Читать книгу Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1 - Bodo Gölnitz - Страница 6

Kapitel 4: Schock und Enttäuschung

Оглавление


Nach der Schule traf ich mich immer mit meinen Kumpels. Wir streiften durchs Dorf und vertrieben uns die Zeit mit manchem Schabernack. Irgendetwas fiel uns immer ein. Ich kann mich erinnern, dass selten Langeweile aufkam. Trotz des Fehlens von Playstation und Handys!

Manches Mal spielten wir aber einfach nur Verstecken. Einer von uns stellte sich mit dem Gesicht zu einem Baum, verschloss seine Augen mit den Händen - und zählte langsam bis zwanzig. Solange hatten dann die anderen Zeit, sich ein Versteck zu suchen. Anschließend machte sich der »Baumsteher« auf die Suche. Wenn er dann das Versteck eines Spielkameraden entdeckt hatte, hieß es loszuspurten und vor dem Entdeckten an den »Zählbaum« zu klatschen. Wenn man dann alle Verstecke nach und nach entdeckt hatte, war der Erstgefundene an der Reihe zu zählen und zu suchen. Dieses Spiel zog sich oft über den ganzen Nachmittag hin.

Eines Tages vergnügten wir uns mit dem »Versteckspiel« in der Nähe der Dorfkirche, im Obstgarten des Gemeindepastors. Der Sucher zählte an einem Baum, und die restlichen Kinder rannten los, um sich schnell ein möglichst gutes Versteck zu suchen. Ich spurtete hinter die Kirche und sah mich nach einem geeigneten Platz um. Aus den Augenwinkeln bekam ich noch mit, wie sich einige von uns in die Büsche schlugen.

Am Anbau der Dorfkirche entdecke ich eine kleine versteckte Treppe, die wohl in den Keller des Gemeindehauses führte. Dort unten, vor dem Kellereingang, konnte man sich sicherlich eine Zeitlang ungesehen aufhalten. Also die Treppe hinunter und dann mit dem Rücken an die Kellertür. Dabei stellte ich fest, dass sich der Türgriff bewegen ließ! Die genannte Tür schien also nicht verschlossen zu sein. Und wenn ich in den Keller hineingehen würde, überlegte ich mir, konnte man mich bestimmt nicht so schnell entdecken.

Vorsichtig öffnete ich die Tür und trat ein. Der Raum war dunkel und nur durch den Spalt in der Tür, deren Griff ich noch in der Hand hatte, drang spärlich Licht ein. Hastig sah ich mich um. Und erschrak!

Im diffusen Lichtkegel, der durch die angelehnte Tür eindrang, erkannte ich Särge. Und einige waren geöffnet. Mir wurde schlagartig bewusst, dass dies wohl die Leichenhalle mit den aufgebahrten, jüngst Verstorbenen des Dorfes war. Der Anblick der Toten in den offenen Särgen jagte mir einen unbeschreiblichen Schrecken ein. In Panik machte ich auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus. Ob ich die Tür hinter mir schloss, weiß ich nicht mehr. Nur schnell weg von hier! Ich stolperte die Treppe hinauf. Raus aus diesem Grusel-Szenario!

Von nun an versuchte ich, besonders wenn die Dunkelheit anbrach, dem Kirchengebäude aus dem Weg zu gehen. Auch die Nähe des Friedhofs mied ich bei Einsetzen der Dämmerung.


**********


Unter meinen Altersgenossen gab es einige Familien, die finanziell weitaus besser als wir gestellt waren. Es gehörte leider auch nicht viel dazu. Und so erfuhr ich schon früh, was den Unterschied zwischen Arm und Reich ausmacht. Da war z.B. ein Klassenkamerad. Er war der Sohn des gutverdienenden Dorfarztes und hatte dadurch eine besondere Stellung in unserer Klasse und auch bei den Lehrern.

Andere Familien waren sogar Besitzer eines kleinen Häuschens. Das müssten Millionäre sein, kam es mir in den Sinn.


Wenn einige dieser Kinder Afri-Cola tranken, gab’s bei uns ein Glas Brunnenwasser, mit einem Teelöffel essigsaurem Natron und Zucker. Nur am Monats-Ersten manchmal etwas Brausepulver von »Frigo«. Erstaunlicherweise kann man das heute noch kaufen.

Was modische Kleidung anging, waren weiße Hemden aus Nylon stark angesagt. Viele hatten so ein Hemd, aber diese schicken Teile waren teuer. Aus diesem Grund besaß ich so etwas auch nicht. Und Jeans, damals ein aufkommender Trend aus den USA, waren bei meinen Eltern verpönt. »Nietenhosen« wären etwas für die Arbeit, sagten sie. So schaute ich immer neidisch auf meine Altersgenossen, die etwas Derartiges trugen.

Beim »Vogelschießen« - eine Art jährliches Schulfest - machte ich einmal innerhalb meiner Klasse den 2. Platz. Dem Ersten stand als Preis ein Nyltest-Hemd zu. Ich hatte nun das unfassbare Glück, dass der »König« schon ein solches besaß und lieber den Preis für den 2. Platz einsackte. Und durch diesen glücklichen Zufall bekam ich dann doch dieses heißersehnte, top-modische, Kleidungsteil.

Auch meine Geburtstage konnte ich nicht mit Freunden feiern, denn das waren zusätzliche Ausgaben für meine Eltern.

Ich habe mich immer fürchterlich dafür geschämt, dass ich niemanden einladen durfte. Und wenn mich die Klassenkameraden am Tage meines Wiegenfestes danach fragten, was ich denn für tolle Sachen geschenkt bekommen hätte, log ich das Blaue vom Himmel. Denn in Wirklichkeit gab es irgendwelche Sachen zum Anziehen und dann nur noch ein kleineres Spielzeug. Hätte ich die Wahrheit gesagt, wäre ich deswegen gehänselt worden. Und da ich auch körperlich einer der Schwächeren war - dünn und klein - bot ich für solche Dinge nunmal eine prima Angriffsfläche.


Meine Familie war nicht nur arm, sondern an uns haftete auch der Makel der »Flüchtlingsfamilie«. Ich habe das als kleiner Junge mit etwa acht Jahren aber nie richtig begriffen. Erst nach und nach fing ich an, mir darüber Gedanken zu machen.

Das einschneidenste Erlebnis hierzu hatte ich, als ich die 4. Klasse der Grundschule besuchte.

Zu Beginn des Schuljahres bekamen wir eine Klassenlehrerin, die neu in der Schule angestellt war und nicht im Dorf, sondern in der Stadt wohnte. Frau Schlüter war eine ältere Dame - jedenfalls aus der Sicht eines Zehnjährigen. Für mich waren Menschen, im Alter über 20 Jahre, schon allesamt richtige Erwachsene. Diese Meinung teile ich heute nicht mehr so ganz. Und über 50-Jährige - waren Omas und Opas. Auch hierzu hat sich meine Einstellung geändert.

Jedenfalls war Frau Schlüter eine sehr einfühlsame Lehrerin, die versuchte, für jeden Schüler Verständnis - in Bezug auf seine Stärken und auch Schwächen - aufzubringen. Um ihn, dank ihrer Einschätzung, auf die richtigen Bahnen zu lenken. Ihr Ziel war es, das Optimale aus jedem Einzelnen herauszuholen.

Vor der Bekanntschaft mit dieser Lehrerin hatte ich oft das Gefühl, von den Lehrkräften nachteilig behandelt zu werden. Denn obwohl ich eigentlich immer zu den 3 bis 4 leistungsmäßig besseren Schülern meiner Klasse gehörte, bekam ich seltener Belobigungen als andere.

Bei Frau Schlüter hatte ich plötzlich das Gefühl, dass sie meine Fähigkeiten erkannte und ihr es völlig egal war, welche gesellschaftliche Stellung meine Eltern hatten. Oder wieviel Geld wir besaßen. Ich verspürte einen enormen Motivationsschub. Und das verdankte ich ihr.

Auch meine zwei besten Freunde, Klaus und »Wippi«, waren begeistert von der neuen Lehrerin. Allerdings auch der Großteil unserer Klasse.


Als sie eines Tages Geburtstag haben sollte, sind wir losgegangen und haben an einen Nachmittag, auf den Wiesen unseres Dorfes, einen riesigen Feldblumenstrauß für sie gepflückt. Frau Schlüter war, als wir ihr am nächsten Tag den Strauß überreichten, sichtlich gerührt.

Sie bekam an dem Tag noch mehrere Sträuße und Geschenke, so dass sie Probleme hatte, diese vielen Präsente nach Hause zu bringen. Sie wohnte ja in der Stadt und pendelte mit dem Bus zwischen Heim- und Arbeitsstätte.

Deshalb boten wir drei Freunde uns an, ihr zu helfen. Wir wollten die Sachen gemeinsam zu ihr nach Hause tragen. Frau Schlüter willigte ein, und als wir in ihrer Wohnung angekommen waren, gab’s zur Belohnung heißen Kakao, Kekse und Kuchen.


Zu dieser Zeit waren die Beatles sehr populär und wir Jungs konnten die Texte derer Songs in- und auswendig.

»She loves you, yeah yeah yeah...« oder »I want to hold your hand...«

Meine Eltern sprachen zwar mit Abscheu von diesen »Langhaarigen« und ihrem »Hottentotten-Radau«, aber wir liebten die sogenannte Beatmusik.

Frau Schlüter war völlig anders. Mit ihr konnten wir über John, Paul, George und Ringo reden und fühlten uns von ihr verstanden.

Da sie im Allgemeinen der Musik sehr verbunden war, stand in ihrer Wohnung ein Klavier, und an der Wand hing eine wunderschöne Laute. Ich fand Musikinstrumente immer schon faszinierend und konnte meinen Blick garnicht von diesen tollen Dingen abwenden.

Nach Kuchen und Kakao spielte sie uns dann etwas auf dem Klavier vor. Da wir wie gesagt die Texte der Beatles auswendig, aber den englischen Inhalt nicht verstehen konnten, versprach sie uns, die Worte ins Deutsche zu übersetzen. Damals gab’s Englischunterricht erst ab der Klasse 7.

Ein paar Tage später übergab sie meinen Freunden und mir die von ihr handschriftlich übersetzten Texte unserer Idole.


Frau Schlüter war es auch, die meine Liebe zum Zeichnen förderte. Einmal durfte ich in einer Pause eine Seitentafel, mithilfe bunter Kreide, bemalen. Eine Dschungel-Landschaft mit Palmen, Lianen, Tigern, Löwen und Elefanten. Aus heutiger Sicht für einen 10-jährigen Knirps ein tolles Bild. Und meine neue Lehrerin sagte mir, sie wäre überzeugt davon, dass ich später einmal irgendetwas Künstlerisches machen werde.

Das Ende der Grundschule näherte sich und ich hatte den Wunsch, anschließend eine weiterbildende Schule in der Stadt zu besuchen. Der Sohn des Arztes gehörte zwar zu den nur mittelmäßigen Schülern. Jedoch aus beiläufigen Bemerkungen meiner vorherigen Lehrerin war für mich ersichtlich: »Der hat schon einen Platz auf der Oberschule« (der damalige Name für das Gymnasium).

Ich meinerseits wäre schon zufrieden gewesen, für die Realschule (damals Mittelschule) vorgeschlagen zu werden. Denn ich träumte davon, eines Tages durch eine bessere Bildung einen Beruf erlernen zu können, der mich zu Ansehen und gutem Auskommen bringen würde. Sicher würde ich dann ein Fernsehgerät haben und ein Auto fahren - also ein Leben führen, das völlig anders als das meiner Eltern wäre.


Die Zeit der Zeugnisvergabe rückte näher und Frau Schlüter teilte uns, bereits einige Tage zuvor, schon einmal unsere zu erwartenden Zeugnisnoten mit. Ich hatte meine ohnehin ganz ordentlichen Zensuren in den meisten Fächern um eine Note verbessert und sah mich bereits als Mittelschüler. Doch zu meiner Verwunderung war ich bei der Vergabe der Zeugnisse wieder auf dem alten Stand.

Unser Rektor, Herr Weiß, war nämlich nicht mit der Zensurenvergabe von Frau Schlüter einverstanden und ordnete an, mein Zeugnis zu überarbeiten.


Etwa 6 oder 7 Jahre später - ich war bereits in der Lehre - begegnete ich Frau Schlüter in der Einkaufsstrasse unserer Stadt. Wir freuten uns beide, und sie lud mich in ein Café ein. Ich erzählte von mir, und sie von sich.

Sie hatte nach drei Jahren auf eigenen Wunsch die Schule gewechselt. Und während des Gesprächs verriet sie mir auch die Umstände meiner Zeugnisänderung aus der 4. Klasse. Damals hatte sie einen mittelschweren Anschiss von Rektor Weiß bekommen, da sie mich seiner Meinung nach zu vorteilhaft bewertet hätte. Dabei hatte ich während meiner gesamten Grundschulzeit kaum eine Unterrichtsstunde mit Herrn Weiß verbracht. Wieder hatte ich das Gefühl, dass das Leben unfair zu mir sei.


Egal - ich hätte trotzdem zur Realschule wechseln können. Doch da spielten meine Eltern nicht mit. Sie befürchteten nämlich, dass dann Kosten für Schule, Bücher und eventuelle Klassenfahrten (welche den Geldaufwand eines Wandertages weit überschreiten würden) auf sie zukommen könnten. Und so hörte ich immer wieder den Spruch: »Ein guter Volksschüler ist besser als ein schlechter Mittelschüler!« Und das war’s dann.

Ich jammerte und bettelte, aber nichts war zu machen.

So ergab ich mich letztendlich meinem Schicksal. Und zu Beginn des neuen Schuljahres wurde auch mein Bruder eingeschult.


Wenn die Tage ihre Farbe verlieren - Band 1

Подняться наверх