Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 12
Kapitel 10: Hinter Gittern
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Im Spätsommer 1971 wurden die Nachrichten von dem Thema »Baader-Meinhof« beherrscht. Unsere Regierung, bestehend aus SPD und FDP mit ihrem Bundeskanzler Willy Brandt, hatte alle Hände voll zu tun, um den Terror der RAF in den Griff zu bekommen.
Werner und ich überlegten, was wir am Wochenende wohl machen oder unternehmen könnten.
»Weißt Du was?«, sagte ich, »wir fahren per Anhalter zu mir nach Rendsburg, und ich zeig Dir mein Zuhause.«
»Jo, gute Idee« entgegnete Werner.
Also packten wir am Freitag - gleich nach der Arbeit - jeder unsere Tasche mit ein paar Kleinigkeiten, und fuhren - natürlich ohne zu zahlen - mit dem Bus zu einer Station, von der wir uns zu Fuß, Richtung Autobahn auf den Weg machten. An der Auffahrt zur A46 hielten wir den Daumen in den Wind. Dabei mussten wir aufpassen, dass uns die Polizei nicht erwischte, denn direkt auf der Autobahnauffahrt durfte kein Wagen anhalten. Und Polizei war ja in diesen Tagen überall anzutreffen.
Wir hatten Glück. Nach kurzer Zeit hielt ein Fahrer an und nahm uns bis Osnabrück mit.
Zwischendurch immer wieder Kontrollen. Polizisten mit Maschinenpistolen leiteten den Verkehr auf Parkplätze und kontrollierten die Insassen der Fahrzeuge. Irgendwo hatte die RAF wieder zugeschlagen.
Auf der Autobahnraststätte »Dammer Berge«, nahe Osnabrück, ließ uns unser Fahrer aussteigen. Hier mussten wir uns die nächste Mitfahrgelegenheit suchen. Ich war aus Kostengründen schon öfter getrampt und hatte die Erfahrung gemacht, dass es günstig war, an Autobahntankstellen die Leute anzusprechen, die dort gerade die Tanks ihrer Fahrzeuge füllten, oder deren Scheiben reinigten. Während man bei fließendem Verkehr den Daumen hochhielt, war die Wahrscheinlichkeit groß, dass die Fahrer einfach vorbeifuhren. Wenn man aber an Tankstellen die Leute direkt, also Auge in Auge ansprach, hatten die meisten keine gute Ausrede parat die Bitte um Mitnahme abzuschlagen. Oder sie mochten einfach nicht »Nein« sagen.
»Werner, das ist Tiefen-Psychologie«, sagte ich. »Du wirst sehen, es dauert nicht lange, dann geht’s weiter.«
Und tatsächlich. Der zweite Versuch klappte bereits. »Ich will nur noch einen Kaffee trinken gehen«, sagte der Fahrer. »Kommt mit, ich lad Euch ein.« Cool, doppeltes Glück!
Diese Etappe brachte uns bis Hamburg. Auf der Raststätte Stillhorn stiegen wir aus und bedankten uns nochmal bei dem netten Fahrer.
Jetzt hatten wir nur noch 120 km bis nach Rendsburg. Aber die Dunkelheit war hereingebrochen. Es war bereits 22 Uhr. An den Zapfsäulen der Tankstelle war nicht mehr viel los. Die Wenigen die wir ansprachen, fuhren in alle möglichen Richtungen - nur nicht nach Norden.
Auf dieser Raststätte gab es allerdings einen Parkplatz mit etlichen LKWs, deren Fahrer vor der Weiterfahrt eine Mütze Schlaf nahmen.
»Komm«, sagte Werner, »hier an der Tanke wird’s nix mehr. Wir versuchen es mal bei den Brummi-Fahrern.«
Nur schliefen die meisten!
Etwa eine Stunde später stießen wir dann auf einen Fahrer, der gerade aus Richtung Süden ankam. »Ja, ich fahr direkt nach Rendsburg, aber ich muss erstmal pennen. Gegen 02:00 Uhr geht’s weiter, dann könnt ihr mitkommen.«
Naja, bis 2 Uhr nachts war noch ein Weilchen hin, und der Wind pfiff recht ungemütlich. Aber was sollten wir machen - war wohl unsere einzige Chance.
Die Zeit wollte nicht vergehen, wir wurden langsam müde. Und weil der Wind recht kühl war, fingen wir auch noch an zu frieren. Also marschierten wir den Parkplatz auf und ab. Doch es wurde immer ungemütlicher und nach einiger Zeit kauerten wir uns hinter einen LKW. Dort hatten wir auf jeden Fall mehr Schutz vor dem kalten Wind.
Als wir so eine geraume Zeit im Schutz der LKW-Plane standen, kam plötzlich ein Polizeiwagen angefahren, hielt direkt bei uns an, und zwei Polizisten stiegen aus.
»Umdrehen, Hände an die Wand.« Blitzschnell waren sie bei uns und tasten uns ab. Das hätte direkt eine Szene aus einem Fernsehkrimi sein können! Werner und ich waren komplett erschrocken.
»Was ist los?«, fragte ich überrascht.
»Was macht ihr hier?«, fragte der eine Polizist in forschem Ton, ohne auf meine Frage einzugehen.
»Wir warten auf einen Fahrer von den Lkws, der uns mitnehmen will«, antwortete Werner.
Der Polizist reagierte nicht, sondern fragte wiederum: «Und wieso habt ihr Euch an den Lastwagen zu schaffen gemacht?«
»Wir haben nichts an den Lkws gemacht. Wir warten hier nur«, sagte ich. Die Art der Frage irritierte mich. Anscheinend schenkten die Beamten unseren Ausführungen keinen Glauben.
Wir wurden in den Polizeiwagen verfrachtet und fuhren Richtung nächstes Polizeirevier. Während der Fahrt fragten uns die Polizisten aus. Wo wir denn herkämen, wo wir denn wohnten. Als wir erzählten, dass wir in einem Lehrlingsheim in Wuppertal wohnen würden, fragte uns einer der Polizisten, warum wir denn ausgerissen seien. »Wir wollen übers Wochenende zu meinen Eltern. Und wir sind nicht ausgerissen! Wir wohnen in einem LehrlingsWOHNheim! Das ist keine Erziehungsanstalt!«, entgegnete ich.
Irgendwie hatten Werner und ich den Eindruck, dass die Polizisten entweder keinen Plan hatten oder uns einfach nicht verstehen wollten.
»Werdet nicht noch frech«, herrschte uns der Polizist an, der den Streifenwagen fuhr. Allmählich waren wir gespannt darauf, wie sich dieser Alptraum weiterentwickeln würde.
»Das glaubt uns keiner, was hier abgeht«, flüsterte ich Werner zu,
während in der Wache unsere Personalien aufgenommen wurden.
Einer der Polizisten versuchte das Lehrlingsheim in Wuppertal anzurufen. Jedoch anscheinend erfolglos. War ja auch bereits mitten in der Nacht.
Wir bestiegen also wieder den Streifenwagen, und man fuhr mit uns mitten durch das nächtliche Hamburg, zum Polizeigefängnis »Hütten« am Enckeplatz. Dieses Gefängnis diente als Aufbewahrungsstätte für straffällig gewordene Jugendliche.
Dort wurden wir in eine dicke Kladde eingetragen, mussten unsere Taschen abgeben und uns bis auf Unterhose und Socken ausziehen. Dann bekamen wir eine Art Sportzeug - Hemd und Hose.
»Schade«, bemerkte Werner, »Streifenanzüge würde ich besser finden.« Und obwohl mir das Lachen vergangen war, konnte ich mir über diese Bemerkung ein Grinsen nicht verkneifen.
Unsere Schuhe durften wir behalten. Allerdings erst nachdem die Schnürsenkel einkassiert waren. Und dann ging’s ab in eine leere Zwei-Mann-Zelle. Die Tür fiel zu und wir hörten das Klappern des Schlüsselbundes, als die Zelle von außen verschlossen wurde.
Total deprimiert und todmüde standen wir vor den Betten in der Zelle. Wie spät es mittlerweile war, wussten wir auch nicht, denn unsere Armbanduhren hatten wir auch abgeben müssen. Ziemlich geschafft legten wir uns auf die Pritschen.
Wir erwachten, als das Tageslicht durch das vergitterte Fenster fiel und fragten uns, wie spät es wohl wäre. Ein mulmiges Gefühl beschlich uns. Denn wir registrierten jetzt, was los war - wir waren zum ersten Mal in unserem Leben eingesperrt. Und das Schlimme war, wir wussten nicht warum!
Ich trommelte an die Tür und rief: »Aufmachen!!« Nichts passierte. »Aufmachen, wir wollen hier raus!«, schrie ich jetzt und Werner stimmte mit ein. Doch wiederum passierte nichts. Wir schrien immer wieder, hämmerten mit unseren Fäusten an die verschlossene Tür.
Plötzlich hörten wir Schritte. Dann knackte der Schließmechanismus, die Tür öffnete sich, und der griesgrämige Wärter sagte nur: »Mitkommen!«
Er führte uns wortlos in einen mittelgroßen Raum, in dem ca. zehn bis zwölf Jugendliche an Tischen saßen, zeigte auf zwei leere Plätze und sagte, wir sollten jetzt frühstücken.
Die anderen Jugendlichen bombardierten uns mit Fragen. Wieso und weshalb wir hier waren. Wir erzählten, was in der vergangenen Nacht passiert war und dass wir hier unbedingt raus wollten.
Einer der Jungs sagte: »Die müssen Euch rauslassen. Länger als zwölf Stunden dürfen die Euch garnicht hier drinbehalten.«
Dann rühmten sich die anderen mit ihren Taten, die sie in dieses Loch gebracht hatten. Körperverletzung, Einbruch, Diebstahl, Rauschgiftdelikte - das volle Programm.
Nach einiger Zeit wurden wir wieder von dem Wärter abgeholt.
Man händigte uns unsere Sachen aus, und teilte uns mit, dass man mit dem Lehrlingsheim telefoniert habe. Wir sollten nun mit dem Bus auf direktem Weg zum Hauptbahnhof fahren, uns dort eine Fahrkarte kaufen, und in den Zug nach Wuppertal steigen.
Nachdem wir unsere Kleidung angezogen hatten, sahen wir zu, das Knastgebäude schnell zu verlassen. Auf der Straße vernahmen wir noch das Gegröhle der eingesperrten Jugendlichen, die uns aus dem vergitterten Fenster des Frühstücksraumes hinterherriefen und einen höllischen Krach mit Essbestecken und Metallbechern machten.
An der nächsten Haltestelle nahmen wir den Bus zum Hamburger Hauptbahnhof und kauften dort zwei Fahrkarten. Aber nicht nach Wuppertal, sondern wie bereits zu Anfang geplant - nach Rendsburg.
Es war später Samstagnachmittag, als wir in der Wohnung meiner Eltern ankamen. Viel Zeit hatten wir ja nicht mehr, denn Sonntag gegen 13:00 Uhr mussten wir wieder den Zug nach Wuppertal nehmen, um Montag pünktlich auf der Arbeit erscheinen zu können.
Am Freitag hatten wir noch geplant, auch zurück per Anhalter nach Wuppertal zu fahren. Aber nach diesem Abenteuer hatten wir vom Trampen erstmal genug.
Als wir am späten Sonntagabend wieder im Lehrlingsheim in der Stuttbergstraße ankamen, mussten wir uns gleich bei Herrn Rauffmann melden. Wir erzählten grob, was passiert war. Aber er war ja bereits informiert, stellte uns kaum Fragen, und wir konnten sein Büro verlassen.