Читать книгу Rufe aus Morgania - Brigitte H. Becker - Страница 11
Seerosen
ОглавлениеIm Lenze
dumpf wässriger Tiefe
in Eiform entstiegen
auf Herzblatt Tellern serviert.
Spitz ausgeweitet
schwelgt Blüte in Blüte
hoch züngelnder Pracht
die Sonne entfacht
verhüllt Abendröte
ein schlängelt die Nacht
bis sie Herbstanhauch
versenkt.
Während sie mit ihren Schlosselfen den Weiher überflog, vergegenwärtigte sich Meridor noch einmal ihren letzten Besuch bei der Waldfee. Trotz des Malheurs mit der Kristallkugel war sie hinterher erleichtert. Ihr war vieles klar geworden, und das Erlebnis mit Erdania zerstreute ihre letzten Zweifel. Nun wusste sie endlich weiter.
Als der Seerosenteppich in Sichtweite kam, hielt sie Ausschau nach der weißen Knospe, die mit ihrem Kind hochschwanger war.
Größer, praller und von reinerem Weiß als die anderen war sie auch von oben unübersehbar, doch ob sie im Begriff war, sich zu öffnen, war nicht zu erkennen.
Die Amme würde ihr etwas dazu sagen können, denn sie wollte vorher nachschauen.
Als sie am Treffpunkt anlangten, waren alle eingetroffen soweit sie es überblicken konnte, außer Nellyfer. Wenn die Amme dagewesen wäre, würde sie auf ihre Königin warten.
Dass ihre Landung im allgemeinen Trubel unterging, war Meridor gerade recht.
Während ihre Schlosselfen sich zu den anderen gesellten, suchte sie am Bachufer eine Weide auf, um das Treiben auf der Weiherwiese zu beobachten.
Sie war übersät mit Elfen in allen erdenklichen Größen und Staturen.
Kleinere tippelten oder flatterten aufgeregt umher während in ihrer Mitte große, damenhafte auf und ab stolzierten und mittelgroße sich vergeblich abmühten, die Unruhestifter zur Raison zu bringen. Die Wachtmänner am Rande würden erst bei einer Prügelei einschreiten, doch es kam bei den Männern nur zu Rempeleien beim hektischen Herumlaufen.
Während sie auf die ausgeschickten Späher wartete, die ihre liebe Mühe hatten, sich im Gewühle durchzuschlagen, schaute sich Meridor in der Natur um.
An der Bachmündung reckten einige windschiefe, uralte Weiden zartgrüne, biegsame Zweige aus knorrigen Ästen dem Weiher und dem Bach entgegen, während Gruppen gertenschlanker, junger Birken am Nordufer identische zum leicht gekräuselten Weiheroberfläche hinunter pendeln ließen, wo sich in seichten Brisen Schilfhalme leise säuselnd wiegten.
Ein heftiger Windzug fegte durch die Bäume und peitschte die Wellen auf, dass die Zweige und das Schilf irritiert aneinander klatschten.
Der anrauschende Windgeselle, der dafür verantwortlich war, zog alle Blicke auf sich.
Im buchstäblich letzten Moment setzte er die Elfenamme und den jüngsten Wachtmann an der Weide neben der von Meridor ab.
Im Gegenlicht war der Windgeist nicht zu erkennen, doch kam er ihr allein von der Statur her eigenartig vertraut vor. War es etwa? …
Sie schob den Gedanken beiseite, als sie sehen musste, dass er schnell das Weite suchte.
Seine beiden Fluggäste torkelten desorientiert wie Betrunkene auf der Uferwiese herum.
Das musste ja ein rasanter Flug gewesen sein! Doch blieb keine Zeit für Fragen.
Schon kamen ihre Hofdamen mit Wachtmännern an, die ihre Königin, teils mit sanfter Gewalt, in die Mitte der Versammlung lotsten.
Alle Blicke waren auf Meridor gerichtet, und es wurde augenblicklich still, als sie, flankiert von ihren Hofdamen, das Glöckchen anschlug, um mit weit ausgebreiteten Armen die Vereinigung der Welten anzukündigen.
Alljährlich spielte sich das grandiose Schauspiel auf der Erde und am Himmel ab, hatte aber nichts von seiner Faszination eingebüßt.
Alle Anwesenden, einschließlich der Nixen auf den Wassern, hielten den Atem an.
Die Atmosphäre verdichtete sich spürbar, und die Stille wurde beinahe greifbar, als sich im Zeitlupentempo die Nebelbank auflöste, die Elfen- und Menschenwelt voneinander trennte, während im Hintergrund der glühende Feuerball im Horizont versank.
Frösche quakten, Grillen zirpten, und auf den Bäumen gaben Vögel, in der Mehrzahl Stare, der Sonne ein Abschiedskonzert. Der Himmel wurde zum Flammenmeer mit Wolkenwellen und tauchte die Erde in magischen Schein.
Weiterziehende Schleierwolken enthüllten die Mond Frau im schemenhaften Profil, und die extra herausgeputzte Venus schien sich an ihrer Seite im Funkeln zu verausgaben.
Als die bewundernden Ausrufe über den prächtigen Sonnenuntergang sich legten, suchte Meridor die Amme auf, die sich etwas abseits hielt, und nahm sie beiseite.
Ihre Verstörtheit und Durchsichtigkeit führte sie auf die ungewöhnliche Anreise zurück.
Nellyfer stammelte eine Entschuldigung, dass es ihr nicht möglich war, früh genug aufzubrechen, um ihr Versprechen einzulösen. Meridor gebot ihr Einhalt, als sie sich näher erklären wollte. „Heb dir das für später auf. Jetzt ist nicht die Zeit. Sieh lieber nach der Knospe und sage mir Bescheid, sobald sich etwas tut.“
Nellyfer nickte dienstbeflissen, um sich sichtlich erleichtert aufzuschwingen.
Während sie beschwingt der Elfenprozession voranschritt, überkam Meridor das eigenartige Gefühl, beobachtet zu werden, das schlagartig verschwand, als sie den Wald erreichten.
War es Menschenkind, das ihren Ruf vernahm?
Gerade am heutigen Tage wäre es ein günstiges Omen.
Am Waldrand blieb sie stehen, um sich noch einmal den Himmel anzusehen.
Das Violett der Schleier, von der einbrechenden Dämmerung über die Erde ausgebreitet, ging in Grautöne über, rötliche Wolkentupfer zerfaserten sich, um sich aufzulösen.
Das Lied des breiten Baches wies ihnen den Weg durch den dunklen Wald, wie zuvor munter plätschernd, gurgelnd sich um Steine windend, in kleinen Wasserfällen rauschend.
Seit etwa einem Jahr war Meridor Königin von Morgania im Herzen des Landes Fatana.
Wegen der Größe des Landes wurde die Waldfee von ihrer Mutter zur Mitregentin über die Waldbewohner erkoren, während seit eh und jeweils ein Wassermann als absoluter Herrscher das Zepter unter Wasser schwang.
Das Elfenreich war in zahlreiche Länder unterteilt und diese wiederum in etliche Königreiche. Die Grenzen waren fließend; überhaupt gab es nichts Festgefügtes. Alles war im Fluss und miteinander verknüpft, und zwischen den einzelnen Reichen herrschte ein reger Austausch.
Als Botschafter und Nachrichtenvermittler dienten Windgeister, die ohnehin keinen festen Wohnsitz hatten und ständig unterwegs waren.
Frühmorgens zwischen Tag und Traum hatte Meridor ein außergewöhnliches Erlebnis gehabt.
Noch im Bademantel fühlte sich magisch zur ausgesuchten Stelle hingezogen, um im hohen Gras ausgestreckt ein Ohr an die Erde zu halten, die sie im Traum zu sprechen wünschte.
Sie glaubte ihren Augen nicht zu trauen, als sie sich der Boden auftat und eine wunderschöne Frau von der Größe eines Mammutbaums herauswuchs, die auf Menschengröße schrumpfte.
Sie trug ein grasgrünes bodenlanges Kleid und war von einem hellgoldenen Strahlenkranz umgeben, der Meridor, die ihr gerade bis zur Schulter reichte, derart blendete, dass sie den Blick abwenden musste.
Wieder aufschauend bemerkte sie, dass die Haut der überirdisch Schönen einen sanften Orangeschimmer aufwies und die Strähnchen im Goldhaar, das im Nacken zum Knoten gebunden war, in allen Regenbogenfarben schimmerten. Das alterslose Antlitz strahlte eine ungeheure Kraft und Ruhe aus. Ihr Blick war unverwandt auf sie gerichtet, die Stimme mutete wie Blätterrauschen in seichten Winden an, als sie zu ihr sprach, wurde aber voll und melodiös als sich ihre Ohren angepasst hatten.
Sie hatte sich den Wortlaut ihrer Rede gut eingeprägt.
„Grüß Dich, Meridor. Ich bin Erdania und die für dich zuständige Tochter der Erdmutter.“
Sie entgegnete ihrem erstaunten Blick. „Du musst wissen, dass sie viele Töchter zu ihrer Unterstützung hat, denn sie kann nicht überall präsent sein. Ich konnte mich leider noch nicht vorstellen, weil du noch nicht in der richtigen Verfassung dazu warst. Du siehst in mir deine Ansprechpartnerin, die dir die Wünsche unserer großen Mutter verständlich machen kann. Ruf mich hier, und ich bin da, wenn dir etwas unklar ist.“ Sie setzte Meridors zweifelndem Blick einen aufmunternden entgegen. „Ich möchte dir ein Lob aussprechen. Du machst Fortschritte bei der Kontaktaufnahme. Sonst könntest du mich jetzt weder sehen noch hören. Ich weiß um deine Zweifel, ob du den Rat der Kristallkugel befolgen sollst, doch wisse, dass sie das Sprachrohr meiner Mutter ist. Ungewöhnliche Zustände erfordern ungewöhnliche Mittel. Es wird dir weder als Schwäche ausgelegt, noch deine Autorität untergraben, wenn du dein Volk um Hilfe bittest. Ganz im Gegenteil, du wirst dafür umso mehr geliebt. Konzentriere dich vorerst auf das eine Menschenkind, das dich hören konnte. Alles Weitere wird sich zeigen, wenn der Kontakt sich ausweitet.“
Meridor fiel ein Stein vom Herzen, Zuspruch von höchster Ebene zu erhalten.
Das hätte sie in ihren kühnsten Träumen nicht erwartet!
Nun brauchte sie sich nicht mehr an ihre Mutter wenden, die sie nach dem Desaster mit der Kristallkugel nicht mehr anzusprechen wagte.
Dass sie ihr nichts von Erdania gesagt hatte! Sie sprach nur immer nur von der Erdmutter.
Auf ihre Frage wurde Meridor die Vision von Kindern des Lichtes bestätigt.
Es sollten die Hochsensiblen unter den im neuen Jahrtausend Geborenen sein.
Auf sie würde ihre Mutter ihre letzte Hoffnung setzen, denn sie wären ansprechbar.
Meridor versprach Erdania gerne, ihre Botschaften in ihre Festrede einzuflechten.
Nun war sie frohen Mutes, und es wuchs in ihr eine Sicherheit, die sie noch nicht kannte
Aus ihrem erhobenen Zauberstab ließ sie Funkenregen wie aus einer Wunderkerze sprühen, um Irrlichtern jede Chance zu nehmen, wies sie den Ihren den Weg durch den dunklen Wald.
Halb fliegend, halb hüpfend über Stock und Stein folgten ihr die Elfen. Glühwürmchen, die sich auf Händen und Flügeln von manchen niederließen, erzeugten ein kerzengleiches Licht.
Am Rande stolzierten Wachtmänner, denen sich Walfred angeschlossen hatte, mit gezückten Säbeln, eine Art Elfenpolizei. Hier und dort schlossen sich junge Baumgeister der munteren Prozession an, die nur darauf gewartet hatten. Mit ihresgleichen bildeten sie eine schweigende Nachhut im krassen Gegensatz zu den Elfengruppen mit ihrem Geplapper und Gelächter.
Nellyfer ließ sich träumend am Nordufer des Weihers mit seinen Birkengruppen nieder und lauschte hingebungsvoll dem volltönenden Nixengesang, der sich erhoben hatte, als die Elfenprozession zum Wald aufbrach und auch nicht verebbte, als er sie verschluckte.
Von einer der Ihren wusste sie, dass viele Nixen gerne durch den Bach mitgeschwommen wären, es aber nicht wagten, sich dem Verbot des Wassermanns zu widersetzen.
War sie froh, allein zu sein! Nach dem Chaos in der Krippe und dem abenteuerlichen Flug auf Sylphon stand Nellyfer der Sinn weder nach Feierlichkeiten noch nach einer Festrede der Elfenkönigin, obwohl ihre erste mehr einer Trauerrede glich.
Behaglich streckte sie die überstrapazierten Glieder im hohen Gras aus, um mit unter dem Kopf verschränkten Händen zum nachtblauen Himmel aufschauend das glitzernde Schauspiel der Sterne zu betrachten. Das hatte sie jetzt gebraucht.
Sie brauchte Abstand, um sich innerlich auf die schlohweiße verdickte Knospe einzustellen, die ihr vom Seerosenteppich auf dem Weiher gleich in die Augen sprang.
Wahrscheinlich hatte Sylphon seinen Zuschauern einen gehörigen Schrecken eingejagt, als er wie ein Pfeil im wild flatternden Gewand auf die Weiherwiese zugeschossen kam.
Nellyfer bekam jetzt noch eine Gänsehaut, wenn sie daran dachte wie er im Sturzflug zur Landung ansetzte. Der Ruck, der dabei durch ihren Körper ging, war immer noch zu spüren und in ihre Ohren dröhnten noch vom Zugwind.
Schade, dass Walfred, den sie viel zu selten sah, so schnell gehen musste, dass er ihr nicht mehr sagen konnte, wie es ihm ergangen war. Sobald er wieder Halt unter seinen Füßen fand, schloss er sich seinen Kollegen an, die ihn heranwinkten.
Aber Wachtmänner mussten gute Nerven haben, die bei Nellyfer angegriffen waren, seit sie als Amme an Feiertagen nächtliche Überfälle hautnah miterleben musste, und jetzt auch noch im Hellen! Mieden Schattenwesen nicht das Licht?
Sie wusste genau, dass ihre Schreckhaftigkeit ihnen Wind auf ihre Mühlen gab und auf die Kinder abfärbte.
Eine Elfe, insbesondere eine Erziehungsperson, sollte das innere Gleichgewicht bewahren, damit sie Harmonie vermitteln konnte. Aber unter diesen Umständen?
Durch vertiefte Atmung konnte Nellyfer zur Ruhe kommen sich in die tiefe Versenkung hineinversetzen, die das innere Hören und Sehen aktivierte.
Ein leises Klingeln war vom Wasser her zu hören.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass sonst niemand da war, stellte sie sich innerlich auf die hochschwangere Seerose ein.
Tatsächlich, sie hatte den Ton von sich gegeben, der sich jetzt rhythmisch wiederholte.
Soeben lösten sich im Zeitlupentempo zwei Blütenblätter von der Knospe ab.
Aha, dachte Nellyfer, es tut sich was! Doch ist nicht zu sagen, ob es sich dabei um Vorwehen handelt oder der Geburtsvorgang eingeleitet wird, aber Letzteres glaube ich eher nicht.
Wie zur Bestätigung ließ das Klingeln nach, wurde immer schwächer und verstummte dann.
Weil es ihr im seichten Nachtwind in ihrem dünnen Chiffonkleid zusehends kühler wurde, zauberte sie sich schnell mit ihrem Zauberstab ein Blütenkissen und eine Blätterdecke herbei. Sie breitete das feuchtkraus gewordene Haar über das Kissen aus, kuschelte sich aufseufzend in die warme Decke und streckte sich im weichen Gras aus. Durchströmt vom wohligen Gefühl der Geborgenheit hing sie mit geschlossenen Augen ihren Gedanken nach.
Die kleinsten unter ihren Schützlingen waren mittlerweile den Windeln entwachsen. Sie hätte die geruhsame Zeit gern länger ausgekostet und sehnte die anstehende Geburt beileibe nicht wie andere herbei. Zudem war der Zeitpunkt ungewöhnlich. Elfen kamen normalerweise zwischen Juli und September zur Welt. Aber es war ja auch ein besonderes Kind.
Die Waldfee hatte mit ihrer Prophezeiung allen einen Floh ins Ohr gesetzt.
Wenn es zur Sonnenwende das Licht der Welt erblickte, sollten ihm die Sterne besondere Zauberkraft verleihen, um dem Schattenmeister zuzusetzen.
Welche wundersamen Kräfte sollten das denn sein, die seine Mutter nicht besaß?
Bloß keine Verstärkung großmütterlicher Kräfte oder gar von Windgeistern, womit sich normale Elfen kaum zusammentaten! Schon eher welche, um Menschenkinder anzulocken. Dass sie selbst es nicht vermochte, war nämlich Meridors Problem.
Nellyfer schnaubte verächtlich. Das könnte sie sich schenken!
Wie die meisten Elfen hielt sie nicht viel von Menschen. Es wird schon seinen Sinn haben, wenn keine mehr herfinden. Wir können sehr gut alleine für unsere Pflanzen sorgen und sich nicht auf ihre Hilfe angewiesen. Was die alles zurechtstutzen, um es in ihre Vorstellungen hineinzuzwängen! Diese gewissenlosen Rohlinge beschmutzen und beuten Mutter Erde aus, aus reinem Eigennutz, obwohl sie auf Gedeih und Verderb auf ihre Gunst angewiesen sind.
Es ist nicht von ungefähr, dass sie ein Wort aus ihrer Heiligen Schrift allzu wörtlich nehmen, das lauten soll: „Macht euch die Erde untertan.“
Es sieht ihrer aufgeblasenen Gattung ähnlich, sich als Herren aufzuspielen. Es geht gegen ihren Strich, dass noch andere Welten existieren, nur eben feinstofflich und nicht für alle sichtbar. Sollen sie doch am hoch gelobten logischen Verstand und ihrem beschränkten Weltbild kleben bleiben! Sollte es wider Erwarten gelingen, ein Exemplar zu erreichen, würde es doch nur glauben, einer Täuschung zu unterliegen.
Dienstbare Naturgeister und anmaßende Menschen ohne Respekt vor der Natur, die unsereins hegt und pflegt, passen einfach nicht zusammen und sollten sich besser aus dem Weg gehen.
Ein deutlich vernehmbares Summen riss Nellyfer aus ihren Überlegungen heraus.
Glück gehabt. Bloß nicht in so was hineinsteigern, sonst gehen dir deine Fähigkeiten ab!
Als sie ihren Blick prüfend über die Wasseroberfläche schweifen ließ, konnte sie mit ansehen, wie sich zwei weitere Blütenblätter im Zeitlupentempo von der weißen Knospe ablösten. Sieht ganz nach Vorwehen aus, versuchte sie sich zu beruhigen. Es fallen einzelne Blätter ab, wenn es dem Kind da drinnen zu ungemütlich wird und es sich gegen die einengende Hülle zur Wehr setzt. Aber bis zur eigentlichen Geburt zieht es sich dann meist noch ein- bis zwei Wochen hin, und die ist ohnehin nur in tiefster Dunkelheit möglich, für Menschenaugen unsichtbar, eine Vorsichtsmaßnahme aus früherer Zeit, als Hellsicht noch verbreitet war.
Doch ist die Nacht noch jung und Zeit bis zur Sommer-Sonnenwende.
Wie um sie eines Besseren zu belehren, ertönte ein erneutes Summen, höher, lauter, eindringlicher, beinahe schrill. Nellyfer schreckte hoch.
Sie musterte die Knospe aufmerksam aus zusammengekniffenen Augen, konnte aber nichts Auffälliges entdecken. Aber danach blieb sie auf der Hut.
Der Tonfall erinnerte sie an einen Notfall, der sich vor geraumer Zeit ereignet hatte.
Ähnlich hatte es geklungen, als der Stiel einer prallen Blütenknospe beim Nachschauen umknickte, bevor das Wasser sie verschluckte. So schnell war sie noch nie geflogen und konnte gerade noch das Ertrinken des Elfenbabys verhindern, das in heller Panik aufschrie. Nellyfer konzentrierte sich auf die magische Stelle zwischen ihren Augenbrauen, um den inneren Blick zu aktivieren, der ihr Einblick ins Knospeninnere verschaffte.
Aufatmend registrierte sie, dass sich dort ein leichtes Kribbeln einstellte, das sich verstärkend in die Lage versetzte, einen Lichtstrahl zur Knospe auszusenden.
Er durchdrang sie Schicht für Schicht, bis das Elfenbaby sichtbar wurde.
Nellyfer atmete erleichtert auf und lächelte. Welch ein Temperament!
Mit Fäustchen und Füßchen trommele das Kleine gegen die Blütenwand und hatte sicher nur wütend aufgekreischt. Es war groß genug, um auf die Welt zu kommen. Verhalf sie ihm dazu, wenn sich die Sonne wendete, könnte das frohe Ereignis mitgefeiert werden, und sowohl der Prophezeiung als auch dem sehnlichsten Wunsch der Mutter wäre Genüge getan.
Aus einem erneuten Summen war eindeutig ein Schrei herauszuhören.
Ein ganzer Blätterkranz sprang ab, als das Kind der Blütenwand von innen erst einen Tritt, dann einen Hieb versetzte. Nellyfer stöhnte auf.
Aus mit der Ruhe und dem Frieden, Zeit, der Königin Bescheid zu geben!
Langsam stand sie auf und zog dann ihren Zauberstab aus dem Ärmel, um durch mehrmaliges Kreisen die Decke und das Kissen aufzulösen.
Prüfend sah sie sich nach allen Seiten um, konnte aber keine unliebsamen Gäste entdecken.
Ihre Sinne waren zwar geschärft, doch waren Schattenwesen jetzt schlechter auszumachen. Sie würde sich unterwegs vorsehen müssen. Hoffentlich war nichts zu denen vorgedrungen. Auch hatten sie angeblich einen guten Sterndeuter auf der Schattenburg.
Durch Antippen ihres Zauberstabs schoss Sternstaub heraus, der ihr den Weg ausleuchtete.
Ihre durchscheinenden, lichtblauen Schwingen ausbreitend erhob sich Nellyfer, um im Eilflug die Elfenlichtung anzusteuern.