Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 5
Kapitel 3: Waschtag und ein Schwein
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Mein Bruder Axel entwickelte sich für meine Eltern zu einem anstrengenden Bürschchen. Denn er war relativ resistent gegen elterliche Vorschriften. Und obwohl er vor den häuslichen Prügeln fürchterliche Angst hatte, nahm er sie doch immer wieder in Kauf.
Es gab zu jener Zeit absolut klare Bekleidungsregeln. Sonntags wurden wir zum Beispiel mit unseren »Guten Sachen« rausgeputzt. Diese Art von Uniform war, um sie zu schonen, nur dem Sonntag vorbehalten. Und auch - damit nachkommende Generationen diese dann eventuell weitertragen konnten.
Sie bestand aus weißen Hemden, gestärkt und gebügelt, am besten in Verbindung mit einer Fliege. Und Stoffhosen mit solch scharfen Bügelfalten, dass man sich daran fast Schnittwunden holen konnte. Dazu trugen wir weiße Söckchen, und nicht zu guter Letzt – schwarze hochglanzpolierte Lackschuhe.
Eines Sonntagmorgens waren wir mal wieder hübsch gemacht worden, weil die Familie bei Sonnenschein einen Spaziergang machen wollte. Axel war fertig gestylt und ging schon mal nach draußen. Unsere Eltern wollten uns ja nicht zu Stubenhockern erziehen. Deshalb jagten sie uns, unabhängig vom Wetter, immer nach draußen. Angeblich wegen der frischen Landluft. Und nebenbei konnten sie dadurch auch ohne Störung ihren häuslichen Arbeiten und Pflichten nachgehen.
Am Tage zuvor hatte es den ganzen Tag geregnet, so dass im sandigen Hofbereich noch mehrere größere Regenpfützen sichtbar waren.
Als meine Mutter aber zufällig durchs Wohnzimmerfenster nach draußen blickte, sah sie, dass Axel an einer dieser trüben Wasseransammlungen großen Gefallen gefunden hatte. Das drückte sich dadurch aus, dass er mitten in derselbigen stand und durch intensive Hüpfbewegungen dafür sorgte, dass ansehnliche Matsch-Fontänen entstanden. Und so hatte seine strahlendweiße Montur, durch die aufwirbelnde nasse Erde, in kürzester Zeit das Aussehen eines Tarnfleck-Anzuges angenommen.
Völlig ausser sich, riss sie das Fenster auf: »Axel! Sofort reinkommen! Das kann doch nicht wahr sein! Na, Dir werde ich helfen- Freundchen!«
Kurze Zeit später bekam Axel eine dermaßene Tracht Prügel, dass man daraus schließen musste, in Zukunft grundsätzlich ein auf äußerste Reinlichkeit achtendes Kind in seinem Hause zu haben. Doch weit gefehlt, wie sich später herausstellte.
Auf jeden Fall wurde es an diesem Tage nichts mehr mit einem Familienausflug und dem darin enthaltenen Genuss einer Portion Speiseeis.
Ein anderes Mal kam es zu folgender Anekdote.
Etwa 100 Meter von unserem Haus entfernt, hatte ein örtlicher Bauer seinen Hof. Daran angrenzend war ein kleines Feld, welches mit einem niedrigen Bretterzaun umgeben war. Auf diesem Feld suhlte sich die ansehnliche Schweinezucht des erwähnten Landwirtes. Und wie Schweine nun mal so sind, hatten sie dafür gesorgt, dass große Teile des Ackers schön durchgewühlt und moderig waren.
Der 4-jährige Axel hegte, aus welchem Grund auch immer, eine große Zuneigung zu diesen Tieren. Oft, auf dem Zaun sitzend, beobachtete er die Schweinchen. Und manchmal lockte er sie mit altem Brot oder Karotten, um dann großen Spaß daran zu haben, ihnen beim Fressen und Scheißen zuzusehen.
Es war wieder Sonntag und Zeit unseren adretten Feiertags-Dress anzulegen. Und so fein herausgeputzt, zog es Axel mal wieder auf das Schweinegatter. Eines der dicken, größeren Säue schubberte just seine Schwarte am Selbigen.
Brüderchen, in kindliche Gedanken versunken, kam in diesem Moment auf die Idee, doch einmal auszuprobieren, ob es sich auf so einem possierlichen Tierchen auch reiten ließe. Gesagt, getan - hangelte er sich vom Zaun herab auf das Borstenvieh.
Besagtes Schwein, irritiert von der unnatürlichen Last auf seinem Rücken, setzte sich sofort in Bewegung, um den Parasiten abzuschütteln. Doch der verfügte über einen erstaunlichen Gleichgewichtssinn. Das Schweinchen rannte los. Und durch unablässige Bocksprünge schaffte das Tier es dann doch, seinen Reiter abzuwerfen. Mein Bruder landete in hohem Bogen, direkt in der Mischung aus Matsch, Wasser und Exkrementen. Das Sonntags-Outfit war nun völlig außer Form geraten, und hatte dazu noch diesen eigenartigen Geruch angenommen. Einen Geruch, von dem man meint - wenn man ihn erst einmal in der Nase hat - dass man ihn nie wieder los wird. Jeder, der einmal die Düfte eines viehhaltenden Bauernhofes erschnüffeln konnte, kann sicherlich nachvollziehen, was ich meine.
Was anschließend zu Hause passierte, erspar ich mir zu schildern. Viel später habe ich dann aber verstanden, was es damals für eine Wahnsinnsarbeit war, die Familie zu versorgen und im Besonderen derer Wäsche sauber zu halten.
Es fiel immer ein Berg von Wäsche an, die es zu reinigen galt. Denn Mutter war sehr daran gelegen, dass wir sauber und adrett rumliefen. Auch die Arbeitsklamotten meines Vaters wurden nicht, wie heute oft üblich, vom Arbeitgeber gereinigt. Nein, die wurden ebenfalls zuhause gewaschen und natürlich auch gebügelt. An eine dieser neumodischen sehr teuren Waschmaschinen war nicht zu denken und die Trocknung der gewaschenen Bekleidung übernahm der Wind, der ja bekanntermaßen im Norden heftig weht.
Im Keller unseres Hauses gab es eine Waschküche, die abwechselnd nach festem Plan von den Mietern genutzt wurde. Diese Waschküche bestand aus einem riesigen Waschtrog, der fest auf einer mit Kohle zu befeuernden Feuerstelle stand. Und das Wasser im Trog musste morgens - an dem Tag, an dem man die Waschküche nutzen durfte - erst einmal mit Holz, Koks und Briketts aufgeheizt werden.
Wenn der Waschofen befeuert und das Wasser heiß war, hatte Mutter die Berge an Schmutzwäsche schon körbeweise runtergeschleppt und im Waschkübel die Seifenlauge angesetzt.
So stand sie dann, mit Kittel und Kopftuch bekleidet, über jenem Kübel und walkte die Wäsche durch. Mithilfe eines riesigen Paddels, wie man sie an Ruderbooten nutzt. Ein enormer Kraftaufwand!
Wenn dann eine Fuhre durchgewaschen war, kam die nächste dran. Da musste eine Frau schon kräftig gebaut sein, um das zu schaffen.
Anschließend wurde die Wäsche von Hand ausgewrungen und zum Trocknen nach draußen an die vorhandenen Wäscheleinen gehängt, bzw. auf dem Trockenboden unterm Dach.
Meistens dauerte es länger als einen Tag, bis die Wäsche durchgetrocknet war. Und im Winter waren die Handtücher manchmal steif wie Bretter – zu Eis gefroren.
Für mich war der Waschtag immer ein Horrorszenario. Wenn ich aus der Schule kam, standen überall Körbe mit Bergen von Wäsche herum, und die ganze Wohnung roch nach Seifenlauge.
Mutter hatte aus Zeitknappheit schnell ein dünnes Süppchen gekocht (eigentlich waren unsere Suppen immer dünn), und war arg im Stress. Ungemütlicher ging’s kaum. Damals habe ich mir vorgenommen, wenn ich mal erwachsen bin, als Erstes eine dieser neuen modernen Waschmaschinen für meinen eigenen Haushalt anzuschaffen.
Am Abend des Waschtages ging’s dann munter weiter. Die ganze Familie war im Wohnzimmer versammelt, um die getrocknete Bettwäsche zu recken. Das hieß, die Laken und Bettbezüge wurden über die Ecken mit Ruck in ihre ursprüngliche Form gezogen. Ich hasste diese Prozedur! Und ich meinte zu erkennen, dass es Vater ähnlich ging.
Fast den ganzen nächsten Tag stand meine Mutter dann hinter dem Bügelbrett. Und während Mutti das Plätteisen schwang, saß ich nach dem Abarbeiten meiner Hausaufgaben am Küchenfenster, sah hinaus und wünschte, dass ich eines Tages reich sein würde, und Mutti nie mehr Wäsche waschen müsste.
Ein schrilles Quieken drang in meine Ohren und riss mich aus meinen Träumen von elektrischen Waschmaschinen und Bergen von Banknoten. Mein Blick auf den Innenhof zeigte mir, dass dort gerade der mobile Schlachtermeister des Ortes, dem Schwein eines Nachbarn die Vorder- und Hinterbeine zusammengebunden hatte. Dann setzte er sein Bolzenschussgerät hinter dem Ohr des Tieres an. Ein dumpfes Klacken; und das Schwein brach zusammen.
Ein Gehilfe hielt derweil einen Eimer bereit. Und als der Metzger die Klinge eines großen Messers in den Hals des Tieres rammte, schoss das warme dunkelrote Blut stoßweise in den Behälter.
Neugierig beobachtete ich, wie einige Männer die aufgeschlitzte tote Sau auf eine Holzleiter banden. Dann wurde der dampfende Leib mit schnellen, jedoch langen Schnitten, geöffnet.
Da es bereits Herbst war, ließ die Wärme des offenen Schweinekörpers die kalte Novemberluft dampfen.
Einige Frauen schleppten eimerweise kochendes Wasser heran und übergossen damit das hängende Vieh. Die Männer begannen sofort die Borsten von der Schweineschwarte zu kratzen, während eine andere Nachbarin unermüdlich das warme Blut im Eimer rührte, damit es nicht gerinnen konnte. Denn sonst wäre es mit der Blutwurst, die daraus fabriziert werden sollte, wohl nichts geworden.
Das Schauspiel der Hausschlachtung dauerte den gesamten Nachmittag. Der Veterinär kam, begutachtete das Fleisch des toten Tieres, drückte violette Stempel auf die entborstete Schwarte; und dann wurde das Fleisch mit scharfen Messern durch flinke geübte Hände zerteilt.
Am nächsten Tag war das Thema Schmutzwäsche erledigt und auch bei uns stand Grützwurst mit Bratkartoffeln auf dem Speiseplan.
Mutti achtete sehr auf geregelte Mahlzeiten, und deshalb gab es zeitlich einen klar abgesteckten Rahmen. Frühstück war um 8, Mittagessen um 12, Abendbrot um 18 Uhr. Nur an den Wochenenden gab es um Punkt 15 Uhr zusätzlich noch Kaffee und Kuchen.
Auch meinem Vater war dieser Zeitplan sehr wichtig, denn das Ganze hatte natürlich seine Berechtigung. Bei Nichteinhaltung konnte meine Mutter die häuslichen Arbeiten nämlich terminmäßig nicht auf die Reihe kriegen. Denn wenn Vati von der Arbeit heimkam, hatte sein Essen auf dem Tisch zu stehen. Ansonsten hätte es mächtig eheliche Reibereien gegeben.
Nur an den Sonntagen sorgte er selbst manchmal dafür, dass es zu Störungen dieses Routinezeitplans kam. Denn dann gönnte er sich, nach dem Frühstück, einen Besuch in seiner örtlichen Stammkneipe, dem »Fährstübchen«.
Das Ritual des dortigen Frühschoppens ließ er sich nie nehmen. Er genoss ein paar Gläser Bier der Holsten-Brauerei und drosch mit anderen Männern des Dorfes einen zünftigen Skat.
Schon damals existierte der Spruch: »Holsten knallt am Dollsten!«
Das eine oder andere Mal wurden aus wenigen Gläsern Holsten, mehrere. Und während des Skatspielens vergaß Vater die Zeit, und seine Prinzipien einer geregelten Mahlzeiteinnahme.
Wenn an diesen Sonntagen die Kartoffeln bereits gar, aber mein Vater noch nicht in Sichtweite war, schickte mich meine Mutter in besagte Kneipe. Um meinen Vater daran zu erinnern, dass das Mittagessen auf dem Tisch stand.
Mein Vater war bereits mächtig angesäuselt, winkte ab und sagte mir, dass er gleich kommen würde. Wir sollten schon mal ohne ihn anfangen.
Also lief ich wieder zurück zu Muttern und gab die väterliche Information weiter. Mutti schäumte natürlich vor Wut!
Nach etwa einer Stunde tauchte mein Vater dann endlich bierselig auf, gestützt von seinen Skatbrüdern.
Mutti explodierte beim Anblick des Zustandes meines Vaters und warf ihm diverse Schimpfwörter an den Hals. Mein Vater winkte jedoch abermals ab, nuschelte irgendetwas das sich anhörte wie »Lass mich in Ruhe«, und steuerte das elterliche Schlafzimmer an, um seinen Rausch auszuschlafen. Meine Mutter war stinksauer, und den Rest des Tages herrschte bei uns dicke Luft.
Auch andere Männer waren in der damaligen Zeit dem Biertrinken sehr zugetan. Und den Frauen war das natürlich zuwider. Zum Einen mussten sie das Gelalle ihrer besoffenen Kerle ertragen, und zum Anderen schmälerte die Sauferei die ohnehin karge Haushaltskasse.
Da der ausstehende Arbeitslohn am Ersten des Monats direkt an die Arbeiter ausgezahlt wurde, holten die sich am Ende des Arbeitstages ihr sauer verdientes Entgelt im Firmenbüro ab. Und der erste Weg führte sie dann oft in die nächste Kneipe, um gutgelaunt den Erhalt ihrer Lohntüten zu feiern.
Den Ehefrauen war das natürlich ein Dorn im Auge. Und so beschlossen einige von ihnen, zu Feierabend vor den Arbeitsstellen ihrer Göttergatten aufzutauchen. Dort nahmen sie ihre Kerle mitsamt den Lohntüten in Empfang und geleiteten sie auf direktem Wege nach Hause – in großem Bogen an der Stammkneipe vorbei.
Aus der Not heraus hatten diese Frauen wahrscheinlich maßgeblichen Anteil an der Erfindung des Girokontos.