Читать книгу Rufe aus Morgania - Brigitte H. Becker - Страница 4
ОглавлениеTeil eins
Die Elfenkönigin wollte gerade mit dem Glöckchen auf dem Glastisch nach dem Kindermädchen läuten, als eine kleine Hand nach ihrer langte, um sie davon abzuhalten. „Bitte nicht!“ piepste ihr zartes Töchterchen mit flehentlichem Augenaufschlag. „Wir würden zu gerne noch die Schöpfungsgeschichte hören, wovon du uns erzählt hast.“ Sie wies auf ihren drallen Freund, der neben ihrem Moossofa auf dem Korbstuhl saß und wie ein großes Baby wirkte. „Es ist doch sein letzter Abend hier bei uns im Elfenschloss.“
Der größere Junge nickte so heftig, dass die übergroßen Ohren wackelten.
„Oh ja bitte! Ich werde doch morgen früh schon abgeholt.“
Meridor schmunzelte amüsiert und vergaß für einen Moment die bleierne Müdigkeit, die sie im Dezember immer früher überfiel, äußerte aber Bedenken. „Ich glaube nicht, dass sie sich für Kinder eignet, zumal als Gutenachtgeschichte. Ihr werdet sie nicht verstehen können.“
Das Prinzesschen mit dem Engelsgesicht rümpfte missbilligend das Näschen und wechselte vielsagende Blicke mit ihrem ungleichen Freund, der nach einiger Überlegung vorschlug: „Wenn wir den Anfang hören, könnten wir es testen.“
Zwei Augenpaare, eines lichtblau, das andere goldbraun, sahen Meridor so erwartungsvoll an, dass sie sich schließlich geschlagen gab. Zudem blinkte ihr vom Bücherregal ein Goldeinband entgegen, der sie magisch anzog. Seufzend stand sie auf. „Also gut, ich lese euch zum Abschied etwas vor, und ihr sagt mir, ob ihr mitgekommen seid.“
Der schwere Foliant mit der Geschichte von Morgania fiel ihr von selbst in die Hände.
Sie wurde von unsichtbarer Hand in einer verschnörkelten Goldhandschrift von Zeit zu Zeit weiter geschrieben, wie es nach ihrer Amtsübernahme mehrmals der Fall gewesen war. Meridor hatte schon länger nicht mehr hineingeschaut und fand beim Durchblättern tatsächlich einen Nachtrag, den sie sich für später vornahm, wenn sie alleine war.
Nachdem sie es sich mit beiden Kindern auf der Couch bequem gemacht hatte, sprang das Buch an der gesuchten Stelle auf. Verwundert begann sie vorzulesen.
Die Schöpfungsgeschichte der Elfen
Am Anfang war die Freude. Die wonnige Umarmung des himmlischen Vaters und der Erdmutter belebte die Erde und tauchte sie ins Licht. Sie wurde zu einem Paradies von vollkommener Schönheit, wo Harmonie und Friede herrschten. Elfen wurden als Mitschöpfer eingesetzt, zuständig für die Ausgestaltung ihnen anvertrauter Pflanzen.
Sie liebten und ergänzten sich und arbeiteten spielerisch Hand in Hand miteinander, lachend, singend, tanzend.
Die Schöpfung war im Gleichgewicht und alles wohl geordnet. Die Welt Uhr tickte langsam und präzise. Sonne, Mond und Planeten kreisten in immer gleichen Rhythmen auf vorbestimmten Bahnen. Die Jahreszeiten wechselten sich regelmäßig ab so wie Tag und Nacht. Sommer waren wirklich Sommer und Winter wirklich Winter.
Mutter Erde wünschte mehr Bewegung und gebar das Tier als ein vitales, instinktives Wesen und mit ihm den Daseinskampf. Dann kam der Mensch auf den Plan als ein seiner selbst bewusstes, denkendes Wesen, das sich zunächst, selbstgenügsam, glücklich und zufrieden im friedlichen Miteinander harmonisch in die kosmische Ordnung mit einfügte.
Aber Beobachter anderer Planeten fanden sein Dasein zu fade ohne einen Ansporn zur
Weiterentwickelung und schickten eine mächtige schwarze Schlange zur Erde geschickt, um den Menschen anzustacheln, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu naschen.
Als er wie erhofft, nicht widerstehen konnte, fiel er aus dem paradiesischen Zustand heraus, verlor seine Unschuld und sein Urvertrauen und geriet in Zwiespalt.
Er sonderte sich von seinen Mitmenschen ab, beäugte sie argwöhnisch und kritisch und begann, zu bewerten und abzuwerten.
Aus Angst vor dem Unbekannten wurde der Daseinskampf der Tiere nachempfunden, worin der Stärkere überlebte. In der Regel galt der Aggressor als schlecht und das schwächliche Opfer als gut und bedauernswert, obwohl die Rolle ihrem Charakter entsprach.
In dem Maße, wie sich Menschen entzweiten, verloren sie die Freude, bis nur ein schwacher Schimmer übrig blieb, flüchtiges Vergnügen.
Daraufhin sandte Mutter Erde einen Appell an ihre Elfendienerschaft, durch Hinweise auf Naturschönheit Menschenherzen erneut für die Freude zu erschließen, was häufig, zumindest kurzzeitig, gelang.
Meridor, die bis hierhin wie in Trance vorgelesen hatte, obwohl sie eigentlich früher unterbrechen wollte, nahm die Kinder in ihren Armen allmählich wieder wahr.
Beide schauten wie verabredet durch die Kristalldecke zum rot gestreiften Himmel hoch.
Ihre Kleine nuckelte versonnen am Daumen, während sich der Junge gedankenverloren am Kopf kratzte.
„Habt ihr mir folgen können?“, fragte Meridor mit zweifelndem Unterton.
„Nun, das war der harmlosere Teil. Ich sagte schon: es ist keine Geschichte für Kinder. Aber ihr wolltet sie ja unbedingt hören.“
Sylvi nahm augenblicklich den Daumen aus dem Mund und entwand sich ihrem Arm, um, sich kerzengerade aufsetzend, mit Nachdruck zu beteuern:
„Alles sonnenklar. Sind doch keine kleinen Kinder mehr, nicht wahr Meffi?“
Sie puffte dem gelbhäutigen Freund auffordernd in die Rippen, der sie, wie ertappt zusammenzuckend, verständnislos anstierte. Erst auf ihre bohrende Frage, ob er auch alles verstanden hätte, fing er an zu stammeln.
„Ich sowieso, alles kapiert. Bin doch drei Jahre älter als du.“
„Musst du das immer betonen!“, empörte sich Sylvi mit einem temperamentvollen Hopser auf dem Po, dass der Lockenschopf wippte. „Dafür entwickeln sich Elfen im Flug, und Prinzessinnen wie ich überflügeln alle.“
Sie streckte dem verdatterten Kerlchen die Zunge heraus. Der Junge lachte höhnisch.
Bevor er kontern konnte, klatschte Meridor ungehalten in die Hände.
„Kein Streit in meinem Schloss, sonst geht ihr gleich ins Bett!“ Sie klappte das Buch energisch zu. „Der Rest ist nichts für euch.“
Die Kinder sahen sich vielsagend an, um wie aus einem Mund „Friede“ auszurufen.
„Bitte, bitte lies doch weiter“, säuselte ihre Kleine mit verwässerten Kulleraugen.
Bevor Meridor verneinen konnte, schlug sich der Goldeinband auf, um den Folgetext aufblinkend anzuzeigen. Sie konnte nicht anders, als weiter zu lesen.
„Aber im letzten Jahrhundert gerieten die Dinge außer Kontrolle, als ein schwarzer Planet auftauchte, der die anderen irritierte, indem er völlig nach Belieben mal vor und mal zurück sprang. Eigentlich war es gar kein richtiger Planet; dazu war er zu klein, doch störte er nicht nur andere Himmelskörper, sondern auch die große Schlange, die zusammengerollt tief im Erdinneren schlief, bis sie erwachte, um mit Hilfe ihrer Brut und Wesen vom eigensinnigen Planeten die Erde ins Chaos zu stürzen.
Ein fürchterlicher Kampf entbrannte zwischen den Kräften des Lichtes und der Dunkelheit, die ganze Nationen für ihre Zwecke benutzten, was zwei Weltkriege entfachte, die glücklicherweise letztendlich Mächte des Lichtes gewannen.“
Das Buch blinkte SOS. Erschreckt hielt Meridor inne.
Das hatte sie noch nie erlebt. Sie überflog die nächsten Zeilen.
„Doch Mutter Erde war zutiefst erschüttert und unruhig geworden. Die Weltuhr geriet aus dem Takt und kreist nun immer schneller, was die Menschheit antreibt und in Eile versetzt und zusehends für Naturschönheit erblinden lässt. Nicht alle Schattenwesen wurden vernichtet. Überlebende wie der Herr der Lüge sind aktiv wie nie und viele Menschen nur allzu bereit, sich ihrem verderblichen Einfluss zu öffnen.
Der Kontakt schürt Konflikte, setzt unter Druck, macht aggressiv, versetzt in Besorgnis und Angst und degradiert die Freude zu Spaß.“
Dankbar für die Warnung schlug Meridor den umfangreichen Folianten zu.
Bevor die Kinder protestieren konnten, wurde angeklopft.
Ein Rotschopf lugte durch die Tür, den sie erleichtert heranwinkte.
Der Junge lief erfreut auf die Elfe zu, während ihr Töchterchen ihr einen flehentlichen Blick zuwarf. Doch wünschte sie beiden eine gute Nacht und gebot dem Kindermädchen, beide mitzunehmen. Dann besann sie sich eines Besseren und winkte es von der Tür zurück.
„Lass die beiden ihren letzten gemeinsamen Abend auskosten und leiste ihnen Gesellschaft.“
Erleichtert aufatmend ließ sich auch ihre Sylvi bereitwillig von der Elfe fortführen.
Endlich allein ließ sich Meridor erschöpft ins weiche Moospolster ihres Sofas sinken.
Wie sehnte sie den Winterschlaf herbei!
Doch galt es, wie auch immer, bis zur Sonnenwende durchzuhalten.
Sie musste sich dazu zwingen, das Buch zur Hand zu nehmen, um die beigefügten Zeilen durchzulesen, die ihr aufgefallen waren, obwohl sie eigentlich gespannt darauf war.
Wie gut, dass sie das Buch veranlasst hatte, auf die Bitte der Kinder einzugehen, sonst hätte sie sicher nicht mehr hinein geschaut.
Beim Durchlesen stockte ihr der Atem.
„Nehmt euch in Acht vor Schattenwesen, die ins Elfenreich eingedrungen sind, um hier wie im Menschenreich Chaos anzurichten. Mit eurer Ausgewogenheit wollen sie euch auch die angestammte Harmonie und Freude rauben, damit sie Menschen nicht weiter vermittelt werden können, was Mutter Erde vor Zorn erbeben lässt.“
Erstmals war ein Notruf der Erde schriftlich festgehalten worden, der jenen glich, die sie zu hören glaubte, und mit dem Aufruf schloss:
„Sucht Menschen, die euch helfen können, das Schlimmste zu verhindern und wendet euch an Kinder, wenn kein Erwachsener euren Ruf vernimmt!“
Aufseufzend klappte Meridor den dicken Einband zu und legte ihn beiseite.
Sie hatte sich redlich bemüht, doch blieb ihr nichts anderes übrig, als ihr Land Morgania bis zum Frühling sich selbst zu überlassen.
In ihrem Abendgebet legte sie sein Schicksal in die Hände des himmlischen Vaters und eines Menschenkindes.