Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 9
Kapitel 7: Reif für die Insel
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Elf Jahre alt war ich nun, und die Zeit der ersehnten Sommerferien rückte näher. Ich war der Jüngste in meiner Klasse. Nicht der Kleinste - aber wahrscheinlich der Dünnste.
Eines Tages eröffnete mir meine Mutter, dass ich in den Ferien zur »Erholung« auf die Insel Amrum fahren würde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie eine Urlaubsreise gemacht. Abgesehen von zwei Bahnfahrten mit meinen Eltern und meinem Bruder, zu unserer Oma in Darmstadt. Und außer der aufregenden Zugfahrt war der Aufenthalt bei Oma nicht unbedingt der Brüller.
Jedes Mal, wenn ich sie etwas fragte, wenn mich etwas beschäftigte oder interessierte - und ich hatte viele Fragen – kam nur eine Antwort: »Kinderfragen mit Zucker bestreut.«
Mutti hatte als Schwiegertochter auch nicht die beste Beziehung zu ihr und war über Omas Anmerkungen ziemlich verärgert. Schon allein deswegen bekam ich die Antworten auf meine Fragen immer von ihr. Sie wusste immer eine Antwort. Nur sagte sie oft: »Bodo, Du sollst nicht so viel über alles nachdenken. Du drehst mir sonst noch durch.«
Jetzt sollte ich also auf eine Insel in der Nordsee. Mit Strand und Sonne. Der Gedanke daran, nach den Ferien bei Schulbeginn mitreden zu können, wenn die Lehrer fragten, was die Schüler denn so im Urlaub erlebt hatten, löste in mir freudige Erwartung aus.
Der Wermutstropfen war allerdings, dass ich die Reise alleine antreten musste. Ohne Vati, Mutti und Axel.
Und dass mit »Erholung« gemeint war, anschließend Speck auf den Rippen zu haben, registrierte ich garnicht. Noch nicht!
Dann war der Tag gekommen, an dem ich meine Reise antreten sollte. Der Koffer war gepackt und Mutti brachte mich zum Bahnhof. Ich wurde von einer Mitarbeiterin der Bahnhofsmission in Empfang genommen und stieg in den Zug nach Büsum, um von dort mit einem Butterdampfer auf die Nordseeinsel Amrum überzusetzen.
Mit mir waren noch eine Menge Kinder auf dem Schiff unterwegs. Und im Hafen von Amrum stand dann eine ganze Riege von Rot-Kreuz-Schwestern, in ihren Schwesternkitteln und Häubchen am Pier, um uns in Empfang zu nehmen. Anschließend ging’s im Entenmarsch zum Heim und dort wurde ich Schwester Annemarie zugeteilt. Annemarie war ziemlich robust gebaut und strahlte, schon alleine durch ihre auslegende Statur, eine beeindruckende Autorität aus. Gleich bei der Ankunft baute sie sich vor meiner Gruppe auf und erklärte uns eindringlich, was wir nicht durften. Ich kann mich nicht erinnern, ob sie uns auch erzählte, was wir durften.
Die Zimmer wurden zugeteilt und wir Kinder unternahmen erste Anstalten uns näher kennenzulernen. Einer der Jungs kam aus Braunschweig und hatte eine Fußballzeitung dabei. Eintracht Braunschweig war auf dem besten Wege Deutscher Fußballmeister zu werden. Das war das Bindeglied zu mir und wir freundeten uns sofort an. Viel Zeit hatten wir allerdings nicht unsere Sachen auszupacken und im Schrank zu verstauen, denn im Flur ertönte die kräftige Stimme von Schwester Annemarie in Feldwebel-Manier: »Raustreten zum Mittagessen!«
Der Speiseraum roch enorm gut. An den Tischen, die in langen Reihen aufgestellt und bereits gedeckt waren, würden wir ab nun für die nächsten vier Wochen unsere Mahlzeiten einnehmen. Uns wurden die Plätze zugewiesen und dann erschien die Küchenbrigade, alles gut genährte Damen, und servierte das Mittagessen. Anscheinend bedingt durch die frische Seeluft, hatte ich einen ordentlichen Appetit bekommen. Obwohl ich zuhause nicht gerade ein guter Esser war, schmeckte mir das Angebotene gut.
Doch die Sache hatte einen Knackpunkt. Pflicht war, noch den Inhalt eines zweiten Tellers zu leeren. Jeder musste unter den strengen Augen der anwesenden Schwestern eine zweite Portion verputzen. Und anschließend kam auch noch das Dessert. Und so wurde aus dem anfänglichen Genuss – eine Tortur!
So ging es zu jeder Mahlzeit (Frühstück, Mittag, Abendbrot). Die ganzen vier Wochen Aufenthalt - Tag für Tag. Das war keine Erholung - das war Mästen unter Folterbedingungen!
Jeden Morgen vor dem Frühstück wurden wir gewogen. Und wenn keine Gewichtzunahme zu verzeichnen war, verfinsterte sich die Miene von Schwester Annemarie. Dann behielt sie das entsprechende Kind bei den Mahlzeiten besonders eindringlich im Auge.
Zweimal in der Woche war »Briefeschreiben« angesagt. Im Speisesaal sitzend, beschrieb ich meinen Eltern unter anderem die Essensvorschriften im Heim. Und wie üblich musste ich, als ich damit fertig war, meinen Brief Schwester Annemarie vorlegen. Damit sie sich meine Ausführungen durchlesen konnte.
Ihr Blick zeigte, dass sie mit dem, was dort geschrieben stand, durchaus nicht zufrieden war. Also bekam ich das Blatt zurück, mit der Aufforderung alles zu überdenken und neu zu Papier zu bringen.
Annemarie begleitete mich zu meinem Platz und diktierte mir teilweise, was ich zu schreiben hätte. Kein Wort über den Essenszwang, über Heimweh und Ähnliches. Im Grunde hätte ich schreiben müssen: »Es ist toll hier. Die Schwestern sind herzallerliebst. Ich könnte hier mein ganzes Leben verbringen.«
Ein Erholungsheim sollte das sein? Nein, das war ein Knast!
Und um nochmal auf das Essen zurückzukommen. Etwas das mich das ganze Leben begleiten sollte, war meine Abneigung gegen Spinat. Ich kann nicht behaupten, dass Spinat jemals zu meinen bevorzugten Lebensmitteln gehörte, aber mein Aufenthalt auf Amrum sorgte nun dafür, dass mich Spinat anwiderte. Es war eine Quälerei, die erste Portion dieser grünen Pampe zu verdrücken. Und wie bereits erwähnt, stand ja immer noch eine zweite Portion an. Das verursachte bei mir jedes Mal ein Würgegefühl. Und ich erinnere mich, dass ich mich eines Tages sogar am Tisch erbrach.
Nachdem alles gereinigt war, wurde ein frischer Teller gefüllt und ich musste meine zweite Portion runterwürgen - keine Chance! Wahrscheinlich einer der schlimmsten Tage meines jungen Lebens. Ich sann später im Bett über Möglichkeiten nach, wie ich abhauen könnte. Aber da lag ja auch noch das Meer zwischen mir und meinem Zuhause!
Das war dann das erste Mal, dass ich mir sagte: »Dann muss ich das eben aushalten, niemand wird mich je kaputt kriegen!« Und diese frühe Einsicht wurde zu meinem Lebensmotto.
Von nun an zählte ich die Tage, bis ich wieder nach Hause fahren würde. Und in der Zwischenzeit nahm ich zwangsweise an Gewicht zu.
Im Anschluss an das Mittagessen wurden immer zwei Stunden Bettruhe angeordnet, damit die eingenommene Mahlzeit Gelegenheit hatte, sich in Körperfett zu verwandeln. Wenn während dieser Zeit jemandem der Darm oder die Blase drückte, durfte er nur selten zur Toilette. Das würde die Mittagsruhe stören.
Und es musste absolute Ruhe eingehalten werden. Gespräche oder sonstige Geräusche wurden strengstens untersagt und bei Zuwiderhandlung teilweise sogar durch Ohrfeigen bestraft.
Die Schwestern liefen in der Zeit auf den Fluren »Streife«. So konnten sie Ausflüge kontrollieren und gegebenenfalls unterbinden.
Aber natürlich gab es auch angenehme Momente.
Nach dem Frühstück gingen wir oft mit den Schwestern an den Strand, um bei Spaziergängen die gesunde Inselluft zu inhalieren. Und nach stürmischen Nächten sammelten wir dort Bernstein. Einige Kinder fanden sogar richtig große Stücke. Das machte den meisten von uns großen Spaß. Am Nachmittag wurden die Funde dann geschliffen, poliert und zu kleinen Anhängern verarbeitet.
Eines Tages mussten wir Kinder von unserem extrem knappen Taschengeld (alle Kinder waren aus einfachen Verhältnisen, was das Elternhaus betraf) jeder eine Matrosenmütze kaufen - aus Gründen der Einheitlichkeit. Das waren diese weißen Dinger mit einem blauen »Bommel« obendrauf. Weiss der Teufel warum – aber die Kappen hatten wir bei allen Aufenthalten in der Natur zu tragen.
Bei einem der zahlreichen Inselspaziergänge kam mir meine dummerweise abhanden. Ich weiß nicht mehr wie - ob durch den Wind, oder weil ich meine Kappe irgendwo liegenließ. Jedenfalls war sie plötzlich weg. Zur Strafe musste ich fortan zu meinen kurzen Hosen und den kurzärmeligen Hemden immer eine Winterpudelmütze tragen, trotz herrlichem Sommerwetter.
An einem Tag in der letzten Woche sollte von einem bestellten Fotografen ein Gruppenfoto gemacht werden. Dazu mussten natürlich alle ihre Matrosenmützen aufsetzen. Mein Ansinnen mir eine Neue kaufen zu wollen, weil ich mit meiner bescheuerten Pudelmütze ungern auf dieses Foto wollte, wurde kurz und bündig abgelehnt. Und so saß ich während des Fototermins, bei schönstem Sonnenschein, mit Winterpudelmütze und kurzen Hosen inmitten der Gruppe. Ich habe mich sehr geschämt. Und obwohl dieses Foto doch eine schöne Erinnerung sein sollte, habe ich es später niemandem - außer meinen Eltern - gezeigt.
Endlich, nach schier endlosen Wochen, war das Kapitel Amrum abgeschlossen und es ging wieder nach Hause. Ich war heilfroh meine Mutter am Bahnhof zu sehen. Und Mutti freute sich, dass ich 6 Kilogramm zugenommen hatte.