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SIERBACHS LABORATORIUM

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Im diffusen Licht der hereinbrechenden Dämmerung hockte Kalina zusammen mit Bobo und den anderen im Gebüsch. Sie beobachteten das rote Backsteingebäude gegenüber, in dem sie die schlimmste Zeit ihres Lebens zugebracht hatte.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Bobo. „Woher willst du eigentlich wissen, dass der Professor da ist?“

„Um diese Zeit ist er immer hier, das weiß ich aus leidvoller Erfahrung.“

„Schön und gut“, knurrte Henry neben ihr. „Und wie soll´s jetzt weitergeh´n?“

„Hmm.“ Kalina kratzte sich hinterm Ohr und überlegte. Das verdammte Labor musste verschwinden, das war mal sicher. Aber wie? Informationen! Sie brauchte Informationen. Also gut. „Ich muss mir die Sache einfach mal aus der Nähe ansehen“, dachte sie laut. „Ihr seid meine Rückendeckung und wartet hier. Einverstanden, Boss?“

Bobo nickte zufrieden. Sie fragte ihn. Sehr gut, so gehörte sich das.

Kalina grinste in sich hinein. Solange sie nichts tat, was seine Autorität untergrub, würden sie großartig miteinander auskommen.

Sie huschte aus ihrer Deckung hinüber zum Haus. Es würde nicht schwer werden, denn das morgens aufgestellte Baugerüst unterstützte ihr Vorhaben. Glück musste man eben haben!

Sie legte ihre Pfoten auf die erste Sprosse der Leiter und kletterte nach oben. Helligkeit würde sie nicht verraten, denn nur im Labortrakt brannte noch Licht. Sie erreichte mühelos die zweite Etage und balancierte leichtfüßig wie eine Ballerina über eine Planke zu einem der beleuchteten Fenster hinüber und lugte hindurch.

Und da war er, Sierbach!

Fauchend beobachtete sie ihn, während ihr buschiger Schwanz erregt über den Fenstersims peitschte und dünne Staubwolken aufwirbelte. Unbeweglich saß sie da und belauerte und registrierte alles, was er tat. Oh ja, sie kannte diesen Raum! Dieses Laboratorium, in dem sie und ihre Leidensgenossen so unendliche Qualen erdulden mussten.

Durch die schrecklichen Versuche war sie größer und stärker, schneller und intelligenter als jede andere Katze geworden. Und das musste einen Sinn haben. Die Zeit des Leidens durfte nicht umsonst gewesen sein!

Monsterkatze hatte der Professor sie genannt. Eine unheimliche, mordgierige Kreatur. Aber das bin ich nicht! schrie es in ihr. Ich würde niemals aus niederen Motiven töten wie es manche Menschen tun. Doch es gibt auch gute Menschen, Menschen wie Roberta, die andere Lebewesen beschützen und ihnen helfen wollen, dachte Kalina zärtlich.

„Gut, dass sie kommen“, riss sie des Professors Stimme aus ihren Gedanken. Wer war gekommen? Hatte sie etwas verpasst?

„Elmar Thomsen“, zischte sie. Zitternd beobachtete sie den schmächtigen Mann, während grauenhafte Bilder aus ihrem Unterbewusstsein an die Oberfläche zu gelangen suchten, Bilder, die sie seelisch instabil machen und damit ihre Mission gefährden würden. Sie wehrte sich dagegen, drängte die Schreie ihrer beiden Kinder in die hintersten Winkel ihrer Erinnerungen zurück.

Sie wimmerte vor Qual.

Nein! Sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Das Zittern verging. Sie konzentrierte sich auf die Vorgänge in dem von kaltem Licht erfüllten Raum, aus dem die Stimmen ihrer beiden Feinde durch das geklappte Fenster zu ihr drangen. Sie hörte ihnen zu und fasste schon bald einen Plan.

„Klappt alles mit dem neuen Gerät, Herr Professor? Soll ich Sie jetzt ablösen?“, fragte Elmar Thomsen.

Sierbach nickte. „Ja, aber Sie können nicht eher gehen, bis Sie diese Versuchsreihe abgeschlossen haben. Ist das klar?“

„Natürlich.“

„Gut, dann hören Sie zu. Achten Sie unbedingt auf diese Skala. Sie dürfen sie keine Sekunde aus den Augen lassen.“ Sierbach deutete auf ein ovales, durchsichtiges Gefäß mit grünem Inhalt, auf dem leuchtend rot die Ziffern eins bis neun aufgemalt waren. „Der Inhalt darf sich bis zur Ziffer fünf ausdehnen, er zeigte darauf, sollte sich jedoch bei vier einpendeln.“

„Und wenn er sich weiter ausdehnt?“

„Die absolute Toleranzgrenze liegt bei sieben. Erreicht die grüne Substanz jedoch die Marke neun, fliegt uns das Labor um die Ohren und wir sind aller Sorgen ledig“, sagte der Professor sarkastisch. „Aber wenn Sie aufpassen, kann nichts passieren. Hier, sehen Sie, der blaue Knopf regelt die Ausdehnung nach oben und der rote daneben schaltet die Anlage aus.“

„Interessant“, zischte Kalina.

„So, mein Lieber. Ich habe noch etwa eine Stunde im Büro zu tun. Sollten noch Fragen auftauchen, rufen Sie. Alles klar?“

Thomsen nickte.

Ich muss da hinein. Aber wie?, überlegte Kalina. Wenn er ein Fenster öffnen würde, wäre alles Weitere ein Klacks.

„Brauchst du Hilfe?“

Kalina zuckte zusammen. „Henry und Jonny“, stöhnte sie. „Mein Gott, habt ihr mich erschreckt!“

„Der Boss lässt fragen, weshalb du hier herumsitzt“, grinste Jonny, die Kralle.

„Hast du etwa Schiss vor dem Typen da drin?“, lästerte Henry, der Fetzer. „Das brauchst du nich´. Wir sind ja jetzt bei dir.“ Er konnte es einfach nicht lassen!

Der Klügere gibt nach, dachte Kalina und überhörte sein Gelaber. „Ich muss da rein“, sagte sie kühl. „Er muss das verdammte Fenster öffnen. Hat einer von euch ´ne brauchbare Idee?“

„Aber klaro“, grinste Jonny. „Menschen sind neugierig, also locken wir ihn her. Aber lasst euch nicht sehen.“ Er legte sich flach vors Fenster und knallte seine langen, harten Krallen in kurzem, stakkatoartigem Rhythmus immer wieder gegen die Scheibe.

„Verdammt noch mal, was ist denn da los?“, schimpfte Elmar Thomsen und riss wütend das Fenster auf.

„Hallo“, zischte Kalina und sprang auf seine schmale Brust. Die Überraschung und ihr Gewicht ließen ihn mit rudernden Armen zurücktaumeln. Er stolperte, verlor das Gleichgewicht und stürzte. Mit Kalina auf seiner Brust schlug er auf dem Boden auf.

„Die Skala“, stöhnte er und versuchte sich aufzurichten. Kalina fauchte warnend und er blieb liegen.

„Mach ihn alle“, zischte Henry neben ihr. „Mach den verdammten Sadisten alle!“

Kalina sah ihn an und erkannte die Not in seinen weit aufgerissenen Augen, die ängstlich über die vielen, blitzenden Apparaturen huschten. „Bring ihn um“, keuchte Henry zitternd vor Entsetzen.

Mein Gott, Henry, dachte Kalina schaudernd. Deine vielen, vielen Narben! Und sie verstand.

„Später, Henry, beruhige dich“, flüsterte sie, obwohl sie nicht vorhatte, ihr Versprechen zu halten. Wir sind Katzen und keine Mörder wie sie, dachte sie still. Und wir dürfen und wollen es auch niemals werden.

„Verdammtes Katzenvieh“, knurrte Thomsen, der sich von seiner Überraschung erholt hatte und versuchte Kalina abzuschütteln.

„Rühr dich ja nicht, du Sadist“, zischte sie voller Hass.

„Wa...was?! Ha...hast du gesprochen?“, stotterte Thomsen und starrte sie an.

Sie antwortete nicht. Wozu auch. Die Zeit drängte und es gab noch viel zu tun. Jeden Moment konnte der Professor hier auftauchen und bis dahin musste alles erledigt sein. „Halt ihn am Boden, Jonny. Ich muss was erledigen“, bat sie. „Zeig ihm deine Krallen, wenn er sich mausig macht. Das wird ihn zur Vernunft bringen.“

„Kein Problem“, erwiderte Jonny. Flink wechselten sie den Platz.

„Was hast du vor?“, wollte Henry wissen, der sich wieder beruhigt hatte.

„Ich jage das verdammte Labor in die Luft“, zischte Kalina. „Hört gut zu. Sobald ich JETZT schreie, springt ihr durchs Fenster und macht, dass ihr wegkommt, sonst fliegt ihr mit in die Luft. Verstanden? Ja? Gut so. Dann komm mit, Henry.“

Sie liefen hinüber zu dem Metalltisch, auf dem das Gefäß mit den roten Zahlen stand. Jetzt fehlte nur noch ein schwerer Gegenstand und dann konnte es losgehen. Kalina sah sich suchend um. Da, der massive Aschenbecher war genau richtig. „Und jetzt pass gut auf“, flüsterte sie Henry zu, der sie verständnislos beobachtete.

Sie konzentrierte sich auf den Aschenbecher. „Sieh her“, sagte sie und ... der Aschenbecher begann wie damals Henry zu schweben! Sie dirigierte ihn zu dem ovalen Gefäß mit dem grünen Inhalt und der roten Skala. Auf den blauen Knopf ließ sie ihn niedersinken. Augenblicklich kletterte der Pegel die Skala hinauf.

FÜNF…

„Elmar? Elmar, wo sind Sie?“

„Is´ das der Professor?“, wisperte Henry.

„Ja, und er...“

„Zum Teufel nochmal, was geht hier vor? Verdammt Thomsen! Wie kommen diese Viecher hier rein?!“, keifte Sierbach hinter ihnen.

„Durchs Fenster, Professor“, antwortete Kalina und drehte sich zu ihm um.

„Was...?!“ Er starrte sie an.

„Na, wer bin ich wohl?“, fragte sie und behielt dabei die Skala im Auge.

„Du...du...! Das gibt es doch nicht“, keuchte er.

„Was? Dass ich spreche? Ein Nebeneffekt. Nur einer der kleinen Nebeneffekte der Experimente.“

„Du...du bist doch tot“, stotterte er.

„Sehe ich etwa so aus?“, grinste Kalina. „Aber du und dein feiner Assistent werden es gleich sein, falls ihr nicht augenblicklich von hier verschwindet.“

SECHS...

Er fing sich erstaunlich schnell wieder, der feine Herr Professor, das musste man ihm lassen. „Wo ist Thomsen?“

„Ihm ist nichts geschehen. Er liegt da hinten am Boden. Ein Freund von mir bewacht ihn. Nimm ihn und verschwinde, bevor in wenigen Minuten das Labor in die Luft fliegt“, warnte sie. Schließlich hatte sie Roberta versprochen, dem verdammten Kerl nichts zu tun.

„Quatsch“, knurrte er und machte einen Schritt auf sie zu.

„Keinen Schritt weiter“, zischte Kalina mit gesträubtem Fell.

„Du jagst mir keine Angst ein! Was glaubst du, was ich mit dir mache, wenn ich dich in die Hände bekomme, du blödes Vieh?“, keifte er und sprang auf sie zu.

Er erreichte sie nie!

Ein grauer Schatten flog auf ihn zu, riss ihn zu Boden, stürzte sich auf ihn und schlug ihm wutentbrannt und voller Hass die Krallen ins Gesicht.

„Nein, Henry!“, schrie Kalina. „Tu es nicht. Er ist es nicht wert!“

„Ich bring ihn um!“, kreischte der Fetzer. „Für alles, was sie uns angetan haben, bring ich ihn um!“

„Nein, Henry! Bitte nicht, denn dann wärst du nicht besser als er.“ Er hob den Kopf und starrte sie aus blutunterlaufenen Augen an. „Tu es nicht, Henry“, bat sie noch einmal. Stöhnend schüttelte er sich und die Wildheit wich aus seinem Gesicht. Aber den Mann unter sich ließ er nicht los.

Nur wenige Sekunden lang hatte Kalina die todbringende Skala aus den Augen gelassen. Doch dieser kurze Moment wäre ihr und ihren Freunden fast zum Verhängnis geworden! Sie sah hinüber zu dem Pegel und erschrak.

ACHT...

„JETZT!“ kreischte sie schrill. „Raus hier!“

Henry reagierte sofort. Doch bevor er ihr hinterherhetzte, fetzte er dem Professor die ausgefahrenen Krallen noch ein letztes Mal durchs Gesicht. Sierbachs Wimmern begleitete ihren Sprung durchs Fenster hinaus in die Nacht. Jonny turnte bereits dem Boden entgegen. Henry und Kalina folgten ihm.

Sie schafften es!

Mit heraushängender Zunge ließen sie sich neben Bobo und den anderen Katzen zu Boden fallen. „Gleich könnt ihr was erleben“, keuchte Kalina und starrte gebannt zu dem Backsteingebäude hinüber.

„Was?!“, fragte Bobo.

Und im selben Augenblick flog unter gewaltigem Getöse Sierbachs Laboratorium in die Luft. Eine gigantische Feuersbrunst jagte dem Himmel entgegen und ließ Metallteile und Steine regnen. Etwas Glühendes schrammte schmerzhaft über Kalinas Hüfte.

„Aua!“, kreischte Einstein, der Professor, als ihn ein Stück Rohr traf. Sie warteten nicht, bis noch mehr von ihnen getroffen wurden, sondern machten schleunigst, dass sie außer Reichweite kamen.

„Das nenne ich Gerechtigkeit“, zischte Henry neben Kalina. „Jetzt können die beiden Mistkerle gemeinsam den Teufel in der Hölle besuchen.“

„Ihr habt die beiden doch nicht etwa getötet?“, fragte Bobo streng. „Wir sind keine Killer! Ihr solltet ihnen eine Lehre erteilen, sie aber nicht umbringen.“

„Sie sind selbst Schuld“, winkte Henry ab. „Hätten sie auf Kalinas Warnung gehört und die Flatter gemacht, wären sie noch am Leben. Aber er musste sie ja unbedingt angreifen.“

„Ich finde es besser so, Boss“, erklärte Jonny. „Wer weiß, was für Grausamkeiten sie sonst noch begangen hätten.“

„Also gut. Ihr habt sie gewarnt. Wenn sie nicht darauf hörten, ist es ihre Schuld. Ich hoffe nur, dass deine Roberta keine Schwierigkeiten bekommt.“

Kalina erschrak. „Wie meinst du das?“, flüsterte sie.

„Na, du bist gut. Schließlich hat deine Menschenfreundin ja für diesen Sierbach gearbeitet.“

Richtig! Natürlich würde die Polizei den Unfall untersuchen. Verdammt! Daran hatte sie in all der Aufregung überhaupt noch nicht gedacht. Sie musste sofort nach Hause. Roberta hatte ja keinen blassen Schimmer, was sich da vielleicht über ihrem Kopf zusammenbraute.

„Ich muss sie warnen, Boss“, stieß Kalina hervor.

„Natürlich“, nickte Bobo. „Wir treffen uns morgen Abend in unserm Stammquartier.“

„Au fein“, piepste die kleine Kati. „Besprechen wir dann, was wir als Nächstes tun werden? Ich hab da nämlich ´ne tolle Idee.“

„Erzähl mal“, forderte Fanny, die Verruchte.

„Mir kannst du es morgen erzählen, Kati“, rief Kalina und eilte davon.

Kalina

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