so mussten die, von der Schule zur Verfügung gestellten Bücher, akkurat in Packpapier eingeschlagen sein. Mutti konnte das besonders gut. Liegt wohl in der weiblichen Natur, denn Frauen können auch Geschenke immer besser verpacken. Männer tun sich in dieser Beziehung oft sehr schwer.
Fräulein Szutnakowski war meine erste Klassenlehrerin. Eine resolute männerlose Endvierzigerin von kleiner drahtiger Statur, mit festem hochgestecktem Haarknoten und Nickelbrille. Eine, für uns Kinder, absolute Respektsperson. Und das war sie nicht nur für die Schulanfänger, sondern auch für die Schüler der oberen Klassen.
Und weil ich gerade von Respektspersonen rede - bei uns im Dorf war das ganz klar geregelt. Die Personen, die am meisten zu sagen hatten, waren der Rektor der Schule und seine Lehrer, der Bürgermeister, der Dorfpolizist und nicht zu guter Letzt - der Wirt des Dorfkrugs.
Vor diesen Honorigkeiten hatten wir Schüler einen mächtigen Respekt. So war auch die Redewendung gang und gäbe, wenn wir gegenüber Erwachsenen Missfallen erregten: »Das sag ich Deinem Lehrer!« Und dann setzte es tatsächlich am nächsten Tag in der Schule Prügel.
Einen Vorteil gegenüber der heutigen Schülergeneration hatten wir dadurch allerdings. Wir wussten zwischen Anständigkeit, Unanständigkeit, und anderen Verhaltensregeln sehr gut zu unterscheiden.
Dabei fällt mir ein - während der Schulzeit meiner Tochter, entdeckte ich an ihrer Schultasche einmal einen Aufnäher, den sie dort selbst angeheftet hatte. Er trug die Aufschrift »Lernen durch Schmerz«. Der Erfinder dieses Spruches muss wahrscheinlich meine damalige Klassenlehrerin gewesen sein!
Ich denke ich war ein braver, ordentlicher Schüler. Doch auch an mir ging der Kelch der körperlichen Züchtigung nicht vorüber. Hinzu kam, dass es auch zuhause wegen niederer Vergehen zusätzlich mächtig Prügel setzte.
Mein Vater ging dabei äußerst rabiat vor. Er hatte noch aus Wehrmachtszeiten einen Ledergürtel, den er als Erziehungshilfe für meinen Bruder und mich regelmäßig nutzte. Und das Besondere daran war das Koppelschloss. Darauf stand nämlich in altdeutschen Lettern »Gott mit uns«. Die Schmerzen, die dieser Riemen verursachte, sorgten dafür, dass ich schon in früher Kindheit ein etwas zwiespältiges Verhältnis zu Gott entwickelte.
Mutter bevorzugte übrigens für Bestrafungen den Kochlöffel.